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UMWELT/635: Tschernobyl, Fukushima I und die Vertuschung der Folgen (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 15 vom 15. April 2011
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Atomindustrie knebelt Weltgesundheitsorganisation

Tschernobyl, Fukushima I und die Vertuschung der Folgen

Von Hans-Peter Brenner


In bemerkenswerter Sachlichkeit informierte das wöchentlich erscheinende Organ der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Deutschen Ärztekammer "Deutsches Ärzteblatt" am 1. April über die medizinischen Folgen von Reaktorunfällen wie die von Tschernobyl und Fukushima I. Entgegen viel zu häufig anzutreffenden Verharmlosungen und/oder Dramatisierungen bemüht sich der Beitrag um eine sachlich-kritische Analyse. Dabei treten politische Verflechtungen zwischen der Atomindustrie, der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der UNO-Kommission UNSCEAR (United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation - Wissenschaftliches Komitee der UNO zu den Auswirkungen atomarer Verstrahlung) zutage, die belegen, wie sehr die Atomindustrie alle kritischen Ereignisse und Daten vertuscht und manipuliert.


UNO-Kommission: Tschernobyl-Super-Gau nur "halb so schlimm"?

UNSCEAR legte seit 2001 fortlaufende Studien zu den gesundheitlichen Folgewirkungen der Reaktorkatstrophe in der früheren Sowjetunion vor. Die aktuellste, 178 Seiten umfassende Analyse umfasst die Daten von mehr als 500.000 Arbeitern, die während und nach dem Unfall vergleichsweise hohen Dosen an radioaktiver Strahlung ausgesetzt waren. Außerdem wurden epidemiologische Daten über die radioaktive Belastung der Schilddrüse von circa 100 Millionen Menschen berücksichtigt.

Vom Tschernobyl-Super-Gau wurde unmittelbar eine Fläche von 150.000 Quadratkilometern (das ist ein Gebiet, das etwa der Größe der Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz entspricht) mit Radionukliden kontaminiert.

Mehr als 330.000 Menschen, die nahe dem Reaktor lebten, mussten evakuiert werden. Zusätzlich waren in Europa weitere 45.000 Quadratkilometer Landfläche - regional unterschiedlich intensiv - der Strahlung durch Iod-131, Caesium-134 und Caesium-137 ausgesetzt. Radioaktive Niederschläge waren "in allen Ländern der nördlichen Hemisphäre messbar", heißt es im UN-Bericht.


Tschernobyl-Daten, die für sich sprechen

Insgesamt wurde eine Strahlungsmenge von über 2 mal 1018 (20 Trilliarden!!!) Becquerel verteilt. Ein Becquerel entspricht der Aktivität einer radioaktiven Substanz pro Sekunde; dies entspricht akustisch einem "Knacks" pro Sekunde bei einem Geigerzähler.

Was waren die Folgen? UNSCEAR unterscheidet zwischen akuter Strahlenbelastung unmittelbar am Ort der Katastrophe, der die Arbeiter und das Rettungspersonal ausgesetzt waren und der chronischen Niedrigbestrahlung, der die Bevölkerung dauerhaft ausgesetzt ist.

In Tschernobyl starben die meisten Arbeiter, nachdem sie einer Ganzkörperstrahlendosis von mehr als 4.000 Millisievert (mSv) ausgesetzt waren. Insgesamt waren zur Zeit des Super-GAU am Reaktor 124 Menschen beschäftigt. Am folgenden Tag waren es 600. Von diesen 600 verstarben laut UNO 28 innerhalb der ersten drei Monate an den direkten Folgen der Strahlenlast.

Weitere 106 entwickelten eine akute Strahlenkrankheit und mussten jahrelang wegen Verbrennungen, Infektionen und Hautkrankheiten behandelt werden. Bis 2006 starben weitere 19 Personen aus diesem Personenkreis - angeblich aber aus "unterschiedlichen, nicht unbedingt mit der Strahlung" verursachten Folgen.


