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VORSORGE/840: Scham, Misstrauen und Anonymität - Sexuell übertragbare Infektionen sind häufig mit Stigmata behaftet (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 4, April 2022

Scham, Misstrauen und Anonymität

von Stephan Göhrmann


PRÄVENTION. Sexuell übertragbare Infektionen (STI) sind häufig mit Stigmata behaftet. Viele Patienten trauen sich daher nicht, offen über die eigene Ungewissheit zu sprechen. Eine offene Kommunikation und mehr Test- und Beratungsmöglichkeiten können Leben retten.


Die gute Nachricht vorweg: Sexuell übertragbare Infektionen (STI) und ihre Begleiterscheinungen treten in den Praxen in einem Flächenland wie Schleswig-Holstein nur selten auf. Doch schützt der ländliche Raum nicht vor Aids und Co. Eine Schlüsselfunktion in der Aufdeckung und späteren Therapie bei den Fachärzten sieht Ute Krackow vom Landesverband der Aidshilfen bei den Hausärzten im Land: "In der Regel ist es der Hausarzt, der als erster mit den Patienten in Kontakt kommt. Wenn er HIV oder andere STI erkennt, ist er derjenige, der Leben rettet." Aus den Gesprächen mit ihren Klienten weiß Krackow um die Hemmnis, über das eigene Sexualverhalten und die damit verbundenen Unsicherheiten einer möglichen Infektion einer sexuell übertragbaren Krankheit zu sprechen. Umso wichtiger sei die Offenheit der Ärztinnen und Ärzte.

"Es reicht manchmal schon ein Schild in der Praxis hängen zu haben, das zeigt, dass man in der Hausarztpraxis über sein Sexualverhalten sprechen kann." Wenn der Arzt sich offen zeigt, sprechen die Betroffenen ebenso offen über die mit Scham behafteten Hintergründe, die auf eine STI hinweisen können. Manche Krankheitsbilder sind nicht so eindeutig, können bei einem wachsamen Auge aber durchaus als Hinweis erkannt werden. Auch bei HIV und Aids gilt, dass Betroffene ein normales Leben führen können, sofern die Infektion oder Erkrankung frühzeitig diagnostiziert und die Therapie zur Minderung der Viruslast schnell eingeleitet wurde. HIV ist in über 40 Jahren der Forschung von einer Pandemie mit Todesfolge zu einer behandelbaren Krankheit geworden. Partnerschaft und Elternschaft sind durch funktionierende Therapien möglich. Und die Weitergabe des Virus kann verhindert werden. Um diese normalen Lebensziele auch als erkrankter Mensch zu erreichen, hilft jedoch nicht nur das darüber Reden. Auch die Zahl durchgeführter Tests müsse steigen, heißt es aus dem Gesundheitsministerium in Kiel. Hindernisse auf dem Weg zur Diagnose werden im deutschen Gesundheitssystem nicht zuletzt finanziell begründet. Häufig werden gesetzlich versicherten Menschen in vielen Fällen durchgeführte Tests entweder als IGeL berechnet oder auf die Testangebote der Gesundheitsämter verweisen. "Diese sind in der Regel kostenlos und anonym, jedoch schreckt der Verweis an eine behördliche Institution häufig ab", so Krackow. Zwar bemerkt Krackow gerade unter jungen Menschen eine zunehmende Offenheit, über die eigene Sexualität zu sprechen, doch betreffen STI alle Gesellschaftsschichten, junge Menschen genauso wie ältere. Dieser Erkenntnis bricht mit Stereotypen, die sich nach wie vor im gesellschaftlichen Gedächtnis halten: "Junge Männer sind als wilde Hirsche einem erhöhten Risiko ausgesetzt. Frauen ab 50 haben ohnehin keinen Geschlechtsverkehr mehr, weshalb sie keinem Risiko ausgesetzt sind", so die Denke. Der initiale Verdacht, an einer STI erkrankt zu sein, wird so heruntergespielt. Darunter leiden Diagnose und Therapiestart. Umso wichtiger erscheint die offene Kommunikation beim Hausarzt, als Person des Vertrauens. Der Landesverband der Aidshilfen ist eine weitere Stelle für Menschen, die aus Scham, Misstrauen oder dem Verlangen heraus anonym zu bleiben, nicht das Gesundheitsamt oder den Arzt ansteuern. Gerade Menschen, die einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt sind, wie etwa Sexarbeiter oder drogengebrauchende Menschen, stehen nur selten in einem hausärztlichen Kontakt.

