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GESCHICHTE/547: Ärztetag 2012 in Nürnberg - Ärzteschaft bittet NS-Opfer um Verzeihung (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 102 - 2. Quartal 2012
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Ärzteschaft bittet NS-Opfer um Verzeihung

Von Eckhard Meister



Ohne Gegenstimmen und ohne Enthaltungen hat der 115. Deutsche Ärztetag in Nürnberg eine Erklärung verabschiedet, in der sich die deutsche Ärzteschaft zu ihrer historischen Verantwortung und der schuldhaften Verstrickung der »staatlichen medizinischen Dienste« in die Verbrechen bekennt, die Mediziner unter dem NS-Terror-Regime an unschuldigen Menschen begangen haben, und die Opfer um Verzeihung gebeten.


In diesem Jahr tagte der Deutsche Ärztetag, das oberste Organ der deutschen Ärzteschaft, in Nürnberg. Vor 65 Jahren, genauer am 20. August 1947, ging dort der so genannte »Nürnberger Ärzteprozess« zu Ende. In dem auch als »Vereinigte Staaten von Nordamerika gegen Karl Brandt und andere« bekannten Fall mussten sich 20 Ärzte, ein Jurist und zwei Verwaltungsfachleute vor dem US-amerikanischen Militärgericht Military Tribunal I wegen »Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation«, gemeinschaftlich begangenen »Kriegsverbrechen« sowie »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« verantworten.

Wie es in der Anklageschrift heißt, die den bereits inhaftierten 23 Beschuldigten am 5. November 1946 in deutscher Sprache zugestellt worden war, hätten diese als »Haupttäter, als Mittäter, als Anstifter oder als Vorschubleistende« während des Zweiten Weltkrieges an medizinischen Experimenten mitgewirkt, die ohne Zustimmung der Versuchspersonen erfolgt seien. Dabei seien sie auch vor »Morden, Brutalitäten, Grausamkeiten, Folterungen, Greueltaten und anderen unmenschlichen Taten« nicht zurückgeschreckt.

Gegenstand der Anklage waren vor allem medizinische Experimente, welche die Mediziner an Häftlingen in Konzentrationslagern (KZ) entweder persönlich durchgeführt oder aber geplant und angeordnet hatten. Aber auch andere Verbrechen, wie die Ermordung psychisch kranker und behinderter Menschen sowie die Zwangssterilisation von Menschen, die im Dritten Reich als »erbkrank« galten, und die Teil der NS-Rassenideologie waren, waren Bestandteil der Anklageschrift. Vorgeworfen wurden den Angeklagten:

Höhen-, Unterkühlungs- und Meerwasserversuche: Zwischen März 1942 und September 1944 wurden im KZ Dachau an Häftlingen drei verschiedene Versuchsreihen durchgeführt. Dabei sollten Bedingungen simuliert werden, denen Militärpiloten ausgesetzt sind, wenn sie ihre Maschine verlassen und im Wasser notlanden müssen. So wurde etwa in einer Unterdruckkammer ein Fall aus 21.000 Metern Höhe simuliert, bei dem die körperlichen Reaktionen der Versuchspersonen bis zum Tode aufgezeichnet und anschließend ausgewertet wurden. Von den 200 Häftlingen, die für diese Testreihe ausgewählt wurden, verstarben etwa 80. Diese Tode waren keinesfalls Unfälle, sondern fest eingeplanter Bestandteil der Experimente. Gleiches galt für die Unterkühlungsversuche, an denen rund 300 Personen teilnehmen mussten und die für rund 90 von ihnen tödlich endeten. Bei den Meerwasserversuchen erhielten rund 40 Personen, die zuvor aus dem KZ Buchenwald nach Dachau überstellt worden waren, statt Nahrung chemisch behandeltes Meerwasser, wobei verschiedene Methoden des Trinkbarmachens von Meerwasser getestet wurden.

