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MELDUNG/036: Nachrichten aus Forschung und Lehre vom 11.01.10 (idw)


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Raute

Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München - 10.01.2010

Genomweite Assoziationsstudien - Forschungsansatz mit Erfolgsgarantie

Eine erfolgversprechende Methode hält weltweit Einzug in die Labore der Humangenetiker und genetischen Epidemiologen: In genomweiten Assoziationsstudien identifizieren sie Gene, die das Risiko für Volkskrankheiten erhöhen. Arne Pfeufer und seine Kollegen vom Klinikum rechts der Isar der TU München, von der LMU München und vom Helmholtz Zentrum München erforschten Regionen im Erbgut, die eine Veranlagung zu Veränderungen eines Intervalls aus dem EKG bewirken. Sie entdeckten neun Genvarianten, die die Träger zu Veränderungen im Herzrhythmus prädisponieren. Die Erkenntnisse, die einer Verbesserung der individualisierten Medizin dienen sollen, sind aktuell in Nature Genetics publiziert.

Die Wissenschaftler untersuchten gemeinsam mit Kollegen aus 48 europäischen und US-amerikanischen Forschungszentren im Rahmen des internationalen CHARGE Konsortiums (1) zu Vorhofflimmern über 28.000 Menschen europäischer Abstammung in Hinblick auf das PQ-Intervall aus dem Elektrokardiogramm (EKG), das im angloamerikanischen Sprachraum als PR-Intervall bezeichnet wird. Diese Größe bezeichnet die Zeitdauer vom Beginn der Erregung der Herzvorhöfe bis zum Beginn der Kammererregung und ist damit ein Maß für die kardiale Erregungsausbreitungsgeschwindigkeit. In der medizinischen Praxis ist das PQ-Intervall ein wichtiger diagnostischer Parameter zur Beurteilung der elektrischen Aktivität der beiden Vorhöfe des Herzens sowie der Überleitung der elektrischen Erregung auf die Herzkammern durch den AV-Knoten. Seine übermäßige Verlängerung wird als AV-Block 1. Grades bezeichnet und stellt ein starkes Risiko für Vorhofflimmern dar. Aber auch im darunterliegenden Normalbereich unterliegt das PQ-Intervall einer deutlichen Schwankungsbreite.

Arne Pfeufer und seine internationalen Kollegen machten sich eben diese Schwankungsbreite in der Bevölkerung zunutze und untersuchten zweieinhalb Millionen häufige Varianten in den Genomen aller Studienteilnehmer. Sie identifizierten insgesamt neun genomische Regionen, die die Erregungsausbreitung signifikant beeinflussen. "Wir ahnten schon lange, dass uns die komplexe Genetik von Vorhofflimmern vor besondere Probleme stellen würde", sagt Pfeufer. "Das liegt daran, dass es sich um eine so multifaktorielle Erkrankung handelt. Im letzen Jahr haben wir im CHARGE Konsortium bei der direkten Untersuchung von 3.400 Vorhofflimmerpatienten lediglich eine einzige neue Risikovariante im ZFHX3-Gen auf Chromosom 16 entdeckt (2). Mit den beiden schon bekannten Genen PITX2 (3) und KCNH2 (4) waren vor unserer jetzigen Studie nur drei Gene verlässlich mit Vorhofflimmern assoziiert. Jetzt haben wir bei fünf der neun assoziierten Regionen neben dem Einfluss auf das PQ-Intervall zusätzlich einen Einfluss auf das Vorhofflimmerrisiko festgestellt und haben so die Zahl der vorhofflimmerassoziierten Gene auf acht erhöht. Dafür mussten wir aber auch fast zehnmal mehr Personen untersuchen. Aber unser Ergebnis hat uns in unserer Auffassung bestärkt, dass der indirekte Forschungsansatz zu Arrhythmien, nämlich der über EKG-Parameter in der Normalbevölkerung, eine wertvolle Ergänzung zur direkten Erforschung von Herzrhythmusstörungen darstellt. Besonders erfreulich ist, dass Forscher von zwei weiteren Studien, der LOLIPOP Studie aus London (5) und von DeCODE aus Island (6), deren Arbeiten zum PQ-Intervall mit unserer zusammen veröffentlicht werden, unsere Ergebnisse bestätigen. Das zeigt, dass unser Forschungsansatz verlässliche Resultate liefert, die auch für andere ethnische Bevölkerungsgruppen valide sind."

