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ARTIKEL/1149: Nordfriesen arbeiten gemeinsam gegen drohenden Ärztemangel (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 6/2010

Integrierte Versorgung
Nordfriesen arbeiten gemeinsam gegen drohenden Ärztemangel

Von Dirk Schnack


Zehn Projekte sollen helfen, die medizinische Versorgung an der Nordseeküste zu sichern. Sektorübergreifende Zusammenarbeit ist Voraussetzung für den Erfolg.

Wenn Ärzte nach Gründen für eine nachlassende Attraktivität ihres Berufes gefragt werden, nennen viele von ihnen die zunehmende Bürokratie. Dieser seit vielen Jahren beklagte Missstand ist auch in Nordfriesland erkannt und als so wichtig eingeschätzt worden, dass eine Projektgruppe Lösungsvorschläge für das Problem erarbeiten soll. Doch anders als bei den neun weiteren Projekten fand sich hierfür kein Projektpate, der die Koordination übernimmt und die Projektarbeit vorantreibt.

Damit ist ein Erfolg dieses wichtigen Einzelprojektes ungewiss. Die Stimmung der rund 80 Gäste in der Husumer Kreisverwaltung, die Landrat Dieter Harrsen zur Vorstellung der Projekte eingeladen hatte, ließ aber hoffen, dass das Gesamtziel, nämlich eine zukunftssichernde integrierende medizinische Versorgung zu schaffen, erreicht werden kann. Harrsen sebst sieht schon in der Vorstellung der Projekte einen "Meilenstein", der aber offensichtlich dringend erreicht werden musste. "Es ist zusehends Thema der Kreispolitik, wie die ärztliche Versorgung sichergestellt werden kann", sagte der Landrat in seiner Begrüßung. Wie wichtig die Kommunalpolitiker das Thema nehmen (müssen), zeigt folgender Satz Harrsens: "Wo keine Ärzte sind, wird die Bevölkerung sich verabschieden." Auch das Gesundheitsministerium in Kiel hat längst erkannt, dass die Anstrengungen für die Sicherung der medizinischen Versorgung vor Ort erhöht werden müssen. Staatssekretärin Dr. Bettina Bonde machte in Husum noch einmal deutlich, dass ihr Haus den Weg über eine Dezentralisierung - wie sie die ärztliche Selbstverwaltung und die Akteure in den Regionen auch gefordert hatten - für richtig hält: "Hin zu mehr regionaler Verantwortung, Entscheidungskompetenz und passgenau auf die Bedarfe der Bevölkerung vor Ort zugeschnittene Angebote." Bonde betonte den Handlungsbedarf für Nordfriesland. Bis zum Jahr 2015 werden voraussichtlich 46 Prozent der derzeit 154 praktizierenden Hausärzte in Ruhestand gehen. Bei den Fachärzten sieht es ähnlich aus. In nur fünf Jahren werden alle sechs im Kreis praktizierenden Fachärzte für Psychotherapie 65 Jahre oder älter sein. Bei den Augenärzten sind dann vier von acht 62 Jahre oder älter. "Dies zeigt die elementare Bedeutung der Wiederbesetzung von Arztsitzen", sagte Bonde.

Die Staatssekretärin ging auch auf die von Krankenkassen gern angeführten Durchschnittszahlen ein, die rein rechnerisch selbst in Nordfriesland eine Überversorgung abbilden. Denn die Zahl der derzeitigen Hausärzte ist nach Lesart der Planungsstatistik so ausreichend, dass man rund elf Prozent über der Plangröße liegt. Bonde dazu: "Für die Menschen, die im Land zum Arzt müssen, kommt es nicht auf Mittelwerte an, sondern auf die tatsächliche Erreichbarkeit ihres Arztes." Wie ausgefüllt zugleich die Arbeitstage der niedergelassenen Ärzte im Kreis schon heute - bei rechnerischer Überversorgung - sind, zeigt das Beispiel des Landarztes Horst Kiehl aus Wester-Ohrstedt (Seite 27), der zusammen mit vielen seiner Kollegen die Vorschläge in Husum interessiert verfolgte. Viele Beteiligte sehen offenbar eine engere Zusammenarbeit der an der Gesundheitsversorgung Beteiligten als Voraussetzung an, um dauerhaft die medizinische Versorgung im Kreis sichern zu können. Bonde sieht in dieser Hinsicht noch einigen Nachholbedarf: "Manchmal hat man den Eindruck, dass die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Sektoren, zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern besonders schwer und konfliktbelastet ist."

Doch es ist nicht die Zahl der Ärzte und die Zusammenarbeit der Akteure allein, weshalb man sich in Nordfriesland Gedanken über die künftige medizinische Versorgung macht. Ralf Duckert von dem mit der Umsetzung beauftragten Unternehmen dsn machte deutlich, dass weitere Faktoren eine Rolle spielen. U.a. gehören dazu:

- das Risiko der steigenden Multimorbidität und Pflegebedürftigkeit durch das hohe Alter;
- die Probleme der Finanzierung medizinischer und pflegerischer Leistungen durch eine älter werdende Gesellschaft;
- Akzeptanzprobleme aufseiten der Leistungsanbieter und Patienten, wenn es um den Einsatz moderner Informationstechnologie geht.