»Die Initiative ging von den Ärzten selbst aus.«

Sterilisationsexperimente: Zwischen März 1941 und Januar 1945 wurden vor allem in den KZs Auschwitz und Ravensbrück an den Häftlingen unterschiedliche Methoden der Sterilisation erprobt. Im Verlauf der Experimente wurden mit Röntgenstrahlen, Medikamenten und Operationen hunderttausende Menschen unfruchtbar gemacht.

Fleckenfieber-Experimente: In den KZs Buchenwald, Natzweiler und Sachsenhausen testeten NS-Ärzte von Dezember 1941 bis Februar 1945 an Häftlingen die Wirksamkeit von Impfstoffen gegen Fleckenfieber, Pocken, Typhus, Paratyphus A und B sowie Cholera und Diphtherie; im Verlauf dieser Tests starben hunderte. Dabei war eine große Zahl der Häftlinge zunächst nur infiziert worden, um die Viren überhaupt am Leben zu erhalten.

Malaria-Experimente: Im KZ Dachau wurden zwischen Februar 1942 und April 1945 rund 1.000 inhaftierte Menschen absichtlich mit Malaria infiziert, um an ihnen verschiedene Medikamente auf deren Wirkung testen zu können.

Giftexperimente: Zwischen Dezember 1943 und Oktober 1944 studierten Ärzte des KZ Buchenwald die Wirkung von Giften. Im Verlauf dieser Versuche wurden vielen Inhaftierten verschiedene Gifte in das Essen gemischt und deren Wirkung beobachtet. Starben die Vergifteten nicht unmittelbar, wurden sie anderweitig getötet, um durch eine anschließende Autopsie mehr über die Wirkung der Gifte zu erfahren.

Brandbomben-Experimente: Vom November 1943 bis zum Januar 1994 führten NS-Ärzte im KZ Buchenwald verschiedene Testreihen von Präparaten zur Behandlung von Phosphorverbrennungen durch. Dabei wurden den Häftlingen zunächst Verbrennungen mit Phosphor aus Brandbomben zugefügt, wie sie im Krieg zum Einsatz kamen.

Senfgas-Experimente: Während der gesamten Dauer des Zweiten Weltkrieges wurden in den KZs Sachsenhausen und Natzweiler an zahlreichen Häftlingen Versuche mit so genanntem Senfgas, einem hautschädigenden chemischen Kampfstoff aus der Gruppe der Loste, durchgeführt. Dabei wurden die Häftlinge zunächst mit dem Kampfstoff kontaminiert. Anschließend wurden an der verletzten Haut verschiedene Medikamente getestet.

Sulfonamid-Experimente: Im KZ Ravensbrück fügten Ärzte zwischen Juli 1943 und September 1943 gefangenen polnischen Widerstandskämpferinnen zunächst Wunden zu und infizierten diese anschließend mit Bakterien, Holzspänen und pulverisiertem Glas. Im Anschluss daran wurden die Wunden mit Sulfonamiden und anderen Medikamenten versorgt. Ziel war es, unter Bedingungen, die der Front nahe kamen, die in der Kriegschirurgie umstrittene Wirkung der Sulfonamide zu testen.

Gelbfieber-Experimente: In den KZs Sachsenhausen und Natzweiler infizierten Ärzte zwischen Juni 1943 und Januar 1945 Inhaftierte mit epidemischer Gelbsucht, die an der Front viele Opfer forderte, um an ihnen verschiedene Therapiemethoden zu testen.

Skelettsammlung: Im KZ Auschwitz wählten NS-Ärzte 112 jüdische Häftlinge aus, um eine unvollständige Skelettsammlung der Reichsuniversität Straßburg zu komplettieren. Nachdem die Häftlinge ausgesucht, vermessen und fotografiert worden waren, wurden sie umgebracht und ihre Leichen für die Sammlung präpariert.

Im Verlauf des Prozesses wurden 32 Zeugen der Anklage und 53 Zeugen, einschließlich der 23 Angeklagten selbst, der Verteidigung gehört. Dabei wurden von der Anklage 570 eidesstattliche Erklärungen, Berichte und Dokumente als Beweisstücke eingeführt. Die Verteidigung brachte 901 Beweisstücke ein. Nach 139 Verhandlungstagen verkündete das Gericht schließlich am 20. August 1947 das Urteil. Von den 23 Angeklagten verurteilte das Gericht sieben zum Tode durch den Strang. Darunter den Begleitarzt Adolf Hitlers und ehemaligen Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen Prof. Dr. med. Karl Brandt. Fünf Angeklagte erhielten lebenslange, vier Haftstrafen zwischen zehn und 20 Jahren. Sieben Angeklagte wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen und aus der Haft entlassen.

Am 2. Juni 1948 wurden alle sieben Todesurteile auf Anordnung des Oberbefehlshabers der U.S. Army in Europa, General Lucius D. Clay, im Innenhof des Gefängnisses Landsberg am Lech vollstreckt.


INFO
Nürnberger Erklärung des Deutschen Ärztetages 2012

Der 115. Deutsche Ärztetag findet 2012 in Nürnberg statt, an dem Ort also, an dem vor 65 Jahren 20 Ärzte als führende Vertreter der »staatlichen medizinischen Dienste« des nationalsozialistischen Staates wegen medizinischer Verbrechen gegen die Menschlic hkeit angeklagt wurden. Die Forschungen der vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen noch größer war, als im Prozess angenommen. Wir wissen heute deutlich mehr über Ziele und Praxis der vielfach tödlich endenden unfreiwilligen Menschenversuche mit vielen tausend Opfern und die Tötung von über 200.000 psychisch kranken und behinderten Menschen, ebenso über die Zwangssterilisation von über 360.000 als »erbkrank« klassifizierten Menschen.

Im Gegensatz zu noch immer weit verbreiteten Annahmen ging die Initiative gerade für diese gravierendsten Menschenrechtsverletzungen nicht von politischen Instanzen, sondern von den Ärzten selbst aus. Diese Verbrechen waren auch nicht die Taten einzelner Ärzte, sondern sie geschahen unter Mitbeteiligung führender Repräsentanten der verfassten Ärzteschaft sowie medizinischer Fachgesellschaften und ebenso unter maßgeblicher Beteiligung von herausragenden Vertretern der universitären Medizin sowie von renommierten biomedizinischen Forschungseinrichtungen.

Diese Menschenrechtsverletzungen durch die NS-Medizin wirken bis heute nach und werfen Fragen auf, die das Selbstverständnis der Ärztinnen und Ärzte, ihr professionelles Handeln und die Medizinethik betreffen.

Der 115. Deutsche Ärztetag stellt deshalb in seiner Nürnberger Erklärung 2012 fest:

• Wir erkennen die wesentliche Mitverantwortung von Ärzten an den Unrechtstaten der NS-Medizin an und betrachten das Geschehene als Mahnung für die Gegenwart und die Zukunft.

• Wir bekunden unser tiefstes Bedauern darüber, dass Ärzte sich entgegen ihrem Heilauftrag durch vielfache Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben, gedenken der noch lebenden und der bereits verstorbenen Opfer sowie ihrer Nachkommen und bitten sie um Verzeihung.

• Wir verpflichten uns als Deutscher Ärztetag darauf hinzuwirken, dass die weitere historische Forschung und Aufarbeitung von den Gremien der bundesrepublikanischen Ärzteschaft aktiv sowohl durch direkte finanzielle als auch durch institutionelle Unterstützung, wie etwa den unbeschränkten Zugang zu den Archiven, gefördert wird.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Mörderische Einbahnstraße: Einfahrtgebäude des KZ Auschwitz-Birkenau

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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 102, 2. Quartal 2012, S. 20 - 21
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Herausgeber: Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminsky (V.i.S.d.P.)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2012