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GESCHICHTE/591: Ärzte in der NS-Zeit - Der Sündenfall des Alfred Schittenhelm (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 3/2015

Ärzte in der NS-Zeit
Der Sündenfall des Alfred Schittenhelm

Von Karl-Werner Ratschko


Die Medizinische Fakultät Kiel auf dem Weg zu einer nationalsozialistischen Musterfakultät 1933/34.


Das Ausmaß der auf die Medizinische Fakultät Kiel zukommenden Veränderungen durch die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler wurde von den Protagonisten der Kieler Medizinischen Fakultät nicht wahrgenommen. In Fragen der praktischen Politik waren die Medizinprofessoren weitgehend unerfahren, aber wenn es die Situation erforderte, durchaus bereit zu Anpassungen. Die politischen Veränderungen wurden zunächst nicht in ihrer Dynamik, Dramatik und ihren Auswirkungen auch auf die Fakultät erkannt. Es bestand die Auffassung, dass es mit einigen Anpassungen und Veränderungen so weiter gehen könnte wie bisher. Nicht anders ist es zu erklären, dass noch am 6. Februar 1933 wie vorgesehen der altehrwürdige 67-jährige Pathologe Leonhard Jores ein Jahr vor seiner Emeritierung zum Dekan gewählt wurde. Es war noch nicht erkannt worden, dass die nationalsozialistische Machtübernahme mit den immer unruhiger werdenden Studenten und den ständigen Angriffen der Nationalsozialisten auf Universität und Fakultät Führungskraft benötigte, die von Jores nicht mehr erwartet werden konnte. Nur mit einer vollständigen Neuorientierung waren angemessene Antworten auf die sich anbahnenden radikalen Veränderungen zu finden.

Fakultät im Übergang

Studententerror in SA- und SS-Uniform gegen missliebige Lehrkräfte, antisemitische Ausschreitungen gegen Universitätsmitglieder, die zunehmende Macht der Vertreter von Dozenten und Studenten, das dem Nationalsozialismus wohlgesonnene Verhalten einzelner Ordinarien u. a. m. in den nächsten Monaten überzeugten auch die Medizinprofessoren, dass eine geeignete Antwort gefunden werden musste. Als der preußische Kultusminister, der Nationalsozialist Berhard Rust, Ende April 1933 u. a. eine Neuwahl der Rektoren verbunden mit einer neuen Besetzung der Fakultätsführung anordnete, schien eine Lösung greifbar. Die Medizinische Fakultät zog offensichtlich gut abgestimmt in ihrer nur 15 Minuten dauernden Sitzung am 28. April 1933 die Konsequenzen aus den Entwicklungen. Neu zum Dekan - Jores hatte das Amt noch nicht angetreten, da der Wechsel in der Kieler Medizinischen Fakultät traditionell jeweils am 24. Juni erfolgte - wurde der nationalsozialistisch fühlende und schon viele Jahre für die Rassenhygiene eintretende knapp 51-jährige Hygieniker Hermann Dold gewählt. Leonard Jores war nicht mehr die geeignete Persönlichkeit und wurde bei der Neuwahl ohne Rücksicht auf die damit verbundene persönliche Kränkung übergangen. Dold hatte anlässlich der Reichsgründungsfeier am 18. Januar 1931 ein Referat mit dem Titel "Wie steht es um den deutschen Volkskörper?"(1) gehalten, in dem er seine Auffassung über Minderwertigkeit und Erbkrankheit wie auch die Forderung, im Hinblick auf "minderwertiges erbkrankes Leben [...] den Mut aufzubringen, nicht bloß zu hegen und zu pflegen, sondern auch zu roden und zu jäten"(2) zum Ausdruck gebracht hatte. Auch die Mitunterzeichnung des Aufrufs "Deutsche Hochschullehrer für Adolf Hitler! Erklärung deutscher Universitäts- und Hochschullehrer" im Völkischen Beobachter vom 5. November 1932 durch ihn zeigt ebenso wie sein Eintritt in die NSDAP zum 1. Mai 1933, dass sein Herz für die Nationalsozialisten schlug. Mit der Wahl Dolds zum Dekan war es der Fakultät offenbar zunächst gelungen, ihre Autonomie weitgehend zu bewahren und dem nationalsozialistischen Regime nur insoweit nachzugeben, als es unvermeidlich schien.