Zur Situation in Nordfriesland, wo die niedergelassenen Ärzte derzeit im Durchschnitt 54 Jahre alt sind: Die Zahl der im Kreis lebenden Menschen wird sich bis zum Jahr 2025 voraussichtlich auf rund 161.000 verringern, zugleich steigt ihr Durchschnittsalter von heute 43 auf dann 48 Jahre. Schon in zehn Jahren wird es im Kreis erstmals mehr Menschen geben, die ihren 50. Geburtstag schon hinter sich haben, als unter 50-Jährige. Die Fallzahl im Klinikum Nordfriesland, mit vier Standorten im Kreis zentrale Säule der medizinischen Versorgung, wird nach Prognosen im Jahr 2025 um 3.280 auf dann 22.960 steigen. Die Zahl der Haupt- und Nebendiagnosen als Index für die Zunahme der Multimorbidität wird um 25 Prozent zunehmen. Angesichts dieser Perspektiven sieht Harrsen die auf dem Tisch liegenden Vorschläge zwar als Fortschritt an, mahnte aber zugleich eine Umsetzung an. Denn: "Noch haben wir die Lösung nicht gefunden."

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Für die zehn Projekte in Nordfriesland zur Sicherung der medizinischen Versorgung gibt es bereits Vorstellungen für mögliche Partner und - bis auf Projekt Nummer 9 - jeweils einen Projektpaten, der bei der weiteren Umsetzung unterstützt. Die zehn Projekte des Kreises in Kurzform:

1. Schaffung von Transparenz im Bereich niedrig- und höherschwelliger Angebote für Demenzkranke: Ziel ist die Unterstützung der pflegerischen Versorgung durch wohnortnahe Angebote in der Geriatrie und Gerontopsychiatrie.

2. Weiterbildungs- und Umschulungsmöglichkeiten für Pflegeberufe in der Geriatrie/Gerontopsychiatrie: Aufgrund der demografischen Entwicklung wird der Bedarf an Pflegekräften in den kommenden Jahren steigen. Um ihn zu decken, können Altenpfleger durch Pflegehelferinnen unterstützt werden. Dazu sollen die Umschulungsmöglichkeiten erfasst und bei Bedarf weiterentwickelt, verbessert und vernetzt werden.

3. Ausbildungsmodell "Alles aus einer Hand" für Allgemeinmediziner: Um die Ausbildung attraktiver zu gestalten, soll sie nach dem Vorbild einiger anderer Regionen komplett durch das Krankenhaus organisiert werden. Der Weiterbildungsassistent soll sich darum nicht mehr kümmern müssen.

4. Einsatz von Telemedizin in der Psychiatrie: Hiervon sollen Patienten auf den Inseln und Halligen profitieren. Ziel ist eine qualitativ hochwertige psychologische Versorgung psychisch Kranker, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind.

5. Akzeptanzerhöhung für Helfer: Bei diesem Modellprojekt werden Arzthelferinnen in der ambulanten Versorgung eingesetzt, um Hausärzte in den ländlichen Gebieten Nordfrieslands zu unterstützen und zu entlasten.

6. Förderung der Anwendung gemeinsamer Behandlungspfade zwischen niedergelassenen Ärzten und Kliniken: Ziele sind eine größere Transparenz und ein abgestimmtes Leistungsspektrum.

7. Aufbau (virtueller) ortsübergreifender Gemeinschaftspraxen: Ärzte gleicher Fachrichtungen bilden eine Gemeinschaftspraxis, ohne die verschiedenen Standorte anzutasten. Die Praxispartner profitieren von den daraus resultierenden Synergieeffekten. Ziel ist eine verringerte Arbeitsbelastung der Praxisinhaber, ohne die Versorgung vor Ort einschränken zu müssen. Voraussetzung ist eine einheitliche EDV.

8. Fachgremium für die Geriatrie/Gerontopsychiatrie: Akteure der Altenhilfe sollen sich auf kommunaler Ebene zusammenschließen, um in diesem Fachgebiet über Pflegeangebote, ärztliche Versorgung, alternative Wohnformen und Kommunikation und Kooperation zu beraten.

9. Reduktion des administrativen Aufwands im Bereich krankenkassenbezogener Informationen und Bündelung der Nachfrage von Arztpraxen: Ziel ist eine Entlastung von administrativen Tätigkeiten in Klinik und Praxen. Das Projekt soll die effektive Arbeitszeit der Ärzte zur Patientenbehandlung erhöhen, die Wirtschaftlichkeit steigern und Arbeitsabläufe optimieren.

10. Finanzielle Anreizsysteme zur Unterstützung der Niederlassungsbereitschaft von Ärzten: Weil sich junge Ärzte bevorzugt in größeren Städten ansiedeln, wird die Suche nach einem Nachfolger in Landarztpraxen zunehmend schwieriger. Einzelne Kassenärztliche Vereinigungen in anderen Bundesländern gewähren deshalb in bestimmten Regionen Zuschüsse für die Niederlassung, die im Einzelfall mehrere Zehntausend Euro betragen können. In Schleswig-Holstein gibt es bislang Umsatzmindestgarantien für neu niedergelassene Ärzte. Die Projektgruppe soll sich mit weiteren Möglichkeiten wie zinsvergünstigten Krediten oder Mietzuschüssen befassen und diese auf ihre Durchsetzbarkeit prüfen.

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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 6/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201006/h10064a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Allgemeinmediziner Dr. Thomas Maurer (rechts) warb auf der Veranstaltung in der Husumer Kreisverwaltung als Projektpate für die Bildung ortsübergreifender Gemeinschaftspraxen.

Abb.: Standorte der ambulanten und stationären Gesundheitsversorgung im Kreis Nordfriesland. Kartengrundlage: DTK50, LVermA S-H
Datenquelle: Kreis Nordfriesland 2009b:dsn, eigene Darstellung

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Juni 2010
63. Jahrgang, Seite 24 - 26
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-119, -127, Fax: -188
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.org
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. August 2010

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