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SOZIALES/050: Einsamkeit - "Wir brauchen mehr niedrigschwellige Angebote" (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 5, Mai 2022

"Wir brauchen mehr niedrigschwellige Angebote"

Dr. Anna Christina Schulz-Du Bois, Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Westküstenklinikum im Gespräch mit Sandra Wilsdorf


Politik und Medien nehmen das Thema Einsamkeit in den Fokus. Wie sehen Sie das aus psychiatrischer Sicht?

Dr. Anna Christina Schulz-Du Bois: Einsamkeit ist ein gesellschaftliches Problem, das alle Altersgruppen betrifft, zunehmend auch die Jüngeren. Deshalb finde ich es gut, dass man auf das Thema aufmerksam wird. Einsamkeit kann zu psychosomatischen Beschwerden führen, aber auch zu Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen. Einsamkeit kann psychisch krank machen und die psychische Krankheit kann zusätzlich isolieren - das ist ein sich verstärkender Kreislauf.


Inwiefern hat Corona diese Entwicklung noch verschärft?

Schulz-Du Bois: Bei psychisch Kranken wirkt sich die Einsamkeit sehr negativ aus. Denn Einsamkeit ist Stressor und Risikofaktor zugleich. Zum einen hat die Isolation, in der die Menschen leben mussten, die Symptome massiv verstärkt. Zum anderen konnten in der Pandemie unsere Konzepte der fließenden Übergänge nicht greifen. Patienten beispielsweise probeweise nach Hause zu schicken, war nicht möglich. Auch der Austausch unter den Patienten kam und kommt zu kurz. Dann noch die Besuchsbeschränkungen - viele vermeiden deshalb einen Klinikaufenthalt und kommen erst, wenn es gar nicht mehr anders geht. Sie sind dann bereits schwerer erkrankt. Für die Mitarbeitenden ist das ebenfalls belastend, weil auch sie privat wie dienstlich von der Corona-Pandemie besonders gefordert sind.

Durch die lange Dauer der Krise leiden zudem alle unter chronischem Stress. Der wirkt sich sehr negativ auf das menschliche Gehirn aus und kann zu Erkrankungen führen. Ich fürchte, dass wir die langfristigen Folgen der Corona-Krise erst noch sehen werden. Besonders bei jungen Menschen.


Warum ist das bei den jungen Erwachsenen besonders problematisch?

Schulz-Du Bois: Das Gehirn ist in diesem Alter noch nicht ausgereift. Der Mensch ist auf menschliche Kontakte angewiesen und reagiert darauf mit der Ausschüttung von Dopamin, was zu positiven Gefühlen führt. Hat jemand jedoch nur negative Gefühle, werden bestimmte Areale des Gehirns nicht aktiviert. Das ist in der Phase der Reifung besonders problematisch. Verstärkt wird das, wenn alles unterbleibt, was stabilisierend wirkt, wie etwa Tagesstruktur, regelmäßige Bewegung oder ein gesunder Schlafrhythmus.

Die Folge: Wir beobachten, dass sich deutlich mehr junge Menschen mit psychischen Problemen bis hin zu Suizidgedanken bei uns vorstellen, als noch vor der Corona-Pandemie. Wir sehen hier auch viele junge Leute, die das Abitur geschmissen haben oder nicht in eine Ausbildung gegangen sind. Deshalb müssen wir diese Generation genau im Blick behalten und uns um mögliche langfristige Folgen kümmern.


Ist das bestehende System darauf vorbereitet oder müsste es andere oder mehr Angebote geben?

Schulz-Du Bois: Wir brauchen mehr überschneidende Angebote von Pädagogik, Psychiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie. Und wir brauchen mehr niedrigschwellige Beratungsangebote, die nicht gleich in Richtung Therapie gehen. Dafür gibt es ja gar nicht genügend Plätze, und eine Therapie ist oft nicht notwendig. Wir bauen beispielsweise gerade ein Beratungsangebot über den gemeindepsychiatrischen Dienst auf. Auch viele der Apps, die es für den Einsatz bei Ängsten oder Depressionen gibt, können helfen. Angebote, wo Gemeinschaft entsteht, sollten gefördert werden.


Laut einer Studie des DIW mit Daten aus dem Jahr 2017 nahm die Einsamkeit gerade bei jungen Menschen zu - beobachten Sie das auch?

Schulz-Du Bois: Ja. Schon vor Corona kamen verstärkt junge Menschen in die psychiatrischen Ambulanzen. Sie scheinen einsamer zu sein als früher, haben aber weniger Scheu bei psychischen Problemen Hilfe zu suchen. Viele der Betroffenen haben entweder keine Freundeskreise mehr, oder es gibt in diesem Kreis keinen intensiven Austausch. Jedenfalls fängt das soziale Umfeld die Probleme nicht mehr so auf wie das früher der Fall gewesen ist. Das mag auch an den sozialen Medien liegen. In den Eltern finden die jungen Menschen keinen Ersatz. Diese jungen Menschen kommen und sagen: "Ich sehe keinen Sinn in meinem Leben". Für die haben wir in der Psychiatrie eigentlich kein gutes Angebot. Sobald sie 18 Jahre alt sind, müssen sie in die Erwachsenenpsychiatrie. Da bräuchte es mehr Überschneidungen mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Was momentan auch zunimmt, ist die Zahl der Menschen, die ihren Arbeitsalltag als überfordernd empfinden. Mehr Stress in der Familie, beschränkte Möglichkeiten des Ausgleichs, dann vielleicht noch Angst um den Arbeitsplatz: All' das lässt den Stresspegel steigen. Wenn das dauerhaft passiert, führt das bei vielen ins Burnout als Vorstufe psychischer Erkrankung.