Bestanden im April 1933 bei der Wahl des Dekans noch halbwegs demokratische Verhältnisse, so änderte sich dies im November 1933, als im Zuge weiterer nationalsozialistischer Neuregelungen der Rektor der Universität vom preußischen Kultusminister und die Dekane vom Rektor ernannt wurden. Die Besetzung der Positionen änderte sich hierbei in der Kieler Medizinischen Fakultät nicht. Hermann Dold erhielt jedoch dann einen Ruf nach Tübingen. Für seine Nachfolge legte sich die Fakultät im Februar 1934 auf einen Dreiervorschlag fest, in dem an erster Stelle neben dem Anatomen Alfred Benninghoff sowie dem Pharmakologen Fritz Külz, die beide dem nationalsozialistischen Regime nicht nahestanden, an zweiter Stelle das NSDAP-Mitglied Robert Schröder, Direktor der Universitätsfrauenklinik, genannt wurde. Schröder wurde dann - nicht ganz überraschend - vom Rektor zum Dekan der Medizinischen Fakultät ernannt.(3) Prodekan blieb Külz. Auch der Nachfolger Dolds war als Repräsentant der Medizinischen Fakultät Kiel gegenüber den nationalsozialistischen Machthabern vorzeigbar. Geboren wurde Robert Schröder am 3. August 1884 in Rostock, dort wurde er 1909 promoviert und war dann Assistent in der Pathologie in Köln und ab 1911 in der Universitätsfrauenklinik Rostock. 1914 erfolgte die Habilitation und Ernennung zum Oberarzt, 1921 wurde er a. o. Professor. Am 1. Oktober 1922 wurde er als Nachfolger von Walter Stoeckel, der nach Leipzig ging, ordentlicher Professor für Geburtshilfe und Gynäkologie in Kiel. Schröder war Mitunterzeichner eines Aufrufs im Völkischen Beobachter vom 3. März 1933, mit dem für die Wahl Hitlers votiert wurde, und ab 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP, ferner des SA Motorsturms und des NS-Ärztebundes, übte jedoch nach eigenen Angaben "keine aktive politische Betätigung" aus.(4) Obwohl er Parteimitglied war, gab er den Erfordernissen der Hochschule Vorrang vor Angelegenheiten der NSDAP. Zu seinen Schülern gehörten u. a. der später wegen unmenschlicher Sterilisationsversuche an weiblichen Häftlingen im Vernichtungslager Auschwitz und dem KZ Ravensbrück bekannt gewordene Gynäkologe Carl Clauberg und der engagierte nationalsozialistische Heidelberger Ordinarius für Frauenheilkunde Hans Runge.

Die Rolle Schittenhelms als Wegbereiter des Nationalsozialismus

Die Gleichschaltung der Medizinischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität verlief nach Vorstellung der neuen Machthaber überhaupt nicht reibungslos. Sie war erst mit der Einsetzung von Hanns Löhr als Dekan abgeschlossen. Für Sand im Getriebe des sich etablierenden nationalsozialistischen Regimes sorgten Angehörige des Lehrkörpers, die sich in der Illusion wiegten, durch teilweises Einschwenken auf den Kurs der neuen Regierung die Freiheitsräume von Universität und Fakultät bewahren zu können. Hierzu gehörten auch Lehrstuhlinhaber. Sie waren als Lebenszeitbeamte sowieso und zusätzlich auch in ihrer Masse wenig angreifbar, weil das Regime zunächst bemüht war, einen Anschein von Rechtmäßigkeit in ideologisch nicht im Vordergrund stehenden Bereichen zu wahren und es auch einen Mangel an fachlich geeigneten, dem Regime ergebenen Personen gab. Da sich 1933 selbst die nationalsozialistisch engagierten Kieler Medizinprofessoren in erster Linie als Hochschullehrer und erst in zweiter Linie als NSDAP-Mitglieder empfanden, gab es direkt nach der Machtübergabe kaum Möglichkeiten für die nationalsozialistischen Parteistrategen, ihren Einfluss in der Medizinischen Fakultät Kiel über das hinaus auszubauen, was ihnen die Fakultät und ihre maßgeblichen Mitglieder gewähren wollten. Dies war für die Führungsriege um den Reichsärzteführer Gerhard Wagner nicht akzeptabel. Es wurden Wege gesucht, um möglichst ohne größere Friktionen die für das Regime und die ideologischen Zielsetzungen der NSDAP so wichtigen Hochschulmediziner zu gewinnen oder - wenn das schon nicht möglich sein sollte - arbeiten zu lassen.(5) Wichtig war ihnen dabei, dass besonders im Jahr 1933 möglichst wenig Unruhe im Volk durch unpopuläre Veränderungen entstehen sollte, da Reichspräsident und Reichswehr noch durchaus die Möglichkeit gehabt hätten, dem NS-Regime ernsthafte Schwierigkeiten zu bereiten. So wurden von den NS-Größen 1933 die Akteure der "nationalen Revolution", zu denen auch die Kieler Studenten gehörten, nicht ohne Sorgen gesehen. Die nationalsozialistischen Studenten, die in Kiel in der Freien Studentenschaft die Führung übernommen hatten, halfen andererseits den neuen Machthabern mit studentischen Terrormaßnahmen wie Institutsbesetzungen, Bedrohung von missliebigen Professoren und anderen Personen der Universitätsverwaltung bis hin zur spektakulären Bücherverbrennung und schufen ein Klima der Angst, das der Akzeptanz der aus dem "Braunen Haus", der Zentrale der NSDAP in München, und dem nationalsozialistischem preußischen Kultusministerium kommenden Umstrukturierungsmaßnahmen mit Einführung des Führerprinzips den Weg ebnete.