"Der Effekt jeder einzelnen Variante auf das PQ-Intervall und damit jedes einzelnen Gens für sich genommen ist mit einem Zeitraum zwischen einer und vier Millisekunden - bei einer Länge des PQ-Intervalls von durchschnittlich 165 Millisekunden - nur gering", sagt Stefan Kääb, Oberarzt an der Klinik für Kardiologie am Klinikum der LMU München Großhadern und Leiter der Spezialsprechstunde für genetisch bedingte Arrhythmieerkrankungen. "Aber in ihrer Summe können sie durchaus spürbare Effekte für den Einzelnen bewirken. So erhöht beispielsweise die Zunahme des PQ-Intervalls um fünf Millisekunden das Risiko für ein Neuauftreten von Vorhofflimmern innerhalb der nächsten zehn Jahre um fünf Prozent (7)."

Besonders eindrucksvoll für die Forscher war, dass sie neben zwei Genen, die an der elektrischen Erregungsleitung beteiligt sind, insgesamt sechs Gene identifizieren konnten, die eine wichtige Rolle bei der Ausdifferenzierung der Vorhöfe im Rahmen der Embryonalentwicklung spielen. Dies legt nahe, dass die anatomische Struktur der Vorhöfe eine mindestens ebenso wichtige Rolle für PQ-Intervall und Vorhofflimmerrisiko spielt, wie die elektrische Aktivität.

Neben Herzrhythmusstörungen stehen Diabetes, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, neurodegenerative Erkrankungen wie z.B. Morbus Alzheimer und Morbus Parkinson sowie andere Zivilisationskrankheiten ganz oben auf der Agenda der Forscher in aller Welt. "Es ist schon faszinierend zu sehen", sagt Thomas Meitinger, Direktor des Instituts für Humangenetik am Klinikum rechts der Isar der TU München und des Instituts für Humangenetik am Helmholtz Zentrum München, "mit welcher Geschwindigkeit sich das Feld entwickelt hat. Vier Jahre nach unserer ersten kleinen genomweiten Assoziationsstudie mit 200 Personen (8) führen wir nun bereits Studien mit über 20.000 Teilnehmern durch und finden aufgrund der höheren statistischen Aussagekraft immer mehr und immer kleinere genetische Effekte. Die Kritik, diese kleinen Effekte seien praktisch bedeutungslos, lässt er nicht gelten. "Es geht uns nicht in erster Linie um die Nutzung dieser Genvarianten zur Risikovorhersage. Allein schon die Entdeckung eines neuen krankheitsbeteiligten Gens an sich ist den Aufwand wert, denn es kann Medizinern, Physiologen und Biologen neue Wege zum Verständnis der funktionellen Zusammenhänge in der Zelle eröffnen und mittelfristig zur Entwicklung neuer Therapiestrategien führen."

Perspektiven für die Zukunft

Weltweit sind über 60 Millionen Menschen von Vorhofflimmern betroffen, d.h. ungefähr ein Prozent aller Weltbürger. Davon leben etwa 800.000 Betroffene in Deutschland. Vorhofflimmern ist einer der Hauptrisikofaktoren für Schlaganfall und damit Ursache für mindestens sieben Millionen Todesfälle pro Jahr weltweit. Es vererbt sich auch in Familien und führt zu einem etwa 2,5-5 fach erhöhten Risiko bei Angehörigen ersten Grades von Betroffenen. Schon länger vermutet man daher, dass genetische Unterschiede manche Menschen anfälliger machen können. Doch nun können diese Unterschiede im Genom lokalisiert und fassbar gemacht werden.

