Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → GESUNDHEITSWESEN


ARTIKEL/1509: Ambulante Versorgung in ländlichen Regionen - Beispiel Lunden (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 5/2019

Serie
Lunden lockt mit Anstellung

von Dirk Schnack


Kommunale Eigeneinrichtungen zur Sicherung der ambulanten Versorgung gibt es bislang nur in Schleswig-Holstein. Nach Vorbild des bundesweit beachteten Vorzeigemodells Büsum hat vor wenigen Tagen auch Lunden ein eigenes Zentrum eröffnet.


Ein Nigerianer und ein Serbe sind seit Monatsbeginn die neuen Landärzte in Lunden. Dass ausgerechnet Nikola Dacic und Olajide Bisiriyu künftig Lundener Patienten als Hausärzte versorgen, verdankt die Region einem Versorgungsmodell, das das Sozialgesetzbuch V seit einigen Jahren zwar explizit zulässt, das aber außerhalb Schleswig-Holsteins nicht umgesetzt wird: der kommunalen Eigeneinrichtung.

Mit diesem Modell werden Kommunen zum Träger der ambulanten Versorgung. Sie gründen eine GmbH, die als Träger eines Ärztezentrums und als Arbeitgeber für angestellte Ärzte auftritt - eine Rolle, die für sie unbekannt ist und für die sie in aller Regel nicht das Know-how haben. Damit sie mit diesem Modell wirtschaftlich nicht Schiffbruch erleiden, kaufen Sie sich dieses Know-how ein. Im Fall von Büsum und Lunden bei der Ärztegenossenschaft Nord.

Anfang Texteinschub
§ 105 des Sozialgesetzbuches V ist Grundlage für die Gründung kommunaler Eigeneinrichtungen wie in Büsum oder Lunden. Kommunale MVZ dagegen haben den Paragrafen 95 SGB V als gesetzliche Grundlage. Kommunale MVZ betreiben in Schleswig-Holstein wie zum Serienauftakt im März berichtet die Insel Pellworm und die Gemeinde Silberstedt. Gemeinsam ist diesen Modellen, dass die Kommunen für den Betrieb der MVZ eine gGmbH gegründet haben.
Ende Texteinschub

Dass dieses Modell außerhalb von Schleswig-Holstein noch nicht umgesetzt wurde, lässt sich mit einigen speziellen Bedingungen erklären, die sich nur in Schleswig-Holstein finden. Eine Voraussetzung ist Aufgeschlossenheit der KV für das Modell. Nur wenn die Körperschaft zustimmt, kann eine Kommune eine Eigeneinrichtung gründen. Die KV Schleswig-Holstein hat erkannt, dass nicht jeder Praxisinhaber in von Unterversorgung bedrohten Regionen einen Nachfolger finden wird, und stellt deshalb auf Antrag sogar Fördermittel für die Gründung solcher Zentren bereit.

Die Ärztegenossenschaft Nord hat das Thema als Geschäftsfeld entdeckt und forciert es schon aus Eigeninteresse. Die Organisation verfügt nicht nur über Know-how für das Management, sondern hat als ärztliche Organisation auch Glaubwürdigkeit an der ärztlichen Basis. Dies ist wichtig, um bei den Ärzten der Region überhaupt Gehör zu finden. Ein dritter Grund ist Harald Stender. Der frühere Klinikmanager aus dem Heider Westküstenklinikum (WKK) ist für den Kreis Dithmarschen als Koordinator für die ambulante Versorgung angestellt. Diese Funktion versetzt ihn in die Lage, bei den Kommunen Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit zu leisten. Er erklärt den ehrenamtlichen Bürgermeistern, weshalb das Warten auf Praxisnachfolger in ihrem Ort Wunschdenken bleibt, welche Alternativen es gibt und welche Folgen damit für die Gemeinden verbunden sind.

