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GESCHICHTE/590: Ärzte in der NS-Zeit - Kein Widerstand der Professoren (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 2/2015

Ärzte in der NS-Zeit
Kein Widerstand der Professoren

Von Karl-Werner Ratschko


Einordnung und Bewertung des Verhaltens der Mitglieder der Medizinischen Fakultät. Zweiter Teil einer Serie.


Der Philosoph und Psychiater Karl Jaspers fand schon früh klare Worte zum Versagen der Deutschen im Nationalsozialismus und der mangelnden Bereitschaft, sich ihrer Verantwortung zu stellen. In seiner Rede vom 15. August 1945 vor den Heidelberger Medizinstudenten zum Thema der Erneuerung der Universität nach dem Zusammenbruch kommt Jaspers zu diametral anderen Ergebnissen als der im Gestrigen verharrende erste Rektor der Kieler Universität nach dem Krieg, Hans-Gerhard Creutzfeldt. Creutzfeld zeigte sich wenig sensibel, als er zur Eröffnungsfeier am 27. November 1945 sagte: "Ich bitte Sie alle sich zu erheben zu dankbarem Gedenken an alle Gefallenen dieses Krieges, ob Freund, ob Feind, sie sind Opfer einer Idee, die uns alle erfüllen soll, die des Friedens." Damit versuchte Creutzfeldt Augenhöhe zwischen Tätern, Opfern und ihren Befreiern herzustellen. Angesichts der Verbrechen, die das für das Geschehen der Zeit des Nationalsozialismus mitverantwortliche deutsche Volk in diesen Jahren ermöglicht, unterstützt, ertragen und angeblich nicht geahnt oder gewusst habe, war aber nicht Augenhöhe, sondern Demut gegenüber den Opfern gefragt.

Anders als Creutzfeldt ging Jaspers streng mit sich und den anderen Deutschen um: "Wir sind nicht, als unsere jüdischen Freunde abgeführt wurden, auf die Straße gegangen, haben nicht geschrien, bis man auch uns vernichtete. Wir haben es vorgezogen, am Leben zu bleiben mit dem schwachen, wenn auch richtigem Grund, unser Tod hätte doch nichts helfen können. Daß wir leben, ist unsere Schuld. [...] Unsere in dieser Würdelosigkeit einzig noch bleibende Würde ist die Wahrhaftigkeit, und dann die unendlich geduldige Arbeit trotz aller Hemmungen, trotz allen Mißlingens - solange es uns vergönnt ist. Wir wollen uns unser Leben, das uns gerettet wurde, verdienen."

Jaspers sieht vier Arten von Schuld: die kriminelle Schuld, die politische Schuld, die moralische Schuld und die metaphysische Schuld. Bei der "kriminellen Schuld" handelt es sich um durch Gerichte zu überprüfende Sachverhalte, die nach den Regeln eines Rechtsstaates entschieden werden müssen. Inwieweit dies in der Nachkriegszeit gescheitert ist, soll hier nicht Gegenstand der Betrachtung sein, fest steht jedoch, dass die Kategorie der Straftat nur bei einigen wenigen Kieler Medizindozenten überhaupt infrage gekommen wäre. Die Verantwortung für Straftaten liegt bei denjenigen, die sie begingen und denjenigen, die sie anordneten. Im Fall der Kieler Angehörigen der Medizinischen Fakultät sind hier Holzlöhner, Vonkennel, Frowein und als ein Produkt der Fakultät, aber schon lange nicht mehr ihr Mitglied, Clauberg, zu nennen. Alle mit Ausnahme Froweins, der von einem sowjetischen Militärgericht zum Tode verurteilt und 1947 hingerichtet wurde, entgingen der gerichtlichen Bewertung ihrer Straftaten durch den Tod, Holzlöhner und Vonkennel durch den 1945 und 1963 gewählten Suizid, Clauberg 1957 durch natürlichen Tod.

