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ARTIKEL/1512: Versorgung in ländlichen Regionen - Zweigpraxen (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 6/2019

Serie
Zweite Praxis, andere Welt

von Dirk Schnack


Niedergelassene Ärzte in Schleswig-Holstein tragen mit Zweigpraxen dazu bei, dass Menschen in ländlichen Regionen zu weite Wege zur Versorgung erspart bleiben.


Wohnortnahe Gesundheitsversorgung gelingt in vielen kleinere Orten nur über Zweigpraxen - eine Organisationsform, die für die Praxisinhaber zwar zusätzlichen Aufwand bedeutet, sie aber in anderer Hinsicht entschädigen kann, wie zwei Beispiele aus der haus- und fachärztlichen ambulanten Versorgung zeigen.

Der Hausärztin Gabriele Lorentz etwa bietet ihre Zweigpraxis in Schinkel am Nord-Ostsee-Kanal ein völlig anderes Umfeld als ihre Hauptpraxis im Kieler Stadtteil Ellerbek. "Ich könnte wirtschaftlicher arbeiten. Aber ich möchte, dass mein Beruf mir Spaß macht", steht für die Fachärztin für Allgemeinmedizin fest. So, wie sie ihr Umfeld derzeit gestaltet hat, scheint ihr das zu gelingen. Als Reiterin lebt sie mit ihrer Familie auf einem Resthof mit Reitanlage am Rande des Nord-Ostsee-Kanals. Ihr Wohnort liegt zwischen ihren beiden Praxisorten, die gegensätzlicher kaum sein könnten. In der näheren Umgebung ihrer Hauptpraxis sind viele Menschen von staatlicher Unterstützung abhängig. Arbeitslosigkeit und Einsamkeit haben viele ihrer Patienten geprägt. Als Lorentz vor einigen Jahren aus dem Allgäu in den Norden zog, hat sie mit der Praxisübernahme in Ellerbek diese Welt der Notlagen kennengelernt. "Ich habe hier eine ganze Jobcenter-Generation. Es ist beeindruckend, wie schlecht es Menschen gehen kann", sagt sie über Hausbesuche in Wohnungen, die mitunter von Verwahrlosung und Perspektivlosigkeit gekennzeichnet sind. Als Hausärztin besucht sie Patienten, die Tür an Tür mit Nachbarn leben, zu denen keinerlei Kontakt stattfindet, obwohl gerade dieser Kontakt fehlt. Sie hat erfahren, wie dringend die dort lebenden Menschen ärztliche Hilfe benötigen, wie dankbar viele Patienten schon für einen Zuhörer sind. Eine der häufigsten Diagnosen, die Lorentz in Ellerbek stellen muss, ist Depression. Sie hat verstanden, wie wichtig ihre Arbeit für die Menschen in dem Viertel ist, deshalb steht für sie fest: "Ich möchte das nicht mehr missen."

Lorentz kennt aus ihrem früheren Praxisort im Allgäu die heile Landwelt. Deshalb suchte sie während ihres Umzugs nach Schleswig-Holstein über die Praxisbörse der KV eigentlich nach Kommunen, die einen Landarzt benötigen. Dabei stieß sie auf den Ort Schinkel, nur wenige Kilometer von Kiel entfernt - aber schon in ländlicher Umgebung. Der Anruf bei der Bürgermeisterin brachte zunächst Ernüchterung: Der Ort gehört zwar zum Kreis Rendsburg-Eckernförde, zählt für KV-Zulassungen aber zu Kiel, und dort gibt es keine freien Sitze. Die Kieler Region aber sollte es für Lorentz sein, weil ihr Mann dort ein Labor übernommen hatte. Die Bürgermeisterin in Schinkel erwies sich allerdings als Kennerin der Materie und schlug Lorentz eine Zweigpraxis vor. Die Ärztin beschäftigte sich zunächst mit der Hauptpraxis und fand schließlich in Ellerbek einen Arzt, der seine Praxis abgeben wollte. Die Idee einer Zweigpraxis aber ließ sie in den Folgemonaten nicht wieder los. Nach dem ersten Besuch in Schinkel mit seinen rund 1000 Einwohnern bot die Bürgermeisterin ihr einen Raum in einer gemeindeeigenen Immobilie an, das erste Jahr mietfrei. Lorentz ließ sich darauf ein und fing beim Patientenstamm bei Null an. Weil es schon seit einiger Zeit keinen Arzt im Ort mehr gab, hatten sich alle Patienten Praxen in der Umgebung gesucht. Langsam aber sprach sich das neue medizinische Angebot in der Gemeinde herum, zunächst bei mobil eingeschränkten, älteren Menschen und bei Müttern mit kleinen Kindern. Inzwischen hat Lorentz die Sprechstunde in Schinkel von einem auf zwei halbe Tage pro Woche ausgeweitet und beschäftigt eine Medizinische Fachangestellte (MFA), die zum Teil auch präsent ist, wenn die Ärztin in Ellerbek arbeitet.