Die Forscher hoffen, dass sich aus den aktuellen wissenschaftlichen Ergebnissen einmal aussagekräftige Tests für die medizinische Diagnostik und Risikovorhersage ableiten lassen, auch wenn die derzeit bekannten Gene nur einige wenige Prozent der Gesamtvariabilität erklären. Pfeufer: "Wir werden in den kommenden Jahren Studien mit hunderttausenden von Teilnehmern durchführen. Erst dann, vielleicht in fünf bis zehn Jahren, wird sich ein vollständiges Bild der genetischen Variation abzeichnen und so auch die Risikovorhersage für den Einzelnen Eingang in die praktische Krankenversorgung finden."

Schon jetzt tragen die Ergebnisse dazu bei, aufzuklären, wie genetische Unterschiede das Vorhofflimmern auf zellulärer und molekularer Ebene beeinflussen, um seine Ursachen zu verstehen. Letztlich könnten die Erkenntnisse in Zukunft neue Therapieformen ermöglichen.

Originalpublikation
Pfeufer A et al.
Genome-wide association study of PR interval
Nature Genetics 2010, advance online publication on January 10th, 2010.
DOI: 10.1038/ng.517

(1) Psaty B. et al.
Cohorts for Heart and Aging Research in Genomic Epidemiology (CHARGE)
Consortium: Design of Prospective Meta-Analyses of Genome-Wide Association Studies From 5 Cohorts
Circulation: Cardiovascular Genetics 2: 73-80 (2009)
und: http://depts.washington.edu/chargeco/wiki/Main_Page/

(2) Benjamin EJ. et al.
Variants in ZFHX3 are associated with atrial fibrillation in individuals of European ancestry.
Nat Genet. 41:879-81 (2009)

(3) Gudbjartsson DF. et al.
Variants conferring risk of atrial fibrillation on chromosome 4q25
Nature 448, 353-357 (2007)

(4) Sinner MF. et al.
The non-synonymous coding IKr-channel variant KCNH2-K897T is associated with atrial fibrillation: results from a systematic candidate gene-based analysis of KCNH2 (HERG)
Eur Heart J. 29:907-914 (2008)

(5) Chambers JC. et al.
Genetic variation in SCN10A influences cardiac conduction
Nature Genetics 2010, advance online publication on January 10th, 2010
DOI: 10.1038/ng.516

(6) Holm H. et al.
Several common variants modulate heart rate, PR interval and QRS duration
Nature Genetics 2010, advance online publication on January 10th, 2010
DOI: 10.1038/ng.511

(7) Schnabel RB. et al.
Development of a risk score for atrial fibrillation (Framingham Heart Study): a community-based cohort study
The Lancet 373:739-45 (2009)

(8) Arking, DE. et al.
A common genetic variant in the NOS1 regulator NOS1AP modulates cardiac repolarization
Nature Genetics 38 :644-51 (2006)

Weitere Informationen finden Sie unter
http://dx.doi.org/10.1038/ng.517

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung:
http://idw-online.de/pages/de/institution860

Quelle: Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München, Tanja Schmidhofer, 10.01.2010

Raute

Friedrich-Schiller-Universität Jena - 11.01.2010

Zellen im Überwachungskanal

Künstliches Gefäßsystem soll Tierversuche bei der Erprobung neuer Arzneiwirkstoffe ersetzen

(Jena) Gemeinsam mit den Industriepartnern AVISO GmbH, Polymet e. V. und Carl Zeiss MicroImaging GmbH arbeiten Wissenschaftler des Universitätsklinikums Jena (UKJ) an der Entwicklung eines Flusskammersystems, das die Echtzeitbeobachtung des Verhaltens lebender Zellen in den Gefäßen eines künstlich geschaffenen Zellverbandes ermöglicht. Das vom Freistaat Thüringen geförderte Entwicklungsvorhaben zielt auf die Einsparung von Tierversuchen in der Wirkstoffforschung.