Die drei weiteren "Schuld"-Begriffe von Karl Jaspers werden heute besser verständlich, wenn der Begriff "Schuld", der immer eine sprachliche Nähe zu Straftaten hat und eine Bewertung beinhaltet, durch den Begriff "Verantwortung" ersetzt wird. Es geht nicht mehr um die Schuld, sondern es geht um die Verantwortung für die Haltungen und Handlungen im "Dritten Reich", die auch die heutigen Nachkommen nicht unberührt lassen darf. Eine politische Verantwortung haben zunächst die vom Bürger durch Wahl eingesetzten Staatsmänner. Bei deren Versagen liegt die Verantwortung bei denjenigen, die sich regieren lassen, ohne sich durch einen wie auch immer gearteten Widerstand zur Wehr zu setzen. Diese politische Verantwortung bleibt auch über diejenigen hinaus, die an dem Geschehen teil hatten, für die Nachgeborenen bestehen. Politische Verantwortung muss von allen Bürgern des Staatsvolkes getragen werden, im Falle der Handlungen des "Dritten Reiches" also nicht nur von den unmittelbar Beteiligten, sondern auch von allen übrigen Mitgliedern des Staates, wie auch den nachfolgenden Generationen.

Die moralische Verantwortung besteht für Handlungen, die von Einzelnen begangen wurden. Jaspers formuliert dies so: Die moralische Schuld besteht "für alle [...] Handlungen, auch für politische und militärische [...]. Niemals gilt schlechthin "Befehl ist Befehl". Die metaphysische Verantwortung sieht Jaspers in der Mitverantwortlichkeit der Menschen für alles Unrecht und alle Ungerechtigkeit in der Welt, die einer Solidarität zwischen den Menschen geschuldet ist: "Wenn ich nicht tue, was ich kann, um sie zu verhindern, so bin ich mitschuldig. Wenn ich mein Leben nicht eingesetzt habe zur Verhinderung der Ermordung anderer, sondern dabeigestanden bin, fühle ich mich auf eine Weise schuldig, die juristisch, politisch und moralisch nicht angemessen begreiflich ist. Daß ich noch lebe, wenn solches geschehen ist, legt sich als untilgbare Schuld auf mich."

Hiermit setzt Karl Jaspers - und zwar in der Zeit der handelnden Personen, zu denen er auch gehört hatte, nicht erst Jahrzehnte danach ohne eigenes Erleben - Maßstäbe, die Grundlage des Umgangs mit der Vergangenheit besonders auch bei den meisten Kieler Medizindozenten hätte sein können. Tatsächlich war deren Bereitschaft, sich ihrer Verantwortung zu stellen, schon gleich nach der Kapitulation nicht groß, wurde aber im Verlauf der Folgejahre immer geringer. Man habe sich nichts vorzuwerfen, so der allgemeine Tenor. Bleuel schreibt hierzu: "Deutschlands Professoren konnten sich nicht darauf berufen, nicht gewusst zu haben, was sich hier vorbereitete und ausbreitete. Sie erlebten die Judenhetze an ihren Hochschulen und sie sahen zu, wie jüdische Kollegen und politische Gegner des Regimes rücksichtslos von ihren Lehrstühlen gestoßen und in die Emigration getrieben wurden. Sie ließen es zu, daß die Rechte akademischer Freiheit und Selbstverwaltung Stück für Stück beschnitten wurden und die Hochschule immer mehr unter die Herrschaft des Staates geriet. Sie beteiligten sich sogar selbst an der Propagierung eines Wissenschaftsbegriffs und eines Bildungsideals, die dem Geist der Wissenschaft und der Idee der Universität strikt zuwiderliefen."

