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STELLUNGNAHME/010: Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie zur Pflegereform (dggö)


Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie (dggö) - 21. Juni 2012

Für eine verpflichtende private Pflegevorsorge mit Zuschüssen für Bedürftige

Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie (dggö) zur Pflegereform



Das Bundeskabinett hat am 6. Juni 2012 die staatliche Förderung einer privaten Pflegezusatzversicherung beschlossen. Statt der im Koalitionsvertrag vorgesehenen Einführung einer verpflichtenden Zusatzvorsorge für künftigen Pflegebedarf einigte man sich lediglich auf einen staatlichen Zuschuss in Höhe von 60 Euro jährlich für eine freiwillige Vorsorge. Dazu müssen die entsprechenden Verträge bestimmte Mindestbedingungen erfüllen: Der Jahresbeitrag muss mindestens 120 Euro betragen, es darf keine Risikozuschläge geben, und die Verwaltungskosten sollen begrenzt werden. Dies ist aus Sicht der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie zwar ein Schritt in die richtige Richtung, jedoch zur Deckung des zukünftigen Pflegebedarfs nicht ausreichend.

Die derzeit anstehende Pflegereform ist zum einen deshalb notwendig, weil die Soziale Pflegeversicherung in der heutigen Form nur eine Teilabsicherung des Pflegerisikos vorsieht. Zum anderen wird der Beitragssatz wegen der absehbaren demographischen Alterung in den nächsten Jahrzehnten stark ansteigen, und es ist deshalb zu erwarten, dass sich künftige erwerbstätige Generationen gegen ständig steigende Sozialabgaben wehren werden. Daher ist es aus Sicht der heute mittleren Generation vernünftig, die zu erwartende Kostendynamik über Kapitaldeckung abzusichern.

Nach ihrem Beschluss vom November 2011, Leistungsverbesserungen in der Pflegeversicherung über einen höheren Beitragssatz im Umlageverfahren zu finanzieren, will die Koalition nun in die kapitalgedeckte Zusatzversicherung einsteigen und dabei finanzielle Anreize zum Abschluss einer privaten Pflegevorsorge setzen. Ihre Entscheidung für eine individuelle Vorsorge ist dabei prinzipiell noch zu begrüßen, da ein kollektiv angespartes Pflegevermögen dem Zugriff der Politik ausgesetzt wäre, die versucht sein könnte, daraus Wahlgeschenke zu finanzieren.

Zu kritisieren ist jedoch, dass die Vorsorge rein freiwillig sein soll. Vor allem Personen mit unterdurchschnittlichen Einkommen werden nicht vorsorgen, da sie sich darauf verlassen, im Pflegefall sowieso vom Staat versorgt zu werden. Die vorgesehenen staatlichen Zuschüsse sind daher nicht nur vom Betrag her kaum wirksam; sie sind auch verteilungspolitisch nicht zielgerichtet. Zudem ist wie bei der Riester-Rente mit Mitnahmeeffekten zu rechnen. Schließlich ist die Befürchtung der Versicherungswirtschaft nachvollziehbar, dass sich vor allem Personen mit erhöhtem Pflegebedürftigkeitsrisiko versichern werden.

Alle genannten Probleme können aber gelöst werden, wenn der Gesetzgeber alle Bürger bis zu einem bestimmten Alter zum Abschluss einer privaten Zusatzvorsorge mit einer definierten Mindestleistung im Pflegefall verpflichtet und auf einen generellen Zuschuss verzichtet. Durch die Einbeziehung der gesamten Bevölkerung würde das Problem der "negativen Auslese" insgesamt nicht mehr auftreten. Um die Versicherung höherer Risiken attraktiver zu machen und die Auswirkungen möglicher ungleicher Verteilungen der Risiken unter den Versicherern zu mindern, sollte neben der Annahmepflicht die Einrichtung eines Risikoausgleichs zwischen den anbietenden Unternehmen unterstützt werden. Eine Pflichtversicherung wird überdies nicht ohne eine verteilungspolitische Flankierung auskommen, indem die staatlichen Zuschüsse gezielt zugunsten der Bezieher niedriger Einkommen - bis hin zur vollen Kostenübernahme - eingesetzt werden.

Die Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie begrüßt prinzipiell den Einstieg in die kapitalgedeckte Zusatzvorsorge. Jedoch erst die Weiterentwicklung zur verpflichtenden Vorsorge macht sie nachhaltig und sozial ausgewogen und sollte daher für alle politischen Lager akzeptabel sein.

Friedrich Breyer, Jürgen Wasem, Reiner Leidl, Stefan Felder, 21.06.2012

Vorstand
Prof. Dr. Friedrich Breyer
Vorsitzender
Konstanz

Prof. Dr. Jürgen Wasem
Designierter Vorsitzender
Essen

Prof. Dr. Reiner Leidl
Stellvertretender Vorsitzender
München

Prof. Dr. Stefan Felder
Generalsekretär
Essen

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Quelle:
Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie (dggö)
Pressemitteilung vom 21. Juni 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juni 2012