Diese Kombination hat dazu geführt, dass nach Büsum jetzt auch Lunden eine kommunale Eigeneinrichtung gegründet hat und weitere folgen werden. Andere Bundesländer verfolgen das zwar aufmerksam und haben sich auch mehrfach in Büsum über das Modell informiert, bleiben bislang aber in der Beobachterrolle. Die kommunalen Eigeneinrichtungen weisen Gemeinsamkeiten mit dem kommunalen MVZ nach Paragraf 95 SGB V auf. Neben dem Management durch die Genossen sind dies:

  • Anstellung: Alle in den Einrichtungen arbeitenden Ärzte sind bei den Tochterfirmen der Kommunen angestellt.
  • Möglichkeit der Selbstständigkeit: Jeder angestellte Arzt bekommt die vertragliche Zusage, sich mit dem Vertragsarztsitz, auf dem er angestellt arbeitet, jederzeit selbstständig machen zu können. Über die Modalitäten müsste er dann mit Genossenschaft und Kommune verhandeln.
  • Risiko: Jede Kommune betreibt ihre Einrichtung auf eigenes wirtschaftliches Risiko. Ein Gewinn bleibt in der Gemeindekasse, ein Defizit muss von ihr getragen werden.

Das kann sich nicht jede Gemeinde leisten, auch Lunden nicht. Dort wurde das zu erwartende Defizit auf mehrere Umlandgemeinden verteilt. Hierzu entschieden sich sieben kleinere Orte aus dem Umland, deren Bevölkerung von dem kleinen Ärztezentrum in Lunden profitiert. Die Summen sind wegen des unbekannten Patientenandrangs konservativ kalkuliert: In den ersten fünf Jahren wird für Lunden mit einem jährlichen Defizit zwischen 166.000 Euro und 90.000 Euro gerechnet. Auch in Büsum wurden in den ersten Jahren Verluste geschrieben. Bis 2017 kumulierten sich diese auf rund 100.000 Euro. Für 2018 wird jetzt erstmals ein ausgeglichenes Ergebnis erwartet, die abschließende Bilanz lag bis Redaktionsschluss noch nicht vor.

Neben der wirtschaftlichen ist vor allem die Entwicklung in der Versorgung interessant. Das Büsumer Zentrum ist aus einst vier nebeneinander arbeitenden Einzelpraxen unter einem Dach entstanden und seitdem kontinuierlich gewachsen. Neben Ärzten sind zahlreiche andere Gesundheitsberufe integriert. Das wichtigste aber ist: Es finden sich junge Ärzte, die dort arbeiten wollen. Dies gelang nun auch in Lunden. Einen der beiden für die Einrichtung erforderlichen Vertragsarztsitze hat ein bislang in Lunden praktizierender Arzt abgegeben, ein zweiter kommt von einer in Heide aufhörenden Ärztin. Zwei weitere in Lunden niedergelassene Ärzte praktizieren weiterhin in Einzelpraxis. Unabhängig davon, ob deren Sitze später einmal von der Eigeneinrichtung übernommen werden oder nicht, konnte Lunden damit die ärztliche Versorgung für die kommenden Jahrzehnte auf ein sicheres Fundament stellen.

Dacic und Bisiriyu kamen mit Hilfe von Harald Stender nach Lunden. Noch als Klinikmanager am WKK sorgte er vor Jahren mit dafür, dass die beiden Ärzte über eine Agentur nach Deutschland fanden. Dacic hatte sein Medizinstudium in Belgrad beendet und einige Monate Praxis und erneut Krankenhaus in Serbien schon hinter sich, als er 2013 nach Deutschland kam. Im WKK absolvierte er seine Weiterbildung und ist inzwischen Facharzt für Innere Medizin.

Bisiriyu kam während des Medizinstudiums wegen der besseren Bedingungen nach Europa und schloss dies in Rumänien ab. Der mit einer Rumänin verheiratete Arzt hörte von einem Kollegen in Deutschland von der hiesigen Situation und kam ebenfalls an das WKK, wo er inzwischen seine Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin abgeschlossen hat. Inzwischen haben beide Familie, ihre Kinder sind hier geboren und sie fühlen sich angekommen. Dass sie nun in Lunden gemeinsam das Ärztezentrum aufbauen können, sehen sie als große Chance.

"Das sind einmalige Bedingungen für uns", sagt Dacic, der ärztlicher Leiter der Einrichtung wird. Beide Ärzte sind froh, dass sie mit Mitte 30 und als Familienväter kein wirtschaftliches Risiko eingehen müssen, sondern angestellt arbeiten können. Sie freuen sich aber auch, dass diagnostische Geräte nach ihren Vorstellungen angeschafft werden und die Ärztegenossenschaft ihnen die administrativen Aufgaben abnimmt. "Das erleichtert vieles", sagt Dacic.