Haben Sie in diesem Zusammenhang einen Rat an die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen?

Schulz-Du Bois: Gerade bei der Entwicklung von Depressionen sind die Hausärztinnen und -ärzte ja oft die erste Stelle, und die fangen mit ihrer Erfahrung schon vieles ab. Es geht zunächst darum, die Problematik zu erkennen und mit dem Patienten ins Gespräch zu kommen. Viele stellen sich mit körperlichen Symptomen vor. Aber oft stecken hinter muskuloskelettalen Beschwerden, Schlafstörungen, Müdigkeit oder Konzentrationsstörungen eben psychische Leiden. Frühzeitig eingesetzt, können Stressreduktion, Bewegung, Entspannungsverfahren oder Achtsamkeitsübungen psychische Erkrankungen abfangen.


Haben Sie Forderungen an die Politik?

Schulz-Du Bois: Es ist gut, dass es inzwischen mehr Aufmerksamkeit und auch mehr Projekte zum Thema Einsamkeit gibt. Es geht vor allem darum, auf die zu achten, die Hilfe benötigen. Es geht darum, das Gemeinschaftsgefühl zu fördern. Und wir müssen die jungen Menschen im Blick behalten und jetzt Angebote für sie schaffen, bevor sich Beschwerden chronifizieren.

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Miteinander-Füreinander: Besuche von den Maltesern

Natürlich ist der Lieferservice vom Supermarkt eine gute Sache. Aber wie schön ist es, mal wieder selber einkaufen zu gehen? Obst und Gemüse selber auswählen zu können und sich inspirieren zu lassen, statt immer nur die Dinge zu kochen, für die einem die Zutaten einfallen, wenn man zu Hause den Bestellzettel schreibt. Und nach dem Einkaufen vielleicht noch einen Kaffee trinken zu gehen, bevor einem dann noch jemand hilft, die eingekauften Dinge in die Wohnung zu tragen und in den Schränken zu verstauen. Der "Mobile Einkaufswagen" ist eines von vielen Angeboten, das die Malteser einsamen Menschen an mehreren Standorten in Schleswig-Holstein machen, damit sie weniger allein sind. Jeder und jede kann sich melden und bekommt dann Besuch von Ehrenamtlichen - egal ob zum Einkaufen, Klönen, Spazieren, Spielen. Beliebt ist auch der Besuchsdienst mit Hund, der vor allem bei Demenzerkrankten nicht selten zu berührenden Momenten führt: "Der Hund wirkt dann manchmal wie ein Türöffner in die Welt des Dementen. Wenn so jemand dann plötzlich erzählt, dass er früher auch einen Hund hatte, obwohl er seit Wochen nicht gesprochen hat, ist das auch für die Angehörigen ein besonderer Moment", sagt Thomas Kleibrink, bei den Maltesern in Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg für das soziale Ehrenamt zuständig. Aktuell im Aufbau befindet sich ein besonderes Angebot der Malteser, der Rikscha-Dienst in Barmstedt: Ehrenamtliche Rikscha-Fahrer nehmen Seniorinnen und Senioren mit auf eine Tour durch die Umgebung.

Für die Angebote der Malteser würden sich übrigens nicht nur Menschen interessieren, die jenseits der 70 sind: "Es sind zunehmend auch Jüngere, die aus verschiedenen Gründen in Isolation leben. Corona hat das natürlich noch verstärkt", so Kleibrink. Die wenigsten meldeten sich übrigens von sich aus. Oft seien es die Kinder, Ärztinnen und Ärzte oder Pflegedienste, die den Kontakt herstellen. "Es geht dabei um Hilfe und um schöne Momente".

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fördert das Projekt "Miteinander-Füreinander: Kontakt und Gemeinschaft im Alter" der Malteser noch bis 2024 an über 100 Standorten in ganz Deutschland, zurzeit sind vier davon in Schleswig-Holstein: Barmstedt, Itzehoe, Neumünster und Norderstedt. Wer sich für die Angebote in Schleswig-Holstein interessiert, kann die Malteser in seinem jeweiligen Ort kontaktieren.


Hausbesuch

Präventive Hausbesuche in Lübeck-Moisling: Die Hansestadt Lübeck hat gemeinsam mit der Caritas Lübeck und unterstützt von sechs Krankenkassen das Projekt ins Leben gerufen. Die Caritas Lübeck bietet Seniorinnen und Senioren aus dem Lübecker Stadtteil Moisling einen Hausbesuch an und erläutert dabei bestehende Hilfeangebot.
(caritas-im-norden.de)

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 5, Mai 2022
75. Jahrgang, Seite 12-13
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 2. Juli 2022

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