Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → GESUNDHEITSWESEN

POLITIK/1744: Debatte - Steuerfinanzierung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (spw)


spw - Ausgabe 1/2011 - Heft 182
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Debatte: Steuerfinanzierung in der Gesetzlichen Krankenversicherung - Pro & Contra

Von Florian Blank, Simone Leiber und Claus Schäfer


VORBEMERKUNG

In der Debatte um die Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist die (stärkere) Bezuschussung des Systems aus Steuermitteln eine immer wieder diskutierte Reformoption, sei es als Ergänzung der von Arbeitnehmern und Arbeitgebern geleisteten Beiträge, sei es in Form des Solidarausgleichs in einem Prämienmodell. Immer stellen sich Fragen nach dem Sinn und Zweck einer Ergänzung der GKV-Einnahmen aus dem Bundeshaushalt.

Beim Abwägen des Für und Wider ist die Ausgangsposition zu bedenken. 2010 trugen Steuern schon etwa 15 Mrd. Euro zum Budget der GKV bei (zum Vergleich: 2009 beliefen sich die gesamten Einnahmen der GKV auf 172 Mrd. Euro). Verglichen mit anderen Zweigen der Sozialversicherung erfolgte der Einsatz von Steuermitteln spät und unterlag starken Schwankungen (siehe unten). Von zunächst 2,5 Mrd. Euro ausgehend (2005) wurde der Steuerzuschuss für die so genannten versicherungsfremden Leistungen schrittweise ausgebaut. Zuletzt wurden die im SGB V vorgesehenen Steuermittel auch durch Gelder aus den Konjunkturpaketen aufgestockt. Dennoch wird für 2011 vom Bundesministerium für Gesundheit ein ungedeckter Finanzbedarf von 9 Mrd. Euro in der GKV erwartet.


Steuerfinanzierung in der GKV
Staatliche Zuschüsse zur gesetzlichen Krankenversicherung
in Deutschland in Mrd. Euro

2005: 2,5
2006: 4,2
2007: 2,5
2008: 2,5
2009: 7,2
2010: 15,7


Im Folgenden werden vor diesem Hintergrund Argumente dafür und dagegen aufgeführt, künftig weiter auf eine Strategie der Teilfinanzierung durch Steuermittel zu setzen. Diese wird hier so verstanden, dass die Steuermittel mindestens auf heutigem Niveau verstetigt oder sogar weiter ausgebaut werden. Eine vollständige Umfinanzierung auf Steuern steht hier nicht zur Diskussion, denn sie wäre mit dem Sozialversicherungsmodell unvereinbar. Gegenwärtige Reformvorschläge und Berechnungen zu einer solidarischen und nachhaltigen Finanzierung des Gesundheitssystems (Reformkommission 2010, Rothgang et al. 2010, SPD 2011) gehen weiter von einer zentralen Rolle der Beitragsfinanzierung aus, sind aber grundsätzlich vereinbar mit Zuschüssen aus dem Steueraufkommen.


PRO-ARGUMENTE

Breitere Einnahmebasis/Nachhaltigkeit: In den letzten Jahrzehnten wuchs die Bruttolohn- und Gehaltsumme langsamer als das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Die Gesundheitsausgaben haben sich dagegen ähnlich wie das BIP entwickelt. Allein aus diesem Grund ist es problematisch, die Einnahmen der GKV fast ausschließlich an die Bruttolohn- und Gehaltsumme zu koppeln. Eine Verbreiterung der Einnahmebasis durch Steuern könne dagegen Abhilfe schaffen.(1)

Beitragsstabilität: (Zusätzliche) Steuern können im Rahmen einer Mischfinanzierung den Beitragssatz stabil halten, wenn zusätzliche Aufgaben oder Ausgaben anfallen. Sie können zudem, wenn die Beitragseinnahmen sinken und der Beitragssatz (relativ) stabil bleiben soll, für eine Einnahmestabilisierung und konjunkturellen Ausgleich sorgen. So können speziell Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt - konjunkturelles Sinken der Gesamtbeschäftigung, strukturelle Verschiebungen weg von Vollzeitarbeit - die Beitragseinnahmen der GKV senken; Steuern sind dann geeignet als willkommener Ausgleich bzw. (vorübergehender) Anpassungspuffer. In beiden Fällen stellt sich aber das Problem, dass der Umfang der Steuerfinanzierung regelmäßig neu politisch bestimmt werden muss.

Der Finanzbeitrag durch Steuern könnte jedoch im Sinne einer Ausfallgarantie automatisiert werden. Dadurch können Befürchtungen stark relativiert werden, Steuern könnten stärker als Beiträge von politischen Wertentscheidungen oder Ad hoc-Beschlüssen abhängig sein. Allerdings setzt auch das einen politischen Konsens bspw. über die (maximale) Höhe des Beitragssatzes voraus.

