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ARTIKEL/1153: Gesundheitsgerecht - Soziale Gesundheitspolitik und -wirtschaft ... Einleitung (spw)


spw - Ausgabe 4/2010 - Heft 179
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Gesundheitsgerecht - Soziale Gesundheitspolitik und -wirtschaft

Einleitung zum Schwerpunkt

Von Felix Welti


Die gesundheitspolitischen Diskussionen im Bundestag folgen in jeder Wahlperiode ähnlichen Grundmustern: Es geht um Kostenverteilung zwischen Versicherten und Arbeitgebern und um Kostendämpfung zwischen Versicherten und Leistungserbringern. Die Auseinandersetzungen in diesem Dreieck, stehen primär unter der Frage, welcher Anteil am Sozialprodukt für das Gesundheitswesen aufgewandt wird und wer ihn aufzubringen hat. Dieser verteilungspolitische Konflikt, der auch die Verteilung zwischen Arbeit und Kapital, die Umverteilung unter den Beschäftigten und die Solidarität mit chronisch kranken und behinderten Menschen betrifft, ist nicht unmodern. Er ist auch heute wieder zu führen.

Hinter der Verteilungspolitik sind immer wieder Fragen des Nutzens und Gebrauchswerts von Gesundheitsleistungen in den Hintergrund getreten. Gesundheit und Gesundheitsleistungen sind Voraussetzung anderer Lebensbereiche. Sie sichern die Arbeitskraft und ihre Reproduktion. Schon insoweit ist ein soziales Gesundheitswesen nicht nur Konsumtion anderswo erwirtschafteten Produkts, sondern zugleich Voraussetzung ökonomischer Reproduktion. Gesundheit ist auch deshalb keine nur individuelle Frage, sondern steht am Schnittpunkt von Mensch und Gesellschaft. Die Art, wie wir arbeiten und leben, bestimmt darüber, was wir für krank und gesund halten und wer wie krank und gesund wird. Diese Dimension von "Public Health" in Erinnerung zu bringen, ist eine Aufgabe fortschrittlicher Gesundheitspolitik.

In den letzten Jahren ist ein neuer Punkt hinzugetreten: Zunehmend wird die Produktion von auf Gesundheit bezogenen Dienstleistungen und Waren nicht mehr nur unter dem Gesichtspunkt der Kosten und Gebrauchswerte, sondern auch als ökonomische Größe gesehen. Dabei geht es zum einen um jenes gute Zehntel der Beschäftigten in Deutschland, die daran arbeiten - sei es in Krankenhäusern und Arztpraxen, sei es in Pflege und Rehabilitation, sei es in pharmazeutischen Unternehmen oder im Gesundheitshandwerk. Zum zweiten geht es um den Profit, der von und mit ihnen erwirtschaftet werden kann. "Gesundheitswirtschaft" ist zum Reizwort geworden: Positiv ist sie für diejenigen, die auf Wachstums- und Beschäftigungspotenziale hinweisen und in der Gesundheitswirtschaft ein qualitatives, sozial erwünschtes und demografisch zwangsläufiges Wachstumsfeld sehen, das geradezu paradigmatisch für den Wandel zu einer qualifizierten Dienstleistungsökonomie stehen könnte. Problematisch ist sie für diejenigen, die einen nach solidarischen politischen Kriterien organisierten Sektor nicht "der Wirtschaft" subsumieren wollen, die mit betriebswirtschaftlichen Logiken und Profitorientierung assoziiert wird. Auf der anderen Seite finden sich dann auch genau diejenigen, für die Gesundheitswirtschaft eine Chiffre für die kapitalistische Landnahme in bisherigen Non-Profit-Bereichen ist, für die Privatisierung von Krankenhäusern, für Krankenkassen, die so tun, als seien sie schon private Unternehmen und ihre Energien mehr dem Marketing verschreiben als der Versorgungsqualität, und für eine freie Wohlfahrtspflege, die ihre Herkunft aus der solidarischen Selbsthilfe immer besser hinter Management-Phrasen zu verstecken scheint.