Die beiden Ärzte arbeiten für die kommenden 18 Monate in einem 150 Quadratmeter kleinen Interimsdomizil, das der Kommune bislang als Verwaltungstrakt diente. Parallel lässt die Gemeinde ihr neues Gesundheitszentrum in zentraler Lage errichten. Es wird rund 900 Quadratmeter umfassen und damit Platz bieten für eine große Hausarztpraxis sowie für Apotheke, Sanitätshaus und Pflegedienstleister. "Wir sind offen für weitere Interessenten", sagt Manager Mike Pahnke unter Verweis auf die Entwicklung in Büsum. Auch die Praxis in Lunden wird großzügig geplant. Sechs Behandlungszimmer sind vorgesehen, damit Dacic und Bisiriyu und mittelfristig ein dritter Kollege über je zwei Räume verfügen. Baubeginn wird in diesem Jahr sein, Fördermittel sind beantragt.

Dacic und Bisiriyu konzentrieren sich voll auf ihre medizinische Tätigkeit und hoffen, dass sie schnell einen großen Patientenstamm aufbauen können - schon, um der Gemeinde zu einem Erfolgsmodell zu verhelfen, aber auch, weil sie langfristig in Lunden bleiben möchten. Das muss nicht für immer als angestellter Arzt sein. Das ist für sie aktuell zwar die passende Konstellation, aber sie schließen nicht aus, dass sich das in fünf Jahren gewandelt haben könnte: "Dann können wir uns vorstellen, selbstständig zu arbeiten."

*

AMBULANTE VERSORGUNG AUF DEM LAND

Wie lässt sich die ambulante Versorgung auf dem Land organisieren? Vor dieser Herausforderung stehen derzeit viele Bundesländer, aber wenige haben darauf so vielfältige Antworten wie Schleswig-Holstein. Neben den klassischen Einzelpraxen und Berufsausübungsgemeinschaften gibt es zum Beispiel Zweigpraxen oder Medizinische Versorgungszentren in unterschiedlichen Ausprägungen. Fast alle bieten den Ärzten die Möglichkeit, sich zwischen selbstständiger und angestellter Tätigkeit zu entscheiden. In dieser Serie stellen wir Ihnen ausgewählte Beispiele für Organisationsformen in der ambulanten Versorgung vor, die in Schleswig-Holstein praktiziert werden. Weitere bislang geplante oder schon gedruckte Serienbestandteile:

  • März: Kommunales MVZ als Ärztezentrum für die Region
  • April: Nachwuchs für die Landarztpraxis
  • Juni: Mit der Zweigpraxis zum Patienten
  • Juli: Die überörtliche Berufsausübungsgemeinschaft

KOMPETENZZENTRUM WEITERBILDUNG IN DER ALLGEMEINMEDIZIN

Damit sich junge Mediziner für die Landarzttätigkeit entscheiden können, ist Nachwuchs in der Allgemeinmedizin erforderlich. Das Kompetenzzentrum Allgemeinmedizin Schleswig-Holstein - gegründet durch die Landesärztekammer, die KV Schleswig-Holstein und die Lehrstühle für Allgemeinmedizin der Universitäten Kiel und Lübeck - begleitet die Weiterbildung im Fach Allgemeinmedizin mit dem Ziel, die Qualität und Effizienz in der Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin zu steigern und dem Hausärztemangel entgegenzuwirken. Das Zentrum bietet außer Train-the-Trainer-Kursen für die Weiterbildungsbefugten Unterstützung durch Mentoren und Schulungstage für Ärzte in Weiterbildung an.

Interessierte Ärzte können sich bei der Akademie der Ärztekammer Schleswig-Holstein anmelden: Nina Brunken, Telefon 04551 803 760


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 5/2019 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2019/201905/h19054a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

*

Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
72. Jahrgang, Mai 2019, Seite 16 - 17
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-272, -273, -274,
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.de
www.aeksh.de
www.arztfindex.de
www.aerzteblatt-sh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juni 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang