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SOZIALES/029: Innovationsfonds - Bessere Versorgung im Problemviertel (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 12/2016

Innovationsfonds
Bessere Versorgung im Problemviertel

von Dirk Schnack


6,3 Millionen Euro fließen aus dem Innovationsfonds in ein Projekt in Billstedt-Horn. Wenn die geplanten Maßnahmen greifen, könnte das Konzept als Vorlage für andere Städte dienen.


Zehn Jahre Lebenserwartung liegen zwischen westlichen Hamburger Stadtteilen wie Rissen und östlichen wie Horn und Billstedt. Zehn Jahre, die sich u. a. durch niedrigere Gesundheitskompetenz, niedrigeren sozialen Status, erschwerten Zugang zu Gesundheitseinrichtungen und die Sprachbarrieren der zahlreichen Migranten in Horn und Billstedt erklären lassen. Diese zehn Jahre, so die Vision von Alexander Fischer, werden eines Tages aufgeholt sein.

Fischer leitet das Projekt Invest der Gesellschaft "Gesundheit für Billstedt/Horn", das in den kommenden drei Jahren 6,3 Millionen Euro aus dem Innovationsfonds erhalten wird. Was im Hamburger Osten mit dem Geld geschieht, könnte auch in Köln-Chorweiler, Bremerhaven, Berlin-Wedding oder in der Dortmunder Innenstadt-Nord relevant sein - eben überall dort, wo sich Bevölkerung auch "sozial abgehängt fühlt", wie es der Vorstand der AOK Rheinland/Hamburg, Matthias Mohrmann, für Billstedt/Horn ausdrückte. Vergleichbare Problemviertel ließen sich aber auch in Kiel, Lübeck und Neumünster mühelos finden.

Mithilfe des Geldes wollen Fischer und seine Mitstreiter die Gesundheitsversorgung nun in einem Stadtteil neu organisieren, der bislang meist dann in die Schlagzeilen kam, wenn es um niedrige Bildung, hohe Kriminalität und problematische Versorgungslagen ging. Wie stark die Unterschiede zu anderen Regionen sind, macht der Migrantenanteil deutlich. In Deutschland insgesamt beträgt er 19, in Hamburg 31, in Billstedt und Horn 50 Prozent. Viele der hier lebenden 109.000 Menschen sind arbeitslos und haben ein niedriges Einkommen. Die Menschen sind häufiger krank und die Versorgung ist bislang deutlich teurer. Ein AOK-Versicherter in Horn und Billstedt kostet die Kasse jedes Jahr 71 Euro mehr als ein Versicherter im restlichen Hamburg. Über das Jahr gesehen sind das 2,2 Millionen Euro zusätzlich.

Mit dem Projekt Invest sind die Partner in "Gesundheit für Billstedt und Horn" angetreten, solche Unterschiede zu verringern und die Chancen der dort lebenden Menschen zu verbessern. Damit soll auch die Attraktivität des Viertels steigen und der Anreiz für Ärzte, dort zu praktizieren. Die Partner sind das Ärztenetz Billstedt/Horn (60 Prozent des Gesellschaftsanteils), die Hamburger Managementgesellschaft OptiMedis AG (30 Prozent), die Stadtteilklinik Hamburg und der NAV Virchowbund (jeweils fünf Prozent).

Die Geschäftsführung liegt bei OptiMedis, das für Billstedt/Horn ein vergleichbares Modell wie im Gesunden Kinzigtal etablieren will - nur unter deutlich erschwerten Bedingungen. "Die Herausforderungen sind deutlich größer, deshalb müssen wir mit unseren Interventionen früher ansetzen", sagte Dr. Helmut Hildebrandt von OptMedis bei der öffentlichen Vorstellung des Projektes. Die wohnortnahe Versorgung soll durch zielgruppenspezifische Versorgungsprogramme, die Entwicklung von Behandlungspfaden, eine bessere Kommunikation zwischen den an der Versorgung Beteiligten, den Aufbau einer Kurzliegestation und die Sicherstellung der Arzneimitteltherapiesicherheit gestärkt werden. Dazu werden IT-Lösungen vorangetrieben; so soll etwa der digitale Datenaustausch erleichtert werden. Ein weiterer Punkt ist die Vernetzung von Medizin und Gemeinwesen. In einem großen Einkaufszentrum, dem "Billstedt Center", ist die Einrichtung eines Gesundheitskiosks geplant, der ein Gesundheits- und Case-Management ermöglicht. Mit Vereinen und Gewerbetreibenden sind Kooperationen geplant, Prävention und Gesundheitskompetenz sollen verbessert werden.

