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ETHIK/710: Spätabtreibungen (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 90 - 2. Quartal 2009
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Spätabtreibungen

Von Prof. Dr. Manfred Spieker


Der Versuch, Spätabtreibungen über den Ausbau der psychosozialen Beratung vor einer Pränataldiagnostik einzuschränken, sei eine Flucht vor der Aufgabe, die medizinische Indikation so zu regeln, dass sie ihren Namen verdient, findet unser Autor und fordert: Die medizinische Indikation muss von der Pränataldiagnostik abgekoppelt werden.


Zum fünften Mal seit der Reform des Paragrafen 218 StGB im August 1995 beschäftigt sich der Deutsche Bundestag in diesen Wochen mit dem Problem der Spätabtreibungen. Am 18. Dezember 2008 diskutierte er über fünf Anträge und Gesetzentwürfe, von denen drei auf verschiedenen Wegen das Ziel verfolgen, die Beratungspflicht des Arztes in Fällen, in denen Schwangere eine Spätabtreibung erwägen, zu festigen, und zwei sich gegen mehr Beratung aussprechen. Am 16. März 2009 fand eine weitere Anhörung zu diesem Thema statt (die erste hatte schon am 16. Februar 2005 stattgefunden) und im Frühjahr soll eine Entscheidung gefällt werden.

Ausgangspunkt der gegenwärtigen Debatte ist der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD vom 11. November 2005, in dem sich die Regierungsparteien verpflichteten zu prüfen, ob und wie die Situation bei den Spätabtreibungen verbessert werden könne. "Grauenvoll" nannte schon die Justizministerin der ersten rotgrünen Bundesregierung Däubler-Gmelin (SPD) diese Situation im März 1999. Man müsse Spätabtreibungen "unterbinden, schlichtweg unterbinden, wenn die Gesundheit der Mutter nicht gefährdet ist".

Die Reform des Abtreibungsstrafrechts von 1995 - die vierte in der unendlichen Geschichte der Reformen nach 1974, 1976 und 1992 - hatte die medizinische Indikation auf jene Fälle ausgeweitet, die zuvor unter die eugenische beziehungsweise embryopathische Indikation gefallen waren. Aber während die eugenische Indikation Abtreibungen nur bis zur 22. Woche ermöglichte, sind sie seit 1995 bis zur Geburt möglich. Für die medizinische Indikation soll es keine zeitliche Begrenzung geben, da mit einer Gefährdung des Lebens der Mutter während der gesamten Dauer der Schwangerschaft gerechnet werden müsse.

Freilich ging es in der neuen, ausgeweiteten medizinischen Indikation nicht mehr nur um eine Gefahr für das Leben der Schwangeren, sondern auch um "die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes" und um die Berücksichtigung ihrer "gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse".

Auch dann soll eine Abtreibung nach Paragraf 218a Absatz 2 "nicht rechtswidrig" sein. Diese weichen Formulierungen ermöglichen es, jeden Abtreibungswunsch nach der 12. Woche unter der medizinischen Indikation zu subsumieren. Dies gilt insbesondere für jene Fälle, in denen Schwangere nach einer Pränataldiagnostik eine Abtreibung in Erwägung ziehen.

Die Lebendgeburt wird aus ärztlicher Sicht zur Komplikation.

Warum hat es in den vergangenen 13 Jahren so viele Initiativen zur Begrenzung der Spätabtreibungen gegeben? Weil Spätabtreibungen in der Tat ein grauenvoller Vorgang sind, weil nicht selten Kinder getötet werden, die exauterin bereits lebensfähig sind, ja sogar die Abtreibung überleben und damit Eltern und Mediziner, Staatsanwälte und Richter und nicht zuletzt die Politiker in unlösbare Konflikte stürzen. Der bekannteste dieser Fälle ereignete sich am 6. Juli 1997 in der Städtischen Klinik Oldenburg. Er beschäftigte die Justiz, die Medien und die Politik bis ins Jahr 2004. Ein Junge sollte in der 26. Schwangerschaftswoche wegen eines Down-Syndroms (und einer darauf beruhenden seelischen Beeinträchtigung der Mutter) abgetrieben werden. Er überlebte die Abtreibung, wurde in Tücher gewickelt und mit Schnappatmung und einer Herzfrequenz von 40/min liegengelassen, um seinen Tod doch noch herbeizuführen. Nachdem sich sein Zustand nach rund neun Stunden bis zu einer Herzfrequenz von 120/min verbessert hatte, wurde er zur neonatologischen Versorgung in die Kinderklinik verlegt. Seine bleibenden Behinderungen hatten sich durch die lange Verweigerung einer sachgemäßen Versorgung verschlimmert.