Die Übernahme der Führung in den Medizinischen Fakultäten durch Nationalsozialisten gestaltete sich trotzdem zunächst schwierig bis nahezu unmöglich und erforderte in jedem Einzelfall besondere Maßnahmen. Hier lieferte der angesehene Direktor der Medizinischen Universitätsklinik Kiel, Alfred Schittenhelm, mittlerweile überzeugter Nationalsozialist, den Hebel für die NS-Strategen in München. Schittenhelm hatte bis 1933 keine in den Quellen ersichtliche Affinität zu den Nationalsozialisten erkennen lassen, bot ihnen jedoch nun die Möglichkeit, ihren Einfluss in der Medizinischen Fakultät Kiel so auszubauen, wie es in den nächsten Jahren in keiner anderen Medizinischen Fakultät gelingen sollte. Schittenhelm, geboren am 16. Oktober 1874 in Stuttgart, Dr. med. 1898 in Tübingen, Assistenzarztzeiten in Stuttgart und Breslau, Habilitation 1904 in Göttingen, 1907 a. o. Professor in Erlangen, wurde 1912 ordentlicher Professor in Königsberg, dann 1915 in Kiel.(6) Aufgrund seiner Funktion als Militärarzt, zuletzt mit dem Dienstgrad Generaloberarzt und Beratender Internist, stand er in Kiel erst im Dezember 1918 zur Verfügung. Er hatte bereits 1933 den Höhepunkt seines Berufslebens erreicht. Berufungen nach Leipzig (1924), Wien (1930) und Berlin (1932),(7) alles Universitäten, die nach damaliger Auffassung die Kieler Universität an Größe, Bedeutung und Ansehen übertrafen, hatte er abgelehnt,(8) nachdem er "unerfüllbare Forderungen" gestellt hatte.(9) Er wusste also, was er an seiner großen, gerade erst in ein stattliches neues, voll renoviertes Gebäude verlegten Medizinischen Klinik in Kiel hatte. Im Mai 1933 trat er in die NSDAP ein.(10) Nicht, um seine Zukunft zu sichern, sondern aus der inneren Überzeugung, dass in der verfahrenen Situation der Weimarer "Präsidialrepublik" nur die Nationalsozialisten in der Lage sein würden, dem in politischer und wirtschaftlicher Agonie befindlichen Deutschland wieder zu neuer Kraft und neuem Ansehen zu verhelfen. Bei der Eröffnung des 45. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin nur einen Monat nach seinem Eintritt in die NSDAP bekannte er sich öffentlich "zur neuen Regierung und den rassehygienischen Bestrebungen der neuen Zeit".