Der vorliegende Heftschwerpunkt versucht das Spannungsfeld von Gesundheitspolitik und Gesundheitswirtschaft an Hand ausgewählter Aspekte zu beleuchten. Uwe Kremer stellt die Diskussion in den Kontext einer alternativen Wirtschaftspolitik qualitativen Wachstums, wie sie bei SPD, Grünen und Linken seit den ersten Crossover-Debatten der 1990er Jahren entwickelt wird. Er zeigt die sozialistische Position auf, die Sphären von Politik und Wirtschaft nicht nach völlig getrennten Funktionslogiken zu bewerten, sondern berechtigte Ansprüche nach Solidarität und Gebrauchswertorientierung auch im ökonomischen Sektor zu stellen. Damit könnte die Diskussion über Gesundheitswirtschaft vom Niveau einer einerseits apologetischen Begleitung von Geschäftemacherei und einer andererseits hilflosen Abwehr dieser Tendenzen auf eine neue Stufe gebracht werden, bei der ein ökonomisch relevantes Feld bewusst nach sachgerechten und solidarischen Kriterien gestaltet wird. Sozialversicherung, Kommunen und Wohlfahrtspflege hätten hier Potenziale als Gestaltungsfaktoren für eine soziale Demokratie, in der sich die Gesellschaft nicht nur in der Form von Markt oder Staat zu entfalten vermag. Eine Voraussetzung für eine solche alternative Konzeption von Gesundheitswirtschaft wäre sicher, mit den Mythen der zuletzt geführten Debatte aufzuräumen. Hierzu leisten Bernard Braun und Joachim Larisch einen wichtigen Beitrag, indem sie auf negative Effekte einer schlichten Wachstumsorientierung und Fehlentwicklungen in der Beschäftigung im Gesundheitssektor hinweisen.

Wie essentiell die Gesundheit der arbeitenden Menschen in der Krise durch die Vernutzung ihrer Arbeitskraft auch heute bedroht ist, verdeutlicht der Beitrag von Klaus Pickshaus. In ihm wird aufgezeigt, dass der intensivere Zugriff auf die Arbeitskraft mit schweren Gefährdungen insbesondere der psychischen Gesundheit verbunden ist. Immer mehr Beschäftigte erkennen allerdings, dass das "Humankapital" ihr Eigenes ist, das sie am Besten solidarisch vor übermäßigem Zugriff anderer schützen müssen.

Den Zusammenhang zwischen den Finanzierungsformen der Krankenversicherung und der Qualität und Verteilung der Gesundheitsleistungen zeigen Karl Lauterbach und Markus Lüngen auf. Sie zeigen, dass die Existenz eines privilegierten Sektors privater Versicherung nicht nur ein verteilungspolitisches Problem ist, sondern auch die Qualität und Infrastruktur unseres Gesundheitswesens durch Fehlanreize bedroht. Sie zeigen damit auch auf, dass die Nutznießer unsolidarischer Finanzierung nicht nur diejenigen sind, die unzureichend zur Solidarität durch Beiträge herangezogen werden. Profiteure sind auch jene, die ihre "Gesundheitswirtschaft" mit zweifelhaften Angeboten für die Kaufkraft der Besserverdienenden aufbauen wollen. Wer von Kassenbeiträgen für die Kinderarztbesuche der "Unterschicht" entlastet wird, kann mehr für individuelle Wellness und zweifelhafte Zusatzleistungen aufwenden.

Auch an Hand der Erfahrungen in der Schweiz und den Niederlanden beleuchten Simone Leiber und Stefan Greß die deutsche Diskussion um die Finanzierung der Krankenversicherung. Sie zeigen, dass Kopfpauschalen nicht nur unsolidarisch sind, sondern auch sonst keinen Beitrag zur Lösung der Probleme des Gesundheitswesens leisten können. Allerdings können sie, wie in den beiden Ländern deutlich wird, die Privatisierung vormals öffentlicher Sozialversicherungsträger fördern und so zur Expansion der Finanzwirtschaft in die Gesundheitswirtschaft führen.

Eine weitere internationale Sicht bringt Leonhard Hajen ein, der die gerade geführten Kämpfe um die Gesundheitsreform in den USA darstellt und analysiert. Die dortigen Entwicklungen zeigen, dass ein hoher Mitteleinsatz und ein hoher Privatisierungsgrad in der Gesundheitswirtschaft weder zu einer akzeptablen Verteilung von Gesundheitschancen noch zu besonders hohen Graden von Nutzen und Qualität führen. Dies verdeutlicht auch Thomas Gebauer, der die globale Dimension der Ungleichheit von Gesundheitschancen, die globale Bedrohung durch eine bloße Kommerzialisierung des Gesundheitswesens und die Widerstandsperspektive der Selbsthilfebewegung aufzeigt. Regierungen, die nicht in der Lage sind, gemeinsam gegen Hunger, Säuglingssterblichkeit und vermeidbare Infektionskrankheiten vorzugehen, und die Rettungsschirme für Banken vor der Rettung sterbender Kinder priorisieren, brauchen Druck von unten.

Gesundheitspolitik und Gesundheitswirtschaft erweisen sich als zentrale Themen des 21. Jahrhunderts. Eine gesellschaftliche Linke wird sich auf diesem Gebiet beweisen müssen.

Felix Welti ist Professor für Sozialrecht und Verwaltungsrecht an der Hochschule Neubrandenburg und im spw-Zusammenhang aktiv.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 4/2010, Heft 179, Seite 11-13
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. September 2010

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