Die juristische Behandlung des Falles zog sich annähernd sieben Jahre hin und endete am 29. März 2004 mit einem Strafbefehl des Amtsgerichts Oldenburg gegen den abtreibenden Arzt wegen lebensgefährlicher Körperverletzung in Höhe von 13.500 Euro in 90 Tagessätzen. Dass es in Deutschland auch schon vor 1992 im Rahmen der eugenischen Indikation Abtreibungen gab, bei denen das Kind überlebte, belegen Berichte von Hermann Hepp in der Zeitschrift "Geburtshilfe und Frauenheilkunde" (1983) und Hans-Dieter Hirsche in der Zeitschrift "Medizinrecht" (1990). Die Kinder wurden "liegengelassen", um ihren Tod abzuwarten, oder sie wurden "mittels eines Anästhetikums" getötet, da eine Lebensrettung "im Gegensatz zur primären elterlichen und ärztlichen Intention gestanden" hätte (Hepp). Auch in den USA und in Großbritannien sind solche Fälle bekannt geworden. Die Lebendgeburt wird aus ärztlicher Sicht zur besonderen "Komplikation" einer Spätabtreibung.

Über Kinder, die eine Abtreibung überleben, gibt es in Deutschland keine Statistik. Die Abtreibungsstatistik des Statistischen Bundesamtes meldete in den vergangenen Jahren jeweils 2.000 bis 2.200 Spätabtreibungen, also Abtreibungen jenseits der zwölften Woche. Begrenzt man die Spätabtreibungen - der Sprachgebrauch ist nicht einheitlich - auf Abtreibungen ab der 23. Woche, also im letzten Drittel der Schwangerschaft, in dem das ungeborene Kind als Frühgeburt lebensfähig wäre, so verzeichnet die Statistik des Statistischen Bundesamtes 229 Abtreibungen im Jahr 2007. Geht man wie die Bundesärztekammer davon aus, dass die Lebensfähigkeit eines Fötus ab der 22. bis 24. Woche post menstruationem gegeben ist, sind die Abtreibungen bereits ab der 21. Schwangerschaftswoche, also zwei Wochen früher als Spätabtreibungen, zu bezeichnen. In diesem Fall sind auch bereits die Zahlen des Statistischen Bundesamtes von 229 auf 447 Fälle fast zu verdoppeln.

Die Zahl der Spätabtreibungen im letzten Drittel einer Schwangerschaft beträgt jedoch ein Vielfaches der vom Statistischen Bundesamt gemeldeten Zahl, die, so schon im Jahr 2000 der Direktor der Universitätsfrauenklinik Köln, Peter Mailmann, "völlig unrealistisch" sei. Die Zahlen seien in allen Zentren der medizinischen Maximalversorgung dramatisch höher, weil all diese Vorgänge ohne Dokumentation und vor allen Dingen ohne Publikation erfolgten. Ohne Dokumentation und ohne Publikation bleibt vor allem der Fetozid, der, so Mallmann, zum Alltag dieser Zentren gehört. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) stellt in ihrem Papier "Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik" 2003 ebenfalls fest, dass die Statistiken "erheblichen Zweifeln" begegnen. "Berichte aus der Praxis zeigen, dass in mehreren Kliniken in der Bundesrepublik Spätabbrüche erfolgen, die dann offenbar teilweise als Totgeburten und nicht als Abbrüche registriert werden." Von rund 800 Abtreibungen jenseits der 22. Woche sprach der damalige Vorsitzende des Marburger Bundes, Frank Ulrich Montgomery, in dem ARD-Film "Mörderische Diagnosen" (18.3.99) von Silvia Matthies. Von den davon betroffenen Kindern würde rund ein Drittel überleben.

Die umstrittenste Methode ist die Partial Birth Abortion.