Keine Zweifel - die Medizinische Fakultät mit ihren
Professoren diente dem Nationalsozialismus

Das Versagen vieler Kieler Medizinprofessoren war rechtlich nicht zu fassen, wird dadurch aber nicht unbedeutend. Hierzu einige Beispiele: Creutzfeldt galt in der Nachkriegszeit als einer, dem es gelungen war, Distanz zu den Nationalsozialisten zu halten. Zwar war er frühzeitig förderndes Mitglied der SS geworden, aber nie in die NSDAP eingetreten und hielt sich wie auch andere Kieler Medizinprofessoren mit seiner mehr internen Kritik gegenüber dem System nicht zurück. Sein Nachnachfolger Aldenhoff sieht dies so: "Creutzfeldt gilt als Verächter des nationalsozialistischen Regimes [...]. Seine Ablehnung entsprach weniger einer intellektuell begründeten Gegnerschaft, als daß er die Nationalsozialisten wegen ihrer Primitivität verachtete." Trotzdem fügte er sich dem Regime und profitierte von dessen Maßnahmen. Nur weil sein Vorgänger Stertz unrechtmäßig, übrigens auch nach den Bestimmungen der damaligen Zeit, durch Hanns Löhr aus seinem Lehrstuhl "gemobbt" wurde, standen der Lehrstuhl und die Leitung der Klinik Creutzfeldt offen. Er war nicht gezwungen, ein auf diese Weise frei gewordenes Ordinariat zu übernehmen und damit Nutznießer des nationalsozialistischen Antisemitismus zu werden. So entstand eine erhebliche moralische Verantwortung des Nervenarztes. Er hätte nicht danach streben müssen, einem immer mehr als solchem erkennbaren Unrechtsregime an wichtiger Stelle zu dienen. Eine Tätigkeit in einer Arztpraxis als Nervenarzt hätte ihm ebenfalls ein auskömmliches Dasein ermöglicht und ihn vor der Beteiligung an der euphemistisch als "Euthanasie" bezeichneten Mordaktionen des nationalsozialistischen Staates bewahren können. Ihm war seine Karriere wichtiger als ein verhaltener verbaler Widerstand gegen das Regime. Seine indirekte Beteiligung am "Euthanasie"-Programm T4 ist erwiesen. Er wollte die Ermordung seiner Patienten nicht, tat sicher auch einiges, um ihre Zahl zu vermindern, trotzdem ist unbestreitbar, dass unter seiner Verantwortung chronisch geisteskranke Patienten auf den Weg über die Landeskrankenhäuser Schleswig und Neustadt in die Tötungsanstalten Bernburg und Meseritz-Obrawalde gebracht wurden. Der Einfluss Creutzfeldts auf das Geschehen war begrenzt, Creutzfeldt wäre es nicht möglich gewesen, die Tötung von Geisteskranken wesentlich zu behindern und damit die Patienten der Kieler Universitätsnervenklinik vor der Ermordung zu retten. Seine Äußerung, dass man nicht jeden freistellen könne, weil sonst die ganze Praxis aufflöge, zeigt seine Bereitschaft, fremde Opfer in Kauf zu nehmen, um sich die Möglichkeit zu erhalten, seiner Tätigkeit weiter nachgehen zu können. Seine Gutachtertätigkeit als Wehrmachtspsychiater und sein nicht gerade von Bekennermut geprägtes Verhalten bei der Aufdeckung der Identität des T4-Obergutachters Heyde werfen weitere Schatten auf seine Person. Ohne Frage lud Creutzfeldt durch seine Karriere erhebliche moralische Verantwortung auf seine Schultern. Worte der Einsicht, des Bedauerns oder der Entschuldigung gab es von seiner Seite nicht, im Gegenteil, nach dem Kriegsende wurde er wegen der fehlenden Mitgliedschaft in der NSDAP sogar als unbelasteter "Vorzeigepsychiater" und Hochschullehrer angesehen. Das glorifizierende, von Nachkommen unter Berufung auf das von Lifton bekräftigte Urteil, dass Creutzfeldt eine rühmliche Sonderstellung unter den Psychiatern im "Dritten Reich" eingenommen habe, muss in Anbetracht der heute vorliegenden Kenntnisse und Einschätzungen revidiert werden.