Finanzielle Aspekte verhindern bei ihnen zudem den oft wiederholten Testwunsch auf eigene Kosten. Lehrer, Bundeswehrangehörige und Angehörige weiterer gesellschaftlich akzeptierter Berufsgruppen können sich die Tests zwar leisten, sie bangen jedoch um die eigene Anonymität und suchen andere Testmöglichkeiten. Für sie könnte das Heimtest-Kit S.A.M health in Frage kommen. Menschen, die sich über den eigenen Infektionsstatus unsicher sind, können sich das Selbsttest-Kit für Chlamydien, HIV, Syphilis und Gonorrhö für 49-59 Euro pro Test-Kit in individuell abgestimmten Abständen als Abo zusenden lassen. "Die Vielfalt an Möglichkeiten ist gut. Unterschiedlichen Lebensverhältnissen können wir so entsprechende Angebote machen", so Krackow. Verschiedenen Lebensverhältnisse bringen verschiedene Testbedürfnisse hervor.

Der Landesverband der Aidshilfen und das Landesgesundheitsministerium planen, das Angebot künftig über einen mobilen Beratungs- und Testbus in die Fläche zu bringen. Das Projekt soll unter anderem mithilfe der Fördermittel des Gesundheitsministeriums ermöglicht werden, die Fördersumme wird rund 100.000 Euro betragen. Geplant ist, dass der Bus die bestehenden Beratungsangebote in Schleswig-Holstein für HIV, Hepatitis und andere sexuell übertragbare Erkrankungen erweitert. In Zusammenarbeit mit der Suchthilfe sozuerst die risikobehafteten Gruppen angesteuert werden. Über die Suchthilfe kann auch die Diskretion gewährleistet werden. In den entsprechenden Stellen werden die Informationen, wann der Beratungsbus in die Ortschaft kommt, an die Personen verteilt. Oft ist es jedoch nicht mit einem Termin getan. Aus Erfahrung weiß Krackow, dass viele Menschen drei Termine brauchen, um Vertrauen aufzubauen und einem Erkenntnis bringenden Test erst beim vierten Termin zustimmen. Eine schnelle Überführung zu den behandelnden Ärzten vor Ort ist daher umso wichtiger. Gesundheitsminister Dr. rer. pol. Heiner Garg betonte unlängst seine Unterstützung für das Projekt: "Test-, Präventions- und Behandlungsangebote können damit zu den Menschen kommen, die diese brauchen. Nur wer den Infektionsstatus kennt, hat die Möglichkeit auf eine frühzeitige Therapie. Diese schützt nicht nur den Einzelnen, sondern trägt auch zur Unterbrechung einer weiteren Verbreitung bei." Der Bus soll noch in diesem Jahr starten.

Noch ein Blick über die Landesgrenze hinaus: Als die Vereinten Nationen gegen HIV/Aids (UNAIDS) im Jahr 2014 das "90-90-90-Ziel" formulierten, stand fest, dass bis zum Jahr 2020 mindestens 90 % aller Menschen mit HIV diagnostiziert sein und von diesen mindestens 90 % antiretroviral therapiert werden sollten. Von den therapierten Menschen sollte wieder bei 90 % das HI-Virus unterhalb der Nachweisgrenze liegen. In Deutschland erreichte man dieses Ziel 2020. Einem Bericht des Robert Koch-Instituts (RKI) zufolge sind 90 % der HIV-Infektionen in Deutschland diagnostiziert worden. Der Anteil der erfolgreichen Therapien liegt in Deutschland seit 2011 bei über 90 %. Laut RKI-Analyse lag der Anteil hierzulande im Jahr 2020 bei etwa 96 %.

Doch mittlerweile wurde das Ziel angehoben. Bis 2030 lautet das neue Ziel: 95-95-95. Analog hierzu hat sich Deutschland dem WHO-Ziel "Eliminierung der Virushepatitis als Bedrohung der öffentlichen Gesundheit bis 2030" verpflichtet. Die zuvor ausschließlich auf HIV fokussierte Strategie aus dem Jahr 2005 wurde durch eine Strategie zur Eindämmung von HIV, Hepatitis B und C und anderen sexuell übertragbaren Infektionen ("BIS 2030") ersetzt. Doch Menschen ohne Krankenversicherungsstatus, Obdachlose und andere Randgruppen bleiben schwer zu erreichen. Das Landesgesundheitsministerium in Kiel sieht derweil Hürden in der Präventions- und Beratungsarbeit in Schleswig-Holstein und baut in Zusammenarbeit mit dem Landesverband der Aidshilfen Kompetenznetz Aids in S-H e. V. die Angebote für alle STI aus. Die Unterstützung der Ärzte im Land bleibt unerlässlich: hinhören, fragen, testen.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 4, April 2022
75. Jahrgang, Seite 26-27
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 21. Mai 2022

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