Dass selbst hartgesottene Geister bei Spätabtreibungen das Entsetzen packt, liegt an den Methoden, die bei einer Abtreibung im Spätstadium der Schwangerschaft angewendet werden. Die üblichen Abtreibungsmethoden, bei denen der Embryo (das "Schwangerschaftsgewebe" in "Aufklärungs"-Broschüren von Pro Familia) abgesaugt oder mit einem Löffel ausgekratzt wird, taugen hier nicht mehr. Bei Spätabtreibungen werden in Deutschland Prostaglandine verabreicht, wehenauslösende Hormone, die den Embryo aus der Gebärmutter vertreiben, also eine "Frühgeburt" bewirken, in deren Verlauf der Embryo auf Grund der Enge des Geburtskanals und der noch nicht genügend entwickelten Widerstandskraft des kindlichen Schädels in der Regel stirbt. Die Abtreibung dauert oft mehrere Tage, und die Mütter, die meist keine Narkose erhalten, weil sie an der tödlichen "Frühgeburt" aktiv mitwirken müssen, können den Todeskampf ihres Kindes qualvoll spüren. Will der Arzt das "Risiko" einer Lebendgeburt vermeiden, greift er zum Fetozid. Dabei wird der Embryo im Mutterleib mittels einer Kaliumchlorid-Spritze getötet, die unter Ultraschallbeobachtung in das Herz des Kindes oder in die Nabelschnurvene eingebracht wird. Auch andere Substanzen mit tödlicher Wirkung, wie Rivanol, können gespritzt werden, um zu gewährleisten, dass am Ende der Abtreibung nicht ein lebendes Kind steht. Nach Reinhard Merkels Kommentar zu § 218 StGB ist der Fetozid nicht nur zulässig, sondern rechtlich und ethisch sogar geboten. Da die prospektive Geburt des Kindes eine Gefahr für die Mutter darstelle, die durch die Abtreibung beseitigt werden soll, sei ein "Abbruch durch bloße Geburtseinleitung, ohne Fetozid und mit dem hohen Risiko eines kindlichen Überlebens" grundsätzlich unerlaubt und "hochgradig unmoralisch".

Die umstrittenste Methode einer Spätabtreibung ist die Partial Birth Abortion, die Teilgeburtsabtreibung, bei der das Kind mit einer Zange aus dem geweiteten Gebärmutterhalskanal gezogen wird, bis der Nacken sichtbar wird. Mittels eines chirurgischen Instruments wird dann ein Loch in den Hinterkopf gestoßen, um durch einen Katheter das Hirn abzusaugen. Ist das Kind auf diese Weise während des Geburtsvorgangs - bei dem es bereits mit Armen und Beinen strampeln kann, wenn es nicht zuvor narkotisiert wurde - gezielt umgebracht worden, wird die Abtreibung vollendet.

Die Methode wurde Anfang der neunziger Jahre von zwei amerikanischen Arzten, James McMahon und Martin Haskell, unabhängig voneinander entwickelt. Haskell empfahl sie 1992 in seinem Lehrbuch "Dilation and Extraction", zu deutsch Ausweiten (des Gebärmutterhalskanals) und Herausziehen (des Fötus). Ihre Verteidiger nennen die Methode deshalb nur "D and X" oder "D and E". Das klingt sachlicher und verhüllender als das Wort "Teilgeburtsabtreibung". Sie geben zu, dass Spätabtreibungen unabhängig von der Methode keine ästhetische Angelegenheit seien, sehen in der Partial Birth Abortion aber eine Reihe von Vorteilen: Erstens bleibe dem abtreibenden Arzt die Zerstückelung des Babys erspart, die angesichts der Zähigkeit des fetalen Gewebes jenseits der 20. Woche oft schwierig sei. Zweitens verlagere diese Methode die emotionale Last einer Abtreibung, unter der die Mütter oft schwer zu leiden hätten, auf den Arzt, und drittens sei diese Methode auch ökonomischer, weil die Mutter die Klinik noch am gleichen Tag wieder verlassen könne. Nach Schätzungen des Alan-Guttmacher-Instituts wurden 1992 in den Vereinigten Staaten von Amerika 16.450 Abtreibungen jenseits der 20. Woche vorgenommen. Etwa 83 Prozent dieser Abtreibungen sind mit der "D and E"-Methode vorgenommen worden, die übrigen durch wehenauslösende Mittel.