Wie ein Faustschlag muss es gewirkt haben, als am 29. Januar 1934 in der Fakultät bekannt wurde,(11) dass Schittenhelm einen Ruf nach München angenommen hatte. Die Gründe dafür ließen sich zunächst nicht so recht erschließen. Er hatte schließlich schon mehrere ehrenvolle Rufe abgelehnt, auch war die 2. Medizinische Klinik in München kaum mit der Kieler Medizinischen Klinik an Größe, Ansehen und Infrastruktur zu vergleichen. Hinzu kam, dass ihn die Medizinische Fakultät in München nicht wollte. Er war ihr mit 59 Jahren zu alt, seine wissenschaftliche Ausrichtung als "Labormediziner" sowie die Ergebnisse seiner Arbeiten überzeugten dort nicht. Die Erklärung findet sich in Aktivitäten des Reichsärzteführers Gerhard Wagner, möglicherweise sogar Heinrich Himmlers. Schittenhelm wurden vonseiten der Reichsärzteführung der Ausbau und die Modernisierung der den alltäglichen klinischen Bedürfnissen kaum noch gerecht werdenden 2. Medizinischen Klinik am Allgemeinen Krankenhaus in München sowie die Direktorenstelle für das gesamte Klinikum, Zuwendungen für Forschungsprojekte vonseiten der Stadt München und auch aus Reichsmitteln in Aussicht gestellt und nicht zuletzt auch tatkräftige Hilfe beim Aufbau einer Abteilung für "Erbpflege und Erbforschung" versprochen.(12) Im Mai 1934 wechselte Schittenhelm nach München. Die Belohnung Schittenhelms durch Himmler erfolgte umgehend durch die Verleihung hoher SS-Ränge wie 1935 der des SS-Sturmbannführers, 1937 des SS-Obersturmbannführers sowie 1938 des SS-Standartenführers. Später im Krieg erfolgte dann die Beförderung zum SS-Brigadeführer. Er erhielt repräsentative Auszeichnungen der SS, wie z. B. den Totenkopfring, den Ehrendegen und den Julleuchter.(13) In einer Parteibeurteilung von 12. Januar 1939 hieß es über ihn, dass er "ein sehr guter Nationalsozialist und in politischer Beziehung vollkommen einwandfrei" sei.(14) Von der im Dienst der nationalsozialistischen Weltanschauung stehenden Deutschen Forschungsgemeinschaft wurde ihm im Rahmen seiner rassenhygienischen Forschung 1938 eine Kartei der erbkranken Familien, ferner ein einschlägiges Bild- und Filmarchiv finanziert.(15) Ansonsten wurden die ihm gemachten Versprechungen nicht gehalten: Mittel für die Modernisierung der 2. Medizinischen Klinik einschließlich der dringenden baulichen Sanierung von Infektions- und Quarantänestationen gab es nicht, die noch 1935 gegründete Abteilung für "Erbpflege und Erbforschung" war auf Drittmittel angewiesen und ständig in ihrer Existenz bedroht,(16) was sich letztlich dann auch so auswirkte, dass wie auch immer geartete wissenschaftliche Ergebnisse zur Erb- und Rassenforschung von Schittenhelm in der gesamten Zeit bis zur kriegsbedingten Schließung der Abteilung im Jahr 1939 nicht publiziert wurden.(17) 1944 gehörte Schittenhelm zum Führungskreis des NS-Dozentenbundes. Ende Juni 1945 wurde Schittenhelm im Auftrag der amerikanischen Militärregierung seines Amtes enthoben und im alliierten Auffanglager Moosburg inhaftiert. Ein Prozess vor der Spruchkammer München I führte Mitte 1947 zur Einstellung des Verfahrens. Schittenhelm wurde bescheinigt, dass er nicht ganz frei von Schuld gewesen sei, sich aber doch bemüht habe, die Mitschuld durch "gute Handlungen" auszugleichen. 1949 wurde er wieder als ordentlicher Professor eingesetzt, für den mittlerweile 75-Jährigen bestand damit die Möglichkeit, auch seine vollen Rechte als Emeritus in Anspruch zu nehmen. Die Universität Kiel ernannte ihn 1951 zum Ehrensenator. Die an dem Gebäude "seiner" Kieler 1. Medizinischen Klinik verlaufende Straße trägt bis heute als "Schittenhelmstraße" seinen Namen. Verstorben ist Schittenhelm am 27. Dezember 1954 in Rottach-Egern.

Die Folgen für die Kieler Medizinische Fakultät

Schittenhelm ermöglichte mit seinem Wechsel nach München den Strategen des NS-Hochschulausschusses in München, eine Bresche in die bis dahin nur schwer unter Einfluss zu bekommende Medizinische Fakultät Kiel zu schlagen, die, wie sich dann bald herausstellen sollte, nicht wieder geschlossen werden konnte. Er schuf den Platz für seinen als Hochschullehrer überhaupt nicht profilierten, als Chefarzt einer Internistischen Abteilung eines Regionalkrankenhaus hauptsächlich durch seine NS-Aktivitäten bekannt gewordenen Schüler Hanns Löhr, der die Aufgabe übernehmen sollte, als nationalsozialistischer "Rammbock" auch innerhalb der Kieler Medizinischen Fakultät den Einfluss der NSDAP so zu festigen, dass sie ähnlich wie es damals für die Kieler Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät beabsichtigt war, zu einer NS-Musterfakultät der "Grenzuniversität Kiel" werden konnte.

Er war zweifellos der Auslöser für die kompromisslose Gleichschaltung der Medizinischen Fakultät Kiel, die in dieser Härte anderen Medizinischen Fakultäten in Deutschland zunächst erspart geblieben war.(18) Ohne ihn hätten es die Nationalsozialisten sehr viel schwerer gehabt, ihren Einfluss bei den Kieler Medizinern auszubauen, da es ihnen 1933/34 in fast allen medizinischen Fächern an berufungsfähigem Nachwuchs mit Durchsetzungsvermögen und fester Bindung an die NS-Ideologie fehlte. Wie sehr die aus nationalsozialistischer Sicht unbefriedigende Situation auch für das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung schwer hinzunehmen war, ist einem Vermerk vom Juni 1934 aus dem Ministerium zu entnehmen: "[...] Die schwierigen Kieler Verhältnisse erfordern auf jeden Fall ein energisches und schnelles Handeln."(19)

Dem Ministerium war nicht verborgen geblieben, dass die Kieler Medizinische Fakultät zwar eine direkte Konfrontation vermied, ansonsten jedoch versuchte, ihre Hochschulinteressen so weit wie irgend möglich auch gegen den Willen höherer Dienststellen, vor allem auch gegenüber den Machtansprüchen des NS-Regimes zu wahren. Dazu gehörte, dass seitens der Fakultät alle vertretbaren Mittel eingesetzt wurden, um die Berufung von NS-ideologisch genehmen, aber fachlich nicht ausgewiesenen Hochschullehrern zu verhindern. War die Nachfolge des wegen seiner jüdischen Mutter im Herbst 1933 in den vorzeitigen Ruhestand versetzten Höber schon zu einem Balanceakt zwischen Fakultät und Ministerium geworden mit dem Ergebnis, dass das Ministerium am längeren Hebel saß und die Berufung des Berliner NS-Physiologen Holzlöhner gegenüber der Fakultät durchsetzte, so sollte die Nachfolge auf dem Lehrstuhl Schittenhelms zu einem Ringen zwischen den Kieler Medizinprofessoren, dem Ministerium und der NS-Hochschulkommission werden. Dabei ging es nur vordergründig um die Besetzung des Lehrstuhls für Innere Medizin in Kiel, tatsächlich aber zum einen um die Schaffung von "Ordnung" in der Kieler Medizinischen Fakultät durch die Einsetzung eines über jeden Zweifels erhabenen Vertreters des NS-Regimes, zum anderen auch um ein Ringen um die Machtverteilung zwischen Ministerium und NS-Hochschulkommission, das die Hochschulkommission in diesem Fall eindeutig für sich entscheiden sollte.(20)

Am 11. Mai 1934 befasste sich der Fakultätsausschuss mit der Nachfolge Schittenhelms. Die schnelle Besetzung des wichtigen Lehrstuhls für Innere Medizin war ein besonderes Anliegen der Fakultät. So verwundert es nicht, dass in dieser Sitzung schon ein Vorschlag durch eine Kommission vorlag, die ohne Beteiligung des Fakultätsausschusses durch den Dekan berufen worden sein musste. Ein im Protokoll nicht näher spezifizierter Protest des Professors für Anthropologie Otto Aichel gegen das Verfahren zur Besetzung der Kommission ist besonders bemerkenswert, da abweichende Positionen zu Verfahren selten im Protokoll wiedergegeben wurden. Die namentlich nicht näher beschriebene Kommission schlug für den 1. Platz Max Ferdinand Bürger und Hermann Straub, für den 2. Platz der Liste Herbert Assmann und Wilhelm Nonnenbruch vor. Der Name des später berufenen Hanns Löhr war in der Liste der Fakultät nicht enthalten. Der als Anthropologe habilitierte Dozentenführer Lothar Löffler hatte jedoch andere Vorstellungen und meldete als Kandidaten für den 3. Platz den ehemaligen Mitarbeiter Schittenhelms und politisch aktiven nationalsozialistischen Parteigenossen Hanns Löhr an. Der Fakultätsausschuss folgte ihm nicht. Die auf dem Dienstweg über Rektor und Kurator an das Ministerium gehende Dreierliste sollte nach Beschluss der Fakultät wie folgt zusammengesetzt sein: 1. Bürger/Bonn, 2. Straub/Göttingen, 3. Nonnenbruch/Prag. Der Vorschlag der Dreierliste war noch mit einem Nachsatz versehen, der wegen der Aufforderung des Ministeriums, eine Stellungnahme zur Persönlichkeit des Herrn Dr. med. Hanns Löhr abzugeben, erstellt worden war. Die Fakultät stellte sich dieser Aufgabe mit großem Geschick. Auf den ersten zwei Seiten ihrer Stellungnahme werden positiv klingende fachliche Würdigungen über Löhrs Tätigkeit in Kiel und in Bethel gefunden. Dann geht es weiter mit seinen Aktivitäten in der SA und als "alter Kämpfer". Wörtlich wird in dem Schreiben an das Preußische Kultusministerium zum Schluss ausgeführt: "[...] Aufs höchste anerkannt wird, dass er sich durch volles persönliches Einsetzen in der S.A. und der Durchkämpfung der nationalsozialistischen Gedanken während der Kampfzeit größte Verdienste erworben hat. Es muss weiter gesagt werden, dass solche Persönlichkeiten für die Erziehung der Studenten von größtem Nutzen sind. Die Aufgabe der Fakultät ist aber in erster Linie die Betreuung von Wissenschaft, Forschung und Lehre, im Falle der Medizinischen Klinik sind diese Aufgaben ganz besonders hoch. Unter aller Wertschätzung der bisherigen Leistungen des Herrn Löhr glaubt die Fakultät nicht, ausreichende Gewähr dafür zu haben, dass er die besonderen hiesigen Ansprüche ohne den Durchgang durch eine weniger verantwortungsvolle Lehrbetätigung erfüllen kann."(21) Unter den gegebenen Umständen konnte eine Ablehnung Löhrs nicht deutlicher ausfallen. Auf weitere sich im Hintergrund entwickelnde Aktivitäten zur Verhinderung der Berufung Löhrs, in die neben dem Direktor der Augenklinik Leopold Heine dessen Tochter Lisa wie auch der Fachschaftsleiter der Kieler Klinikerschaft, cand. med. Alkmar von Kügelgen, verwickelt waren, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. In Anbetracht der den Machtwechsel in Kiel betreibenden übermächtigen nationalsozialistischen Kräfte können sie auch nur als Ausdruck einer zwar tapferen, aber fast verzweifelten Hilflosigkeit gewertet werden.

Hanns Löhr wurde zum 1. August 1934 auf den Lehrstuhl für Innere Medizin berufen und zum Direktor der Klinik für Innere Medizin ernannt.(22) Schon im Mai des Folgejahres wurde er Dekan der Medizinischen Fakultät, zum Wintersemester 1936/37 für ein Jahr Prorektor der Universität.


Literatur beim Verfasser:
Dr. med. Dr. phil. Karl-Werner Ratschko,
Havkamp 23, 23795 Bad Segeberg


INFOS

- Die Verantwortlichen in der Medizinischen Fakultät waren 1933 zu Anpassungen bereit.
- Das Ausmaß der Veränderungen und ihre Auswirkungen auf die Fakultät wurden von ihnen nicht erkannt.
- Die Gleichschaltung der Fakultät verlief nicht reibungslos und wie von den Machthabern gewünscht.

- 1933 fühlten sich selbst nationalsozialistisch gesinnte Medizinprofessoren noch vorrangig als Hochschullehrer.
- Nationalsozialistische Studenten halfen den neuen Machthabern mit Terrormaßnahmen.
- Mithilfe Schittenhelms wurde der NS-Einfluss in der Medizinischen Fakultät massiv ausgebaut.

- Schittenhelm war SS-Brigadeführer und Träger zahlreicher SS-Auszeichnungen.
- 1947 wurde ein Prozess gegen ihn eingestellt.
1949 wurde Schittenhelm wieder als ordentlicher Professor eingesetzt.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Schittenhelm-Foto: Jahrbuch der Schleswig-Holsteinischen
Universitätsgesellschaft 24 (1928)


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 3/2015 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2015/201503/h15034a.htm

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www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
68. Jahrgang, März 2015, Seite 26 - 28
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. April 2015

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