Die Wanderung von Zellen innerhalb des Gefäßsystems und die Wechselwirkung mit den Zellen der Gefäßwand spielen eine zentrale Rolle bei nahezu allen Lebensprozessen - auch bei der Entstehung von Krankheiten. Beispiele hierfür sind Krebszellen, die sich von einem Tumor lösen, sich über die Blutbahn verbreiten und an anderer Stelle weitere Tumore bilden, oder auch kleinste Verletzungen an der Arterieninnenhaut, die Ablagerungen von Blutfetten begünstigen und so zum Verstopfen von Arterien führen. Wegen der Vielzahl biologischer, chemischer und auch physikalischer Faktoren, die diese Prozesse beeinflussen, sind bei der Suche nach neuen Pharmawirkstoffen Tests im Reagenzglas, in vitro-Versuche, nicht ausreichend. Kandidaten für neue Medikamente müssen in vivo, im lebenden Organismus, getestet werden - also im Tierversuch.

"Neben dem großen ethischen Problem haben wir in der gefäßmedizinischen Forschung den Nachteil, dass wir nach der Tötung des Tieres und der Präparation des Gefäßes immer nur eine Momentaufnahme vom Krankheitsprozess sehen", gibt Dr. Sandy Mosig vom Jenaer Universitätsklinikum zu bedenken. "Eine Echtzeitanalyse der physiologischen Vorgänge, die Wochen oder Monate andauern, ist so nicht möglich." Der Zellbiologe in der Arbeitsgruppe Molekulare Hämostaseologie würde die Zellen auf ihrem Weg durch Blut- oder Lymphgefäße am liebsten direkt beobachten.

Das jetzt gestartete Entwicklungsvorhaben, in dem neben dem UKJ die AVISO GmbH, der Verein POLYMET Jena und die Carl Zeiss MicroImaging GmbH mitarbeiten, will die Medizinforscher diesem Ziel ein Stück näher bringen. Entstehen soll ein Flusskammersystem, das außerhalb des Körpers und steuerbar die Bedingungen der Zellwanderung nachbildet, so dass die Zellreaktionen mit Hilfe modernster optischer Abbildungsverfahren unmittelbar verfolgt werden können. "Unser Ziel ist ein Gefäß-Modell mit vollständigem, aus mehreren Zelltypen bestehendem Wandgewebe, das echten Blutgefäßen sehr nahe kommt, und in dem wir wichtige physiologische Parameter einzeln regulieren können", so Mosig.

Die AVISO GmbH, Spezialist für die Entwicklung und Fertigung von Laborsystemen für die biomedizinische Forschung, wird die Entwicklung der Geräte- und Steuerungstechnik im Projekt übernehmen. Die Lieferung und applikative Unterstützung des fluoreszenzmikroskopischen Auswertungssystems übernimmt die Carl Zeiss MicroImaging GmbH. Die Wissenschaftler um Prof. Dr. Dieter Klemm vom POLYMET Jena e. V. haben große Erfahrung im Design von Biomaterialien auf der Grundlage bakteriell synthetisierter Nanocellulose, die auch als Blutgefäßersatz dienen können. Auf einem solchen Gerüst aus Nanocellulose sollen die Zellverbände aufwachsen, die die Gefäßwände des Modells bilden werden. Mit Hilfe modernster elektronenmikroskopischer Verfahren werden die Wissenschaftler des Elektronenmikroskopischen Zentrums am UKJ die feinsten Strukturen im Aufbau der künstlichen Blutgefäße charakterisieren.

Das Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Technologie unterstützt die Kooperation mit über einer Million Euro. In zwei Jahren wollen die Partner einen Prototyp präsentieren. "Damit wollen wir die Zahl der benötigten Tierversuche in der Gefäßforschung substantiell senken und durch kostengünstigere und reproduzierbare in vitro-Untersuchungen ersetzen", sagt Projektleiter Dr. Mosig.

Kontakt:
Dr. Sandy Mosig
Arbeitsgruppe molekulare Hämostaseologie
Universitätsklinikum Jena, 07740 Jena
E-Mail: sandy.mosig[at]med.uni-jena.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung:
http://idw-online.de/pages/de/institution23

Quelle: Friedrich-Schiller-Universität Jena, Uta von der Gönna, 11.01.2010

Raute

Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Januar 2010