Der Kongress hatte die Partial Birth Abortion mehrfach verboten, aber Präsident Clinton hat sich zweimal geweigert, das Gesetz zu unterschreiben. Präsident George W. Bush unterzeichnete den 2003 abermals beschlossenen Partial Birth Abortion Ban Act am 5. November 2003. "Wir würden", so sagte Senator Sam Brownback in der Debatte über die Spätabtreibungen, "es nie erlauben, einen Hund so zu behandeln, wie Kinder bei einer Spätabtreibung behandelt werden".

Wenn die Mutter mit Selbstmord droht, billigt jeder Arzt einen Abort.

Mit dem Inkrafttreten der Reform des Paragraphen 218 am 1. Oktober 1995 war das Tor zu Spätabtreibungen weit geöffnet. Die fatalste Konsequenz war die Aufhebung der 22-Wochen-Grenze für Abtreibungen nach einer Pränataldiagnostik, bei der eine Behinderung des Kindes festgestellt worden war und die Mutter erklärte, damit nicht leben zu können oder zu wollen. Wenn sie mit Selbstmord droht, billigt ihr jeder Arzt eine medizinische Indikation zu. Das Kind hat demgegenüber keine Chance. Dagegen kann eine akute Selbstmordgefahr nicht ins Feld geführt werden, um zum Beispiel bei einer Wohnungskündigung eine drohende Zwangsvollstreckung zu verhindern, da der Gläubiger, so der Bundesgerichtshof in einer am 18. Mai 2005 veröffentlichten Entscheidung, ein Recht auf Durchsetzung seiner Eigentumsansprüche habe. Das Eigentumsrecht ist also wesentlich besser geschützt als das Lebensrecht.

Zu den weiteren fatalen Konsequenzen der Reform zählte der Wegfall sowohl der Beratungspflicht als auch der besonderen statistischen Erfassung von Abtreibungen, bei denen eine fetale Erkrankung oder Entwicklungsstörung für die Feststellung der medizinischen Indikation von Bedeutung ist. Eine überprüfbare Beobachtung der Auswirkungen der Reform war somit nicht möglich. Damit entfiel auch die Voraussetzung für die Wahrnehmung der Korrektur- und Nachbesserungspflicht, die das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber 1993 auferlegt hatte, und die sich im Übrigen nicht nur auf die Spätabtreibungen, sondern auf alle Abtreibungen bezieht.

Die Ärzte gehörten zu den ersten Opfern der Reform. Sie hatten sich der uferlosen medizinischen Indikation zu beugen. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs über Haftungsansprüche von Eltern gegenüber Ärzten nach unterbliebener Abtreibung wegen fehlerhafter oder unterbliebener Pränataldiagnostik setzte sie zusätzlich unter Druck. Sie rieten den Schwangeren aufgrund dieser Rechtsprechung im Zweifel zunehmend zu einer Abtreibung, um Haftungsansprüchen zu entgehen.

Die Bundesregierung sah keinen Handlungsbedarf.

Die Bundesärztekammer veröffentlichte am 20. November 1998 eine Erklärung zum Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik, ihr "Schwarzenfelder Manifest", das eine Arbeitsgruppe aus Medizinern, Juristen und Moraltheologen vorbereitet hatte, um eine "Änderung im gesellschaftlichen Bewusstsein zu bewirken" und "den Gesetzgeber auf bestimmte Regelungsschwächen aufmerksam zu machen". Im Juni 2003 veröffentlichte auch die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe eine Stellungnahme zum Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik. Ihre Forderungen deckten sich weitgehend mit jenen der Bundesärztekammer, der Ton war aber deutlich schärfer; schließlich hatte sich in den fünf Jahren seit dem "Schwarzenfelder Manifest" nichts getan. Die Entwicklung der Spätabtreibungen nach der Reform des Paragraphen 218a 1995 "gibt zu schweren Bedenken Anlass". Die Ärzte seien zunehmend "mit dem 'Anspruch' auf ein gesundes Kind konfrontiert, zu dessen Verwirklichung gegebenenfalls ein Schwangerschaftsabbruch in Kauf genommen und von Einzelnen gegenüber dem Arzt sogar im Sinne eines vermeintlichen Rechtsanspruchs postuliert wird".

