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AUSLAND/1846: Argentinien - Keine Therapie wider Willen, Gesetz stärkt Rechte psychisch Kranker (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 5. Juni 2012

Argentinien: Keine Therapie wider Willen - Gesetz stärkt Rechte psychisch Kranker

von Marcela Valente



Buenos Aires, 5. Juni (IPS) - In Argentinien zeichnet sich langsam aber sicher eine 'Demokratisierung' bei der Behandlung psychisch Kranker ab. So wird die Zwangseinweisung nur noch im äußersten Notfall erlaubt, die Dauer der stationären Aufenthalte verkürzt und die soziale Integration der Betroffenen gefördert.

Während der vergangenen vier Jahre hat Argentinien die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert und das Gesetz für psychische Gesundheit verabschiedet, das im Einklang mit internationalen Abkommen steht und die Rechte von psychisch Kranken schützt.

Die Umsetzung des Gesetzes kommt allerdings nur schleppend voran. "Konkrete Veränderungen auf institutioneller Ebene sind nicht bemerkbar", kritisiert Macarena Sabin Paz, die für das Zentrum für Rechts- und Sozialstudien (CELS) arbeitet.

CELS gehört zu den Menschenrechtsgruppen, die sich 2010 für die Verabschiedung des Reformgesetzes engagierten. Drei Jahre zuvor hatte die Organisation einen Bericht über die Diskriminierung von Patienten in psychiatrischen Kliniken in Argentinien veröffentlicht. Darin wurden Übergriffe auf rund 25.000 Kranke in dem südamerikanischen Land angeprangert.


Zielscheibe von Menschenrechtsverletzungen

Dokumentiert wurden Unterbringungen in Einzelzellen als Strafmaßnahmen, physische und sexuelle Gewalt gegen Patienten, mangelnde ärztliche Versorgung, unhygienische Lebensbedingungen, überfüllte Kliniken und nicht untersuchte Todesfälle.

Der Studie zufolge hielten sich zum Zeitpunkt der Untersuchung etwa 80 Prozent der Patienten bereits länger als ein Jahr in den Krankenhäusern auf. Zwischen 60 und 90 Prozent von ihnen waren 'soziale Patienten'. Sie wurden dort festgehalten, weil sie sonst nirgendwo anders hin konnten.

In seinem im Mai veröffentlichten Jahresbericht erklärt CELS, die Ratifizierung des internationalen Abkommens und die Verabschiedung des neuen Gesetzes deuteten darauf hin, dass sich etwas zu ändern beginne. Zugleich weist die Organisation auf die große Kluft zwischen Regelungen auf dem Papier und deren Umsetzung hin. Menschen in psychiatrischen Einrichtungen liefen besonders Gefahr, dass ihre Grundrechte verletzt würden.

Sabin Paz kritisiert andererseits, dass in der ostargentinischen Provinz Buenos Aires, wo die landweit meisten Menschen mit psychischen Störungen lebten, nach der Einführung des neuen Gesetzes zu viele chronisch Kranke aus den Kliniken entlassen worden seien. Viele von ihnen seien inzwischen wieder eingeliefert worden.

Am schlimmsten wird das Problem in der Hauptstadt Buenos Aires empfunden. Virginia González Gass, die für die Sozialisten im Stadtparlament sitzt und den Ausschuss für mentale Gesundheit leitet, bezeichnet die Lage als "katastrophal". Viele entlassene Patienten endeten in Obdachlosenheimen. Es fehle an Einrichtungen und ambulanten Behandlungsprogrammen, die den Betroffenen dabei helfen könnten, den Kontakt zu ihren Familien wieder aufzunehmen, sagt Sabin Paz. In den Obdachlosenasylen gebe es keine Ärzte, die sich um sie kümmerten.

Die Hauptstadt Buenos Aires verfügt über drei psychiatrische Kliniken: jeweils eine für Männer, für Frauen und für Jugendliche. Anlaufstellen, die den Kranken bei der Rückkehr in ihr früheres Lebensumfeld helfen, gibt es nicht. Zudem wurden Einrichtungen geschlossen, die den Patienten als Brücken zur Außenwelt dienten. Betroffen sind eine Bäckerei, eine Tischlerei und andere Werkstätten.


Gesetz stößt auf Widerstände

"Viele Ärzte lehnen das Gesetz ab", erklärt die Psychologin. "Sie verweigern den Patienten das Recht auf einen Anwalt. Krankenhausangestellten, die den Kranken Zugang zu einem Rechtsbeistand verschaffen, werden Strafen angedroht."

Gemäß dem neuen Gesetz hat die nationale Rechtsschutzstelle (Defensoría General de la Nación) eine Behörde für mentale Gesundheit eingerichtet, der 22 Experten wie Psychiater, Psychologen, Rechtsanwälte und Sozialarbeiter angehören. Der Koordinator Mariano Laufer hat die Aufgabe, Kranke davor zu bewahren, gegen ihren Willen in Kliniken eingewiesen zu werden. In Fällen, in denen dies nicht möglich ist, versucht sein Team zu erreichen, dass der stationäre Aufenthalt kurz ist und die Patienten mit der Art der Behandlung einverstanden sind.

"Das Gesetz ist ein Instrument in einem langsamen Prozess, der Jahre dauern wird", sagt er. Die Gesetzgebung habe jedoch die Vorgehensweise der Justiz in diesen Fällen radikal verändert. In den ersten zehn Monaten seit ihrer Gründung hat die Behörde nach Angaben von Laufer bereits etwa 1.700 Menschen geholfen. "70 Prozent von ihnen wurden entweder entlassen oder an eine ambulante Einrichtung überwiesen."

Nach dem neuen Gesetz könnten psychisch Kranke ihre Rechte vollständig einfordern, erklärt der Jurist. Unfreiwillige stationäre Behandlungen würden als Freiheitsberaubung betrachtet, wenn rechtliche Vorschriften nicht eingehalten würden. Ein Richter müsse zwingend in Kenntnis gesetzt werden. Früher wurden Patienten nach der Einweisung von ihren Familien getrennt und durften weder Besuche noch Telefonanrufe empfangen. Viele von ihnen blieben monate- oder sogar jahrelang in den Kliniken und wurden gegen ihren Willen therapiert. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:
http://www.un.org/disabilities/convention/conventionfull.shtml
http://www.iurislex.com.ar/2010/12/03/ley-26657.html
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=100871
http://ipsnews.net/news.asp?idnews=108006

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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2012