Ganz anders ist der Fall bei Freerksen gelagert. Ihm persönlich anzulastende gröbere Verfehlungen, die über seine strukturellen Anbindungen an das nationalsozialistische System hinaus reichen, sind in den Quellen nicht zu finden. In seinem Einsatz für den nationalsozialistischen Staat und der Wahrnehmung hoher Ämter in Universität und Staat schreckte er offenkundig aus Karrieregründen vor keinem Engagement während der Herrschaft des Nationalsozialismus zurück. Ohne Menschen wie ihn hätte das "Dritte Reich" seine Wirkung nicht entfalten können. Eine Abwendung von den Nationalsozialisten ab Sommer 1944, als eine Karriere im System nicht mehr zielführend erschien, scheint denkbar, ein Einsatz für jüdische Persönlichkeiten - wie vor der Entnazifizierungskommission behauptet - war während seiner Zeit in Kiel wenig wahrscheinlich, da es wegen der Verbrechen des von ihm gestützten Systems in Kiel kaum noch Juden gegeben haben dürfte. Auch wenn Freerksen es wegen seiner hohen Intelligenz vermeiden konnte, sich in die Tiefen nationalsozialistischer Verbrechen und Absurditäten hinabziehen zu lassen, war er für die Nationalsozialisten ein wichtiger Träger ihres Gedankenguts und ein enger Mitarbeiter und Zuträger des Sicherheitsdienstes der SS. Als Gaudozentenbundführer war er ehrenamtlicher Mitarbeiter des Gauleiters in leitender Funktion und zusätzlich war er Fachgutachter für das Amt Wissenschaftsbeobachtung im Amt Rosenberg. So konnte er seinen Einfluss bei Berufungen geltend machen. Als Prorektor war er in den Alltagsgeschäften des Rektorats federführend, da der Rektor Predöhl häufig in Kiel wegen der Auslagerung seines Instituts nach Ratzeburg nicht zur Verfügung stand. Freerksens individuelle Verantwortung wird nicht dadurch gemindert, dass er sich zu einem Zeitpunkt, als das bevorstehende Ende des "Dritten Reiches" von jedem rational denkenden Menschen schon erkannt werden konnte, möglicherweise dem Widerstand näherte. Es gibt keinerlei Hinweis, dass er zu irgendeinem Zeitpunkt seines langen Lebens seine moralische Verantwortung erkannt und entsprechend gehandelt hat.

Die mit dem Nationalsozialismus konform gehenden Handlungen Hanns Löhrs wie auch Schittenhelms und Bachmanns, aber auch Hallermanns und A. W. Fischers sind offenkundig und an anderer Stelle - hier ist es nicht möglich - Gegenstand eingehender Erörterungen gewesen. Sie begründen eine individuelle moralische Verantwortung, wenn nicht mehr. Hanns Löhr hatte die Verantwortung für die Inbesitznahme zunächst einer ganzen Fakultät, dann auch der Universität durch die Nationalsozialisten. Er war der Prototyp des absolut überzeugten und herrschenden Parteimannes, der das gesamte Repertoire der alltäglichen Repressionsmaßnahmen nutzte. Sein Tod Ende 1941 verhinderte eine rechtliche Aufarbeitung seiner Schuld. Seine Verantwortung für die Auslieferung der Medizinischen Fakultät an seine Partei und an den Sicherheitsdienst der SS ist offenkundig und kann durch keine der vielen gerne genutzten Entschuldigungen vermindert werden.

Es sind oft kleinere Verfehlungen, die heute noch überliefert sind, die erkennen lassen' wie der Einzelne moralisch gefehlt hat, ohne sich erkennbar seines Fehlverhaltens bewusst geworden zu sein. So verweigerte z. B. Reinwein als Direktor der Medizinischen Klinik Gießen dem "Halbjuden" cand. med. Werner Schmidt 1938 die Tätigkeit als Medizinalpraktikant, weil er Proteste seiner Mitarbeiter in der Klinik fürchtete. Laut Schmidt habe Reinwein zu ihm gesagt: "Ich werde Sie nur annehmen, Herr Kollege, wenn die Partei oder die Regierung mich dazu zwingt, aber dann werde ich immer bestrebt bleiben, Sie rauszudrücken, um dem Drängen der Kollegen an der Klinik gerecht zu werden. Wenn Sie in Deutschland bleiben wollen, rate ich Ihnen, geben Sie die Medizin auf. Kommen Sie niemals in dieser Sache wieder zu mir!"