Die Bemühungen um eine Reform der Reform des Paragraphen 218a StGB setzten zwar neun Monate nach der Verabschiedung des Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes am 29. Juni 1995 ein, hatten aber keine Aussicht auf Erfolg. Mit einer aus 31 Fragen bestehenden Kleinen Anfrage vom 27. Juni 1996 wiesen die Abgeordneten Hüppe, Brudlewsky und Geis sowie weitere 75 Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion die Bundesregierung auf die Problematik der Spätabtreibungen, auf deren Methoden und statistische Erfassung, auf die Behandlung überlebender Kinder und auf die Verwischung der Grenzen zur Früheuthanasie hin.

In ihrer Antwort vom 29. Juli 1996 gab die Regierung Kohl zwar zu verstehen, dass die medizinische Indikation zu einer Spätabtreibung "äußerst streng gestellt und auf Fälle beschränkt werden soll, in denen das Leben der Mutter in Gefahr ist", und dass Kindern, die eine Abtreibung überleben, lebenserhaltende Maßnahmen nicht vorenthalten werden dürften. Aber die Bundesregierung sah keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf und behauptete sogar, dass mit dem Wegfall der embryopathischen Indikation keine Änderung der Voraussetzungen der medizinischen Indikation im Vergleich zu der vor dem Inkrafttreten des Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetzes geltenden Fassung erfolgt sei. Sie scheute sich nicht, den Abgeordneten die Fiktion zu präsentieren, das Ziel des Schwangerschaftsabbruchs sei die "Beendigung der Schwangerschaft", nicht jedoch "die Tötung des Kindes".

Alle Versuche von Bundestag und Bundesregierung seit 1995, Spätabtreibungen einzudämmen, sind bisher gescheitert. Warum? Weil sie nicht bereit waren, das Problem an seiner Wurzel anzugehen. Die Wurzel ist die uferlose medizinische Indikation des Paragrafen 218a Absatz 2 StGB. Stattdessen erwarteten sie eine Lösung des Problems vom ärztlichen Standesrecht oder vom Ausbau der Beratung. Wer aber Spätabtreibungen unterbinden oder wenigstens einschränken will, muss die medizinische Indikation von der Pränataldiagnostik abkoppeln und auf eine vitale Indikation beschränken, die Abtreibung nur dann straffrei stellt, wenn sie der Abwehr einer unmittelbaren Gefahr für das Leben der Mutter dient. Darüber hinaus muss er die ärztliche Haftungspflicht auf Fälle grober Fahrlässigkeit beschränken. Solange Bundestag und Bundesregierung zu einer Reform des § 218a nicht bereit sind, entbehren die Klagen der Abgeordneten über das grauenvolle Geschehen der Glaubwürdigkeit.

Die Erwartung der früheren Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin, das grauenvolle Geschehen der Spätabtreibungen über das ärztliche Standesrecht zu unterbinden, war mehr als erstaunlich. Sie war befremdlich, verlangte sie doch von den Ärzten, etwas zu unterlassen, was das Gesetz ausdrücklich als rechtmäßig bezeichnet. Die Ministerin erwartete von ihnen nicht mehr und nicht weniger, als das Gesetz zu missachten, das zu ändern ihr der Mut oder die Unterstützung der rot-grünen Koalition fehlte. Diese Zumutung wiesen die Ärzte denn auch gleich zurück. Sie wollten sich den Schwarzen Peter nicht zuspielen lassen.

Die Hoffnung, Spätabtreibungen über den Ausbau der psychosozialen Beratung vor einer Pränataldiagnostik einschränken zu können, ist eine Flucht vor der eigentlichen Aufgabe, die medizinische Indikation so zu regeln, dass sie diesen Namen verdient. Hier soll der Schwarze Peter an die Beratungsdienste weitergereicht werden, die der Politik aber ebenso wie die Ärzte entgegenhalten: "Tua res agitur", Deine Angelegenheit steht auf dem Spiel. Ein effektiver Ausschluss jeder embryopathischen oder eugenischen Indikation aus der medizinischen Indikation wäre der Schritt zur Verbesserung der Situation bei den Spätabtreibungen. Um diesen Schritt zu vollziehen, muss sich der Gesetzgeber von der Angst befreien, den Paragraphen 218 StGB erneut zur Disposition zu stellen. Bisher wurden alle Korrekturversuche, auch jene der CDU/CSU-Fraktion, von dieser Angst begleitet.