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INFO

Die Tätigkeit in einer Zweigpraxis muss von der KV genehmigt werden und ist grundsätzlich von den Personen persönlich durchzuführen, die auf einem entsprechenden Antrag genannt werden. Jede Tätigkeit eines angestellten Arztes in der Zweigpraxis setzt zwingend eine vorherige Genehmigung der Anstellung durch den Zulassungsausschuss voraus. Bei genehmigungspflichtigen Leistungen ist auch für den Standort der Zweigpraxis eine vorherige Genehmigung dieser Leistung durch die Abteilung Qualitätssicherung für jeden tätigen Arzt notwendig.
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Die Menschen, die in Schinkel zu Lorentz kommen, haben zu hohen Blutdruck, eine Grippe und sind manchmal ernsthaft krank. Von den Lebensumständen der Menschen in Ellerbek aber sind sie meilenweit entfernt. "Die Praxen sind nur 20 Kilometer voneinander entfernt, aber sie sind in zwei verschiedenen Welten", vergleicht Lorentz. Sie hat entschieden, dass sie in beiden Welten helfen möchte, auch wenn das mit Aufwand und höheren Kosten für sie verbunden ist.

Höhere Kosten bedeutet die Zweigpraxis auch für Dr. Thomas Kröplin, der zum Ärzteteam der Praxis am Hogenkamp in Elmshorn zählt. Der Diabetologe betreibt eine Zweigpraxis im 28 Kilometer entfernten Henstedt-Ulzburg, in der ausschließlich Diabetes-Patienten behandelt werden. Damit ist er kein Einzelfall. Kröplin kennt weitere niedergelassene Kollegen, die Diabetes-Patienten ebenfalls in Zweigpraxen behandeln. Auch in seinem Modell gibt es große Unterschiede zwischen Haupt- und Zweigpraxis: In Elmshorn ist Kröplin nur einer von zwölf Fachärzten, hinzu kommen vier Weiterbildungsassistenten - eine große, vielleicht die größte Praxis im ganzen Land. Dort werden täglich zahlreiche Patienten behandelt, es geht mitunter turbulent zu.

In Henstedt-Ulzburg dagegen ist Kröplin der einzige Arzt in der Zweigpraxis, mit ihm arbeiten dort noch zwei Diabetesberaterinnen und eine MFA. Im Vergleich zu Elmshorn geht es in Henstedt-Ulzburg fast beschaulich zu, auch wenn dort der Patientenstamm mittlerweile auf 500 bis 600 angestiegen ist. "Hier muss ich weniger Kompromisse eingehen, ich kann die Abläufe so gestalten, wie ich es für richtig halte. Das ist zwei Mal in der Woche ganz angenehm", sagt Kröplin über seine zwei Tage in der Zweigpraxis. Kröplin war bis 2006 angestellt in der Paracelsus Klinik Henstedt-Ulzburg und Kaltenkirchen, wo er die Diabetesstation geleitet hat. Als er sich dann niederließ, wollte er die Patienten weiter behandeln und konnte dies zunächst in den Klinikräumen leisten. Als dafür kein Platz mehr vorhanden war, mietete er eigene Räume in Henstedt-Ulzburg an. Unter seinen Kollegen in Elmshorn kam die Zweigpraxis gut an, schließlich brachte er über diesen Weg auch eigene Patienten in die Praxis mit ein. Hinzu kommt, dass damals sein Kollege Hauke Wolters eine Zweigpraxis im Pinneberger Krankenhaus betrieb. Auch er musste die Räume in der Klinik räumen, fand anders als Kröplin allerdings keinen adäquaten Ersatz.

Für Kröplin ist neben der Patientenversorgung und der Chance, Abläufe selbst bestimmen zu können, noch ein Aspekt von Vorteil: Er wohnt in der Nähe der Zweigpraxis und hat damit zwei Mal in der Woche nur einen kurzen Arbeitsweg. Allerdings muss er für die Filiale eine nicht unbeträchtliche Miete zahlen - für Räume, die an drei Tagen in der Woche nicht genutzt werden. Eine Mitnutzung durch andere Ärzte hat sich bislang nicht ergeben. Kröplin ist grundsätzlich aber offen für Kooperationen in der Zweigpraxis.

Die zusätzlichen Kosten sind nach Angaben des Diabetologen wirtschaftlich nur zu rechtfertigen, weil er Diabetes-Patienten über das DMP für ein angemessenes Honorar behandeln kann. Er betont aber auch: "Sollte das DMP irgendwann einmal kippen, könnte ich die Versorgung nicht mehr so wohnortnah leisten." Mit anderen Worten: Ohne DMP keine Zweigpraxis. Patienten aus Henstedt-Ulzburg müssten dann zur Behandlung nach Neumünster, Norderstedt oder Quickborn in andere Praxen fahren. Kröplin ist sicher, dass kaum ein Patient aus Henstedt-Ulzburg den weiten Weg nach Elmshorn auf sich nehmen würde.

Seine Abwesenheit in der Großpraxis am Hogenkamp reißt keine Lücken in der Patientenversorgung, weil mit Wolters ein weiterer Diabetologe vor Ort ist. Anders sieht dies in der allgemeinärztlichen Praxis von Gabriele Lorentz in Kiel aus. Lorentz ist sich sicher, dass sie in Ellerbek auch mit fünftägiger Sprechstunde noch viel zu tun hätte. Dann müssten allerdings die Patienten in Schinkel wieder weitere Wege auf sich nehmen. Die aber haben schon nachgefragt, wann sie ihre Praxis ganz zu ihnen verlegt.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 6/2019 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2019/201906/h19064a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
72. Jahrgang, Juli 2019, Seite 18 - 19
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juli 2019

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