Unglaubwürdige Angaben über Langzeit-Folgeschäden

Bis heute war die gewaltige Anzahl von 530.000 (!!!) "Liquidatoren" vor Ort im Einsatz. Der UNSCEAR-Bericht gibt an, dass bei diesen 530.000 Liquidatoren lediglich "leicht erhöhte Raten an Leukämie und Katarakten (Trübungen der Augenlinse) aufgetreten seien.

Für die "allgemeine Bevölkerung" sei bislang ein erhöhtes Krebsrisiko kaum auszumachen. Es gebe lediglich Hinweise auf einen Anstieg von Schilddrüsenkrebs; 6.000 Fälle seien "gesichert", aber es habe deshalb insgesamt nur 15 Todesfälle gegeben. Eine jüngst am Institut für Endokrinologie und Stoffwechsel der Universität Kiew vorgelegte Studie mit den Daten von 13.000 Kindern und Jugendlichen spreche von lediglich 65 Schilddrüsenkrebserkrankungen.

Diesen Angaben von UNSCEAR widersprechen entschieden Mitglieder der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Organisation "Internationale Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs in sozialer Verantwortung" (IPPNW). In 2006 hatten IPPNW-Ärzte gemeinsam mit der Gesellschaft für Strahlenschutz ganz andere Daten erhoben. Deren Präsident, Dr. Sebastian Pflugbeil, sagte dieser Tage: "Sowohl die Regierungen in Russland, Weißrussland und der Ukraine als auch die Atomkraftwerke betreibenden Staaten des Westens und die relevanten Organisationen der Vereinten Nationen haben kein Interesse an einer umfassenden und öffentlich überprüfbaren Erforschung der Tschernobylfolgen."

Und Angelika Claußen von der IPPNW erklärte gegenüber dem "Deutschen Ärzteblatt": "Wir befürchten eine Interessenkollision mit der IAEA, die die Risiken der Atomenergie seit Jahren herunterspielt."

Die scheinbar so relativ "verträglichen" UNO-Daten riefen auch andere internationale Kritiker auf den Plan. Der Schweizer Strahlenbiologe Roland Scheidegger vom "Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat" monierte, dass die Datenlage insgesamt zu Tschernobyl ungewöhnlich "schlecht" sei, weil es gar kein Krebsregister gebe, anhand dessen überhaupt Datenvergleiche erst möglich wären.

Die IPPNW verweist auf noch weitere Kritiker, z. B. auf den Biologen Alexej Jablokow von der Russischen Akademie der Wissenschaften. Er geht von langfristig 900.000 bis 1,8 Millionen Toten weltweit im Gefolge der Tschernobyl-Katastrophe aus.

Wer meint, dass dies ein viel zu pauschaler Vorwurf sei, muss sich eines Besseren - bzw. eines Schlechteren - belehren lassen.


UN-Kommission am Gängelband der Atomindustrie

Die IPPNW deckte jetzt auf, dass die gesundheitlichen Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl von der UNO bewusst so klein gerechnet werden. Eine Erklärung für die verharmlosenden Angaben der UNSCEAR lasse sich bereits finden, wenn man die Aufgabe und personelle Zusammensetzung von UNSCEAR betrachtet.

UNSCEAR war 1955 mit der Aufgabenstellung gegründet worden, "in angemessener und nützlicher Form ... über beobachtete Pegel von ionisierender Strahlung und Radioaktivität in der Umwelt und ... über wissenschaftliche Ergebnisse zu den Effekten von ionisierender Strahlung auf den Menschen und die Umwelt" zu berichten."

UNSCEAR setzt sich aus Wissenschaftlern zusammen, welche die Regierungen von 21 Staaten bestimmen, die Atomwaffen besitzen bzw. an der Nutzung der Atomenergie starkes Interesse haben. Sie entsenden jeweils einen Wissenschaftler als Repräsentanten dieses Staates als Mitglied von UNSCEAR. Die Regierungen können weitere Wissenschaftler als Berater entsenden.

Damit ist klar, dass in diesem Gremium nicht unabhängige Wissenschaftler und Fachleute entscheiden, sondern die weisungsgebundenen Abgesandten von Regierungen, die deren pronukleare Interessen vertreten. So erkläre sich auch z. B., dass Prof. Mettler für die USA, Prof. Iljin für Russland und viele andere, die bereits 1991 beim Internationalen Tschernobyl-Projekt mit falschen Behauptungen die Weltöffentlichkeit getäuscht haben, weiterhin als Vertreter ihrer Staaten im UNSCEAR-Komitee sitzen und die Tschernobyl-Folgen bagatellisieren.

Die Weltöffentlichkeit wird in dem Irrglauben gehalten, die Feststellungen von IAEA und von UNSCEAR gingen auf die Untersuchungen verschiedener, voneinander unabhängiger Experten zurück. In Wirklichkeit handelt es sich um identische Personen, die als Abgesandte ihrer Regierungen klaren Vorgaben und Interessen unterliegen und diese in dem UNO-Komitee auch vertreten.

Doch auch das ist nicht alles.


Knebelvertrag mit der WeltgesundheitsorganisationWHO

In der IPPNW-Stellungnahme wird von einem "Knebelvertrag" gesprochen, den die Atomlobby der IAEO der Weltgesundheitsorganisation - WHO - verpasst habe.

Die in Sachen Tschernobyl und Fukushima I so auffallend unauffällig auftretende Weltgesundheitsorganisation WHO, die bislang den fortgesetzt unrichtigen Behauptungen der UN-Organisationen IAEA und UNSCEAR nicht widersprochen hat, trägt einen regelrechten Maulkorb. Zwischen der Internationalen Atomenergieagentur IAEA und der Weltgesundheitsorganisation WHO besteht nämlich ein Vertrag über die Art des gegenseitigen Umgangs [Res. WHA 12/40 vom 28. 05. 1959].

Darin haben die IAEA und die WHO u. a. vereinbart:

Art. I.1: "... sie werden in enger Zusammenarbeit miteinander handeln und werden sich regelmäßig in Angelegenheiten des gemeinsamen Interesses konsultieren."

Art. I.2: "... wird es von der WHO anerkannt, dass die IAEA vor allem die Aufgabe hat, Forschung, Entwicklung und praktische Anwendung der Atomenergie für friedliche Zwecke weltweit zu ermutigen, zu fördern und zu koordinieren."

Art. III.1: 2 Die IAEA und die WHO erkennen an, dass es notwendig sein kann, gewisse Einschränkungen zur Wahrung vertraulicher Informationen, die sie erhielten, anzuwenden."

Dadurch kann die IAEA verlangen, dass Forschungsergebnisse zu den tatsächlichen Gesundheitsfolgen der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl, die für die Interessen und Ziele der IAEA nachteilig sind, als vertraulich eingestuft werden und deshalb von der WHO, trotz detaillierter Kenntnis, der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht werden dürfen.

Dann kann es auch nicht wundern, dass es bisher kaum ein kritisches Wort der WHO zu Fukushima I gibt, die Angaben über die akuten Schäden nur ganz spärlich tröpfeln und die in der Nähe der Unglücksstelle lebenden Menschen permanent mit Halbwahrheiten hinters Licht geführt werden.

Die Atomindustrie geht im wahrsten Sinne des Wortes "über Leichen". Und die UNO schweigt dazu.


Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Ein weiterer Text des Autors zu diesem Thema ist zu finden unter:
www.schattenblick.de -> Infopool -> MEDIZIN -> GESUNDHEITSWESEN ->
POLITIK/1745: WHO im Widerspruch zum eigenen Auftrag (UZ)


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 43. Jahrgang, Nr. 15 vom 15. April 2011, Seite 3
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. April 2011