Gesamtwirtschaftliche und Beschäftigungseffekte: Ein Umstieg auf einen höheren Steueranteil bei gleichzeitiger Senkung der Beitragssätze hat u. U. positive Beschäftigungseffekte. Zunächst würde - für sich genommen - die gesamte Abgabenquote in der Volkswirtschaft unverändert belassen.(2) Allerdings würden die Anreize für Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt deutlich verändert. Die Reduzierung der Arbeitskosten über niedrigere Beiträge könnte ceteris paribus sowohl beschäftigungsfördernd und preissenkend wirken als auch - im Endergebnis - die realen Nettoeinkommen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erhöhen. Simulationsrechnungen mit einem makroökonometrischen Modell (Meinhardt/Zwiener 2005) zeigen, dass bei einer Kombination von Lohn-/ Einkommensteuer und Mehrwertsteuer zur Gegenfinanzierung einer Senkung der Beitragssätze insgesamt die besten gesamtwirtschaftlichen Wirkungen erreicht würden. Das verteilungspolitisch "bessere" Ergebnis zeigt allerdings die Lohn-/Einkommensteuer (ebd.; Leiber/Zwiener 2007).

Gerechtigkeit/gesamtgesellschaftliche Aufgaben: Den Beitragszahlern soll die (beitragserhöhende) Finanzierung von so genannten versicherungsfremden Leistungen - bzw. eigentlich gesamtgesellschaftlichen Aufgaben - nicht aufgebürdet werden, auch wenn die Abgrenzung solcher Aufgaben schwierig und politisch ist.(3) Im Einzelnen ist ihre Definition allerdings eindeutig möglich, wie z.B. bei den Vorsorge- und Gesundheitsleistungen für Kinder, für die dann der Einsatz von Steuermitteln legitim scheint.(4)

Schwankungs-/Kürzungsanfälligkeit: Um der vermeintlich größeren Schwankungs- und Kürzungsanfälligkeit(5) der Steuerfinanzierung entgegenzuwirken, lassen sich "Schutzmechanismen" einbauen. Hierzu zählt neben der oben erwähnten "Ausfallgarantie" etwa die verlässliche politische Bindung der Steuerfinanzierung an Kriterien (z.B. bestimmte versicherungsfremde Leistungen, die übernommen werden sollen). Allerdings kann auch hier hinterfragt werden, wie weit dieser Schutz trägt, da er durch politische Entscheidungen stets revidierbar ist.

Gerechtigkeit/Verteilungswirkungen: Steuern können die Finanzierungslasten gerechter verteilen als - heutige! - Beiträge, wenn sie über progressiv wirkende Steuerarten beschafft werden. Steuern können aber kaum ungerechter wirken als - heutige! - Beiträge, da diese ähnlich wie Verbrauchsteuern (Mehrwertsteuer) regressiv wirken.

Geteilte Verantwortung: Steueranteile zwingen neben den Beitragszahlern auch die allgemeine Öffentlichkeit bzw. alle Steuerzahler zur Sensibilität gegenüber GKV-Entwicklungen.

Selbstverwaltung: Ein Steuerbeitrag ist nicht per se Einfallstor für eine Aufweichung der Selbstverwaltung der GKV. Letztere ist allein vom Gesetzgeber abhängig und auch völlig unabhängig von Steuerfinanzierung möglich.


CONTRA-ARGUMENTE

Politischer Hintergrund Haushaltskonsolidierung/ Kürzungsanfälligkeit: Höhere Steueranteile bzw. die Verpflichtung des Bundes zu einem größeren Beitrag könnten die politische Wirkung haben, dass zum Zweck der Haushaltskonsolidierung verstärkt die Ausgaben gesenkt werden sollen mit den potentiellen Folgen Leistungskürzung und Privatisierung.(6) Es ist angesichts der aktuellen Größe des für den Bereich "Soziales" und speziell für die Sozialversicherungen aufgewendeten Mittel im Bundeshaushalt nicht unwahrscheinlich, dass eine höhere steuerliche Förderung der GKV, d.h. eine Vergrößerung des Posten "Soziales", nicht ins Gesamtbild passt, zumal wenn Steuersenkungen angestrebt werden. Zudem ist festzuhalten, dass auch das Steueraufkommen nicht unabhängig von der konjunkturellen Entwicklung ist.

Erosion der Selbstverwaltung: Eine stärkere Steuerfinanzierung könnte - auch wenn eine paritätische Selbstverwaltung weiter möglich ist - den Charakter einer parastaatlichen Sozialversicherung in Verantwortung der Sozialpartner erodieren lassen.

Erosion des Charakters der solidarischen Sozialversicherung: Mit dem Ausbau der Steuerfinanzierung ist die - bisher hypothetische - Gefahr verbunden, dass die Verlagerung der solidarischen Elemente aus der GKV ins Steuersystem im Zusammenspiel mit anderen Reformen (Wettbewerb zwischen den Krankenkassen, Anwendung des Kartellrechts auf die Krankenkassen) den auch europarechtlich abgesicherten Charakter der GKV als geschütztes System der sozialen Sicherung unterminiert (z.B. Kingreen 2007). Wird die soziale Umverteilung zwischen hohen und niedrigen Einkommen innerhalb der GKV geschwächt, werden die Krankenkassen privatwirtschaftlichen Versicherungsunternehmen immer ähnlicher und müssen dann gegebenenfalls nach den entsprechenden Regeln spielen - sozialpolitische Ausnahmeregeln bspw. in der Vertragsgestaltung könnten dann für sie nicht mehr gelten.

Erosion des Solidarprinzips: Die Bindung der Steuerfinanzierung an so genannte gesamtgesellschaftliche Aufgaben birgt potentiell die Gefahr, dass die Frage "wer kostet was" aufkommt und zwischen Versichertengruppen differenziert wird.


ABSCHLUSS

Abschließend möