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MELDUNG/628: Nachrichten aus Forschung und Lehre vom 21.11.12 (idw)


Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilungen

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Johannes Gutenberg-Universität Mainz - 20.11.2012

Mainzer Wissenschaftler identifizieren Inhibitor der Myelinbildung im zentralen Nervensystem

- Erklärungsansatz für verschiedene neurologische Erkrankungen
- Veröffentlichung in der renommierten Zeitschrift "EMBO reports"

Mainzer Wissenschaftler haben ein weiteres Molekül entdeckt, das eine wichtige Rolle bei der Regulierung der Bildung von Myelin im zentralen Nervensystem spielt. Myelin beschleunigt die Reizweiterleitung in Nervenzellen, indem es deren Fortsätze, die sog. Axone, an definierten Stellen umhüllt - vergleichbar mit der Plastikisolierung eines Stromkabels. Ihre Ergebnisse haben die Wissenschaftler um Dr. Robin White vom Institut für Physiologie und Pathophysiologie der Universitätsmedizin Mainz kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift EMBO reports veröffentlicht.

Damit Nervenzellen effizient Informationen über weite Distanzen übermitteln können, hat sich bei höheren Organismen die sprunghafte oder saltatorische Erregungsleitung entwickelt. Diese wird ermöglicht, indem die zur Reizweiterleitung spezialisierten axonalen Fortsätze der Nervenzellen in definierten Abständen von Myelin, einer Art Isolierschicht, umgeben sind. Im zentralen Nervensystem entsteht Myelin dadurch, dass Oligodendrozyten, ein bestimmter Typ von Gehirnzellen, ihre Zellfortsätze mehrfach um die Axone der Nervenzellen wickeln und einen kompakten Stapel von Zellmembranen, die sog. Myelinscheide, ausbilden. Diese enthält neben einem hohen Lipidanteil zwei Hauptproteine, deren Produktion genau reguliert werden muss.

Die aktuelle Studie beschäftigt sich mit der Synthese des Myelin Basischen Proteins (MBP), das zur Bildung und Stabilisierung der Myelinmembranen unverzichtbar ist. Wie alle Proteine wird auch MBP prinzipiell in zwei Stufen aus der zugrundeliegenden Erbinformation, der DNA, generiert: Zunächst wird die DNA in mRNA übersetzt, die wiederum als Matrize für die eigentliche Synthese des MBP-Proteins dient. Während der Myelinbildung wird in Oligodendrozyten diese Produktion des MBP-Proteins so lange unterdrückt, bis bestimmte Signale der Nervenzellen die Myelinisierung an spezifischen "Produktionsorten" initiieren.

Bisher war weitgehend unbekannt, wie die Unterdrückung der MBP-Synthese über relativ lange Zeiträume erfolgt. Hier setzt die aktuelle Arbeit der Mainzer Wissenschaftler an, denn sie konnten ein Molekül identifizieren, das für die Inhibierung der MBP-Synthese verantwortlich ist. "Dieses Molekül mit der Bezeichnung sncRNA715 bindet an die MBP-mRNA und verhindert dadurch die MBP-Proteinsynthese", erläutert Dr. Robin White. "Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass sich die Mengen von sncRNA715 und MBP während der Myelinbildung gegenläufig verhalten und dass sich in Oligodendrozyten das Ausmaß der MBP-Produktion durch experimentell veränderte Mengen an sncRNA175 beeinflussen lässt. Dies deutet darauf hin, dass das neu entdeckte Molekül ein wichtiger Regulationsfaktor der MBP-Synthese ist."

Die Aufklärung der molekularen Grundlagen der Myelinbildung ist für verschiedene neurologische Erkrankungen von Bedeutung, bei denen es zu einem Verlust der schützenden Myelinschicht kommt. Zum Beispiel versteht man bislang nicht, warum ab einem bestimmten Zeitpunkt im Krankheitsverlauf der Multiplen Sklerose (MS) Schädigungen im Myelin nicht mehr von Oligodendrozyten repariert werden können. "Interessanterweise konnten wir in Zusammenarbeit mit niederländischen Kollegen auch im Hirngewebe von MS-Patienten eine Korrelation zwischen sncRNA715 und dem MBP-Protein feststellen", so Robin White weiter. "In Bereichen des Gehirns, die von der Krankheit betroffen waren, in denen die Myelinbildung also beeinträchtigt ist, fanden sich höhere Mengen an sncRNA715 als in solchen Bereichen, die nicht betroffen waren und in denen die Myelinstruktur scheinbar normal ist. Somit kann unsere Entdeckung helfen, einen molekularen Erklärungsansatz für die gestörte Myelinbildung bei Erkrankungen wie der Multiplen Sklerose zu liefern."