Zusammenfassend ist festzustellen: Es bestehen keine Zweifel - die Medizinische Fakultät Kiel mit ihren Professoren diente dem Nationalsozialismus und trug das Ihre dazu bei, dass die Nationalsozialisten ihre "Blut- und Boden"-Ideologie mit verhängnisvollen Folgen umsetzen konnten. Die Machthaber hatten nicht nur keine Schwierigkeiten mit den Kieler Medizinprofessoren, sondern diese taten eilfertig alles, um den mehr und mehr in Antisemitismus und Terror abgleitenden Staat zu unterstützen. Es gab nach anfänglichen Irritationen keine in den Quellen sich widerspiegelnde Opposition der Medizinprofessoren. Die nationalsozialistische Rassenideologie fand nicht nur Zustimmung, sondern auch praktische Unterstützung. Es gab keinen Widerstand gegen die "Euthanasie" und den von den Nationalsozialisten praktizierten Holocaust. Der Krieg wurde als nationale Aufgabe angesehen, dem alle Kräfte wie auch die ethischen Normen und die Humanität untergeordnet wurden. Ereignisse wie die Massenmorde im Polen- und Balkanfeldzug sowie im Hinterland der Ostfront wurden genauso hingenommen wie Menschenversuche in Konzentrationslagern, die Ausbeutung von Zwangsarbeitern, die Existenz zahlreicher Konzentrations- und Arbeitslager sowie wie die ständig steigende Zahl an Hinrichtungen.

Die Nationalsozialisten gewährten den Ordinarien nicht nur in Kiel und auch nicht nur den Medizinern weiterhin einen Teil ihrer Hochschullehrerprivilegien. Hierfür erwarteten sie und bekamen auch Loyalität, Unterstützung und Unterordnung fast bis zum letzten Tag ihrer Herrschaft. Weder Hochschullehrerpflichten noch das zum Beruf der Ärzte gehörige ärztliche Ethos wurden, von Einzelfällen einmal abgesehen, verteidigt. Beides war im "Dritten Reich" nur noch dort in einer beschädigten und verzerrten Form präsent, wo es seitens der Machthaber zugelassen wurde. Die nationalsozialistische Führung hatte kein Interesse daran, die für die Vorbereitung und Durchführung ihres Krieges unentbehrlichen Medizinprofessoren zu demotivieren. Daher wurden sie in einem gewissen Umfang hofiert, umworben und gelegentliche harmlose Respektlosigkeiten gegenüber der Partei toleriert. Sie wurden an "langer Leine" geführt und wurden, um im Sprachbild zu bleiben, Marionetten des Systems. Dies trifft beispielsweise auf Creutzfeldt, Vonkennel, Hallermann, Fischer und Freerksen zu, die sich durchaus auch vor Studenten kritisch äußern konnten - allerdings nur so lange, wie bestimmte Grenzen nicht überschritten wurden. Genau dieses Verhalten war es dann auch, das in den Entnazifizierungsverfahren der Nachkriegszeit offenbar nicht ganz ohne Wirkung als Beweis für oppositionelle Gesinnung herangezogen wurde.