Ein bisher im Bundestag nicht aufgegriffener; vermutlich aber doch hilfreicher Vorschlag zum Schutz behinderter Kinder in der Spätphase einer Schwangerschaft wäre die Ausweitung der Anzeigepflicht bei unnatürlichen Todesfallen auf spätabgetriebene Kinder. Diese Anzeigepflicht gegenüber der Staatsanwaltschaft und die ärztliche Leichenschau wären Kontroll- und Schutzmechanismen zur Stabilisierung der Rechtsnormen, die das Leben schützen. Sie sind nachsorgender Schutz menschlichen Lebens. Bei Spätabtreibungen könnten sie ein rechtlicher Ansatz sein, um undurchsichtige Abtreibungen auf ihre strafrechtliche Relevanz hin zu kontrollieren, der statistischen Beobachtungspflicht zu genügen und Ärzte von einer schnellen medizinischen Indikation abzuhalten.

Eine Diskussion über den Paragrafen 218 StGB aber lässt sich aus einem immanenten Grund ohnehin nicht vermeiden. Er versucht, etwas gesetzlich zu regeln, was sich in einem Rechtsstaat gesetzlich nie regeln lässt: Die Aufhebung des Verbots, Unschuldige zu töten. Ein Gesetzgeber, der glaubt, er könne die Aufhebung dieses Verbots kodifizieren, verstößt gegen seine eigenen Prämissen, nämlich private, tödliche Gewalt nicht zu akzeptieren und Unrecht nicht als Recht zu deklarieren. Jede Abtreibung aber ist private, tödliche Gewaltanwendung. Sie rechtlich regeln zu wollen, bedeutet die Kapitulation des Rechtsstaates. Vor den Folgen dieser Kapitulation - etwa neun Millionen getötete Kinder in 35 Jahren - kann die Politik die Augen nicht verschließen. Sie hat sich der Korrekturpflicht zu stellen. Entwicklungen in Polen, in den USA und in verschiedenen anderen Ländern in den vergangenen fünfzehn Jahren zeigen, dass die Rekonstruktion des Rechtsstaates möglich ist, wenn Gesetzgeber und Regierungen den Mut aufbringen, sich dem grauenvollen Geschehen wirklich zu stellen und den Legitimitätsbedingungen eines Rechtsstaates neu Geltung verschaffen.


IM PORTRAIT

Prof. Dr. Manfred Spieker
Der Autor wurde 1943 in München geboren. Studium der Politikwissenschaft, der Philosophie und der Geschichte an den Universitäten Freiburg, Berlin und München. 1968 Diplom in Politologie an der Freien Universität Berlin. 1973 Promotion zum Dr. phil. an der Universität München. 1982 Habilitation im Fach Politische Wissenschaft an der Universität zu Köln. Von 1983 bis 2008 Professor für Christliche Sozialwissenschaften am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück. Verschiedene Gastprofessuren im Ausland. Von 1995 bis 2001 Beobachter des Heiligen Stuhls im Europarat.

Buchveröffentlichungen zu Fragen des Lebensschutzes in jüngster Zeit: "Biopolitik. Probleme des Lebensschutzes in der Demokratie" (als Herausgeber), 2009; "Kirche und Abtreibung in Deutschland. Ursachen und Verlauf eines Konfliktes", 2. erweiterte Auflage 2008; "Der verleugnete Rechtsstaat. Anmerkungen zur Kultur des Todes in Europa", 2005.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Sectio parva: Eine zum Zweck der Abtreibung durchgeführte abdominelle Öffnung der Gebärmutter.

Tatort Mutterleib: Laut Statistik werden jährlich bis zu 2.200 Abtreibungen nach der 12. Woche durchgeführt.

Deutschlands Abtreibungsbilanz: Rund neun Millionen


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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 90, 2. Quartal 2009, S. 4 - 8
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Herausgeber: Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminsky (V.i.S.d.P.)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Mai 2009