Weitere Informationen finden Sie unter
http://www.uni-mainz.de/presse/53961.php
Pressemitteilung

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution218

Quelle: Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Petra Giegerich, 20.11.2012

Raute

Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) - 20.11.2012

HIH / EU-Projekt Moving beyond: Wie steuert das Gehirn Bewegung im Alter und bei Parkinson?

Im EU-Projekt "Moving beyond" wollen Forscher herausfinden, wie das Gehirn Bewegungen im Alter und bei Parkinson steuert. Das mit insgesamt 2,5 Millionen geförderte und aus neun Projekten bestehende Forschungsvorhaben wird von Wissenschaftlern des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung (HIH) und dem Wissenschaftsmanagement des Instituts für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik des Universitätsklinikums Tübingen geleitet. Es ist in die drei Schwerpunkte Grundlagenforschung, Diagnostik und Therapie gegliedert. "Moving beyond" soll das Grundlagenverständnis von motorischen Prozessen verbessern, die Diagnostik erleichtern sowie neue Ansätze für evidenzbasierte Therapien entwickeln.

Gang- und Gleichgewichtsstörungen gehören im Alter zu den häufigsten Symptomen. Bei Parkinson sind sie eines der vier Hauptsymptome. Störungen von Gang- und Gleichgewicht verursachen Stürze und darauf folgende Frakturen. Innerhalb eines Jahres kommt es bei etwa der Hälfte der Pflegeheimbewohner zu mindestens einem Sturz. Auch rund 30 Prozent der zu Hause Lebenden, die über 65 Jahre sind, stürzen mindestens einmal jährlich. Laut Gesundheitsberichterstattung des Bundes gab es im Jahr 2006 mindestens fünf Millionen Stürze älterer Menschen.

Komplexe motorische Prozesse im Gehirn besser verstehen

Die grundlagenwissenschaftlichen Projekte von "Moving beyond" haben ihren Schwerpunkt bei der Erforschung der so genannten supraspinalen Bewegungssteuerung: Das Kleinhirn steuert mit den Basalganglien die Feinregulierung der Muskeln. Sie wirken korrigierend auf das Bewegungsprogramm, das heißt auf Ausmaß und Richtung der Willkürbewegung. Außerdem sind die Basalganglien an der Muskeltonuseinstellung sowie der Halte- und Stützmotorik durch Verbindung zum Hirnstamm beteiligt. Damit zielgerichtete Bewegungen ausgeführt werden können, bedarf es einer ständigen Koordination und Integration übergeordneter Instanzen. Neurowissenschaftler sprechen bei diesen Kreisläufen von supraspinaler Kontrolle. Durch das bessere Verständnis dieser Kreisläufe können, so die Vermutung, neue Ansätze für die Diagnose und Therapie abgeleitet werden. "Denn trotz der Fortschritte im Verständnis der zugrundeliegenden Schaltungen bleiben große Lücken", sagt Dr. Carola Reinhard, Projektmanagerin von "Moving beyond", Institut für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik, Universitätsklinikum Tübingen.

Mit frühzeitiger Diagnose gesundheitsbezogene Lebensqualität verbessern

Der zweite Schwerpunkt legt seinen Fokus auf die frühzeitige Diagnose von Störungen und Defiziten in den Bewegungsmustern von Patienten in der Praxis. Um die Diagnostik zu verbessern, setzt eines der dort angesiedelten Projekte objektive Messparameter, beispielsweise zur Bewegungskontrolle beim Gehen, mit dem subjektiven Gesundheitsempfinden von Parkinson-Patienten in Relation. "Wir wollen dadurch ermitteln, welche Parameter sich für die Messung von Lebensqualität am besten eignen", beschreibt Privatdozent Dr. med. Walter Maetzler, Wissenschaftlicher Koordinator von "Moving beyond" und Neurologe am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) in Tübingen, Partnerstandort Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), das Ziel seines Projektes. Außerdem geht er der Frage nach, wie das Selbst-Management von Parkinson-Patienten verbessert werden kann: "Wir wollen den Patienten ihre fehlende körperliche Aktivität und deren Auswirkung bewusst machen und sie dadurch zu mehr Bewegung im Alltag anregen", sagt Maetzler, der für sein Projekt eine PhD-/Doktorandenstelle ausgeschrieben hat.