Die Fakultät unterließ in der Nachkriegszeit alle ernsthaften Versuche, ihre nationalsozialistische Vergangenheit aufzuarbeiten, im Gegenteil - mit der Berufung Werner Catels 1955 auf den Lehrstuhl für Pädiatrie und dem Verschweigen des unter dem Namen Sawade in Flensburg tätigen T4-Obergutachters Heyde fügte sie ihrem Verhalten im Nationalsozialismus weitere peinliche Vorgänge hinzu. Catel war an der "Kindereuthanasie" im "Dritten Reich" beteiligt gewesen, sein Wirken war bekannt, trotzdem wurde er auf Vorschlag der Fakultät 1954 auf den Lehrstuhl für Kinderheilkunde berufen und erst auf Druck der Öffentlichkeit 1960 in den Ruhestand versetzt. Jubiläumsschriften sowie medizinische Doktorarbeiten zu Kliniken und Instituten der Kieler Medizinischen Fakultät verschwiegen bis weit in die 90er-Jahre hinein vollständig die peinlichen Verstrickungen der jeweiligen Klinik bzw. des Instituts; auch danach war mit Ausnahme einiger weniger Publikationen eine angemessene Bearbeitung des Schwerpunktes Nationalsozialismus nicht festzustellen. Hans-Werner Prahls 1995 erfolgte Feststellung hierzu soll hier Erwähnung finden: "Die Leitungen der Universität wie auch die Mehrzahl ihrer ProfessorInnen haben [...] bislang nur wenig Anstalten zur Erforschung dieses Zeitabschnittes gemacht - ja: eher durch Verschweigen und Verhindern (und dazu mag auch die Nichtbeantragung von Forschungsmitteln, Verzicht auf einschlägige Lehrveranstaltungen und Qualifikationsarbeiten, 'Schönreden' der Leistungen von nationalsozialistisch belasteten Kollegen oder die systematische Ausblendung dieses Zeitraumes gehören) und allein durch Zeitablauf (wertvolle Quellen und Zeitzeugen stehen nicht mehr zur Verfügung) zur Unkenntnis über die NS-Zeit der Kieler Universität gewollt oder ungewollt beigetragen."

Die Umstände erlaubten es zwar, aber der Wille war nicht da und die Pflicht wurde vielleicht anfangs auch nicht erkannt. Die Vergangenheit wurde von der Kieler Medizinischen Fakultät nicht aufgearbeitet, konnte vielleicht zunächst auch in Anbetracht der herrschenden Personen nicht aufgearbeitet werden. Insofern ist es eine lange überfällige, begrüßenswerte und positive Tatsache, dass sich das Bewusstsein in den letzten Jahren langsam zu ändern beginnt. Neben der Rolle der Kieler Medizinischen Fakultät in der Zeit des "Dritten Reiches" sollte heute auch zunehmend die in der Nachkriegszeit entstandene, durch Verschleierung der Fakten, Vernichtung von Unterlagen, Geschichtsklitterung, Verleumdung und Rechtsbeugung angehäufte moralische Verantwortung gegenüber den Opfern des "Dritten Reiches" in den Vordergrund der Betrachtung treten. Denn diese Vorgänge sind noch unzureichend erforscht und von großer Bedeutung für die Nachkriegsgeschichte und damit auch für unsere heutige Zeit. Hier besteht ein Desiderat in der Forschung, das beachtet werden sollte, um nicht erneut dem Verschweigen zum Opfer zu fallen. Das in diesem Jahr stattfindende 350-jährige Jubiläum der Christian-Albrechts-Universität mit seiner Vielzahl von Veranstaltungen müsste hierfür neben dem Ausdruck des Stolzes über manches Erreichte angemessene Gelegenheit bieten, wenn hierfür Einsicht und Wille vorhanden ist.


Literatur beim Verfasser:
Dr. med. Dr. phil. Karl-Werner Ratschko, Havkamp 23, Bad Segeberg


Infos

- Hanns-Gerhard Creutzfeld fügte sich dem Regime und profitierte von dessen Maßnahmen.
Er wollte die Ermordung seiner Patieten nicht. Sein Einfluß auf das Geschehen war begrenzt.
Er versuchte nach dem Krieg Augenhöhe zwischen Tätern und Opfern herzustellen. Gefragt war aber Demut.

- Anatom Enno Freerksen schreckte aus Karrieregründen vor keinem Engagement während der NS-Zeit zurück.
Ohne Menschen wie ihn hätte das "Dritte Reich" seine Wirkung nicht entfalten können.
Es gibt keinen Hinweis, dass er eine moralische Verantwortung für sich erkannt hat.

- Es gab nach anfänglichen Irritationen keine in Quellen sich widerspiegelnde Opposition der Medizinprofessoren. Die nationalsozialistische Rassenideologie fand nicht nur Zustimmung, sondern praktische Unterstützung.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 2/2015 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2015/201502/h15024a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
68. Jahrgang, Nr. 2/2015, Februar 2015, Seite 22 - 24
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. April 2015

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