"Die Ärzte vor Ort sind hoch motiviert", versichert der Netzvorsitzende Dr. Gerd Fass. Und er stellt trotz erschwerter Arbeitsbedingungen klar: "Wir lieben die Arbeit mit unserer multikulturellen Patientenklientel." Hilfreich sei, dass nun ein über das normale Maß hinausgehendes Engagement künftig auch honoriert werden kann, wenn auch zu unterdurchschnittlichen Sätzen. "Kein Arzt wird reich, weil er sich an dem Projekt beteiligt", stellten die Partner klar.

Wichtig ist, dass die Arbeit in Billstedt/Horn evaluiert wird. Wenn die Erfolge sich wie im Gesunden Kinzigtal einstellen, könnten auch die Problemviertel in anderen Städten profitieren. Ziel im Gesunden Kinzigtal ist es, Strukturen zu schaffen und zu etablieren, die den Einzelnen bei einer Erkrankung optimal unterstützen und gleichzeitig das Entstehen gesunder Lebenslust ermöglicht. Ein Drittel der Versicherten im Integrationsnetz "Gesundes Kinzigtal" lebt nach eigener Einschätzung seit seiner Einschreibung gesünder. 41 Prozent erklärten jüngst in einer Umfrage, sie fühlten sich gesundheitlich besser betreut als vor der Einschreibung. 58 Prozent meinen, ihr Wissen, wie sie gesund leben könnten, habe sich durch die Teilnahme vergrößert. Fast alle würden die Mitgliedschaft weiter empfehlen.

Die Region ist Teil des Ortenaukreises in Baden-Württemberg; sie liegt im Städteviereck Offenburg, Freudenstadt, Villingen-Schwenningen und Freiburg. Das Mittlere Kinzigtal ist fast wie ein Gegenstück zu Billstedt/Horn: eine ländlich strukturierte Region im Schwarzwald mit rund 70.000 Einwohnern und einer von kleinen und mittelständischen Betrieben geprägten Wirtschaft. Rund 33.000 von ihnen sind im Integrationsprojekt Gesundes Kinzigtal eingeschrieben.

Von den im Versorgungsgebiet niedergelassenen Haus- und Fachärzten sowie Psychotherapeuten sind circa ein Drittel Mitglieder, das heißt Leistungspartner von Gesundes Kinzigtal. Darüber hinaus sind weitere Fachärzte in Lahr, Offenburg sowie Schramberg und Villingen-Schwenningen beteiligt. Außerdem mit dabei: 41 Kooperationsvereine, 15 Apotheken, fünf Fitnessstudios sowie elf weitere Kooperationspartner aus der Region. Die Gesundes Kinzigtal GmbH wurde im September 2005 gegründet. Ihre Gesellschafter sind das Medizinische Qualitätsnetz - Ärzteinitiative Kinzigtal (MQNK) und die OptiMedis AG. Dabei hält das MQNK 66,6 Prozent der Anteile, die OptiMedis 33,4 Prozent. Die Geschäftsführung liegt bei Helmut Hildebrandt.

Das MQNK besteht seit 1993 als Netz aus niedergelassenen Hausärzten, Fachärzten, Psychotherapeuten und Krankenhausärzten. Zahlreiche Projekte zur Verbesserung der Versorgung im Kinzigtal wurden bereits vor der Gründung der Initiative Gesundes Kinzigtal vom MQNK initiiert, darunter die Entwicklung gemeinsamer Leitlinien für mehr als 15 Erkrankungsentitäten, die Verbesserung der arbeitsmedizinischen Versorgung, der Impfversorgung und der Prävention bei Kindern und Senioren.

Die OptiMedis AG baut auch an anderen Standorten gemeinsam mit Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen regionale, populationsorientierte, integrierte Versorgungssysteme auf. Sie vernetzt die Partner, verhandelt Verträge, übernimmt das Management und analysiert die Versorgungsdaten. "Das Ziel ist dabei immer, durch gezieltes Versorgungsmanagement, Patientenaktivierung, elektronische Vernetzung u. v. m. die Qualität der Versorgung zu verbessern", heißt es bei dem Hamburger Unternehmen.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 12/2016 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2016/201612/h16124a.htm

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
69. Jahrgang, Dezember 2016, Seite 18 - 19
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Januar 2017

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