Neue Therapien und Rehabilitationskonzepte entwickeln

Mit der Entwicklung neuer Therapien und Rehabilitationskonzepte beschäftigen sich die Projekte im dritten Schwerpunkt von "Moving beyond". "Denn zur Zeit gibt es keine wirksamen Therapien für Gang- und Gleichgewichtsstörungen, die ihre Ursache in der gestörten Funktion der supraspinalen Bewegungssteuerung haben", sagt Maetzler. Wichtig bei der Beurteilung einer Gangstörung im Alter ist die Abgrenzung von physiologischen und somit "natürlichen" Altersveränderungen zu krankhaften Befunden. Bei Parkinson-Patienten liegt zum Beispiel ein Augenmerk darauf, Strategien zu entwickeln, die das sekundenlange Einfrieren von Bewegungen (freezing of gait) verhindern. Beim älteren Menschen sollen Defizite in Gang und Gleichgewicht durch die Entwicklung von Modellen für symptomspezifische Schulungen verbessert werden.

Weitere Informationen finden Sie unter
http://www.moving-beyond.eu
(Website des EU-Projekts)
http://www.hih-tuebingen.de/funktionelle-neurogeriatrie-maetzler/stellenangebote/
(Stellenausschreibung PhD/Doktoranden-Stelle für Moving beyond)

Das "Moving beyond-Netzwerk" besteht aus einer seltenen europaweiten Kombination von Experten aus Grundlagenforschung und translationaler Forschung. Zusammen mit Experten aus der Industrie deckt das Netzwerk ein weites Spektrum der notwendigen Kompetenzen ab. "Moving beyond" nutzt dabei modernste Technologien. Website:
www.moving-beyond.eu
Das Netzwerk hat aber neben der Forschung auch ein starkes Augenmerk auf der Ausbildung junger Wissenschaftler. Denn zusätzlich zur hochqualitativen Doktorandenausbildung vor Ort, sollen die Karrierechancen der teilnehmenden jungen Wissenschaftler durch gemeinsame akademisch-industrielle Austausch- und Trainingsprogramme erhöht werden. "Moving beyond" vereint somit beides: innovative Forschungsprojekte und exzellente Ausbildung von Nachwuchsforschern. Stellenausschreibung:
www.hih-tuebingen.de/funktionelle-neurogeriatrie-maetzler/stellenangebote/

Das 1805 gegründete Universitätsklinikum Tübingen (UKT) gehört zu den führenden Zentren der deutschen Hochschulmedizin und trägt als eines der 32 Universitätsklinika in Deutschland zum erfolgreichen Verbund von Hochleistungsmedizin, Forschung und Lehre bei. 2001 gründete es zusammen mit der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der Eberhard Karls Universität das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH), mit dem Ziel, die Ergebnisse der exzellenten neurowissenschaftlichen Forschung rasch in die klinische Praxis zur Behandlung neurologischer und neurodegenerativer Erkrankungen zu überführen. Website:
www.medizin.uni-tuebingen.de

Das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) in Tübingen beschäftigt sich mit einem der faszinierendsten Forschungsfelder der Gegenwart: der Entschlüsselung des menschlichen Gehirns. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie bestimmte Erkrankungen die Arbeitsweise dieses Organs beeinträchtigen. Vor diesem Hintergrund werden am HIH die informationstheoretischen und neuronalen Grundlagen wichtiger Hirnfunktionen wie Wahrnehmung, Gedächtnisleistung oder Lernverhalten untersucht. Unter anderem werden auch hirnorientierte Anwendungen für die Technik erforscht. Website:
www.hih-tuebingen.de

Die Stabsstelle für Wissenschaftsmanagement der Medizinischen Genetik und Angewandten Genomik am UKT unterstützt und fördert die Forschung durch ein wissenschaftsadäquates Management. So werden nationale und internationale Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig gesichert. Die Tätigkeitsschwerpunkte sind seltene und neurologische Erkrankungen sowie Alterung. Website:
www.uni-tuebingen.de/uni/thk/de/f-wissenschaftsmanagement.html

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution1351

Quelle: Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH), Silke Jakobi, 20.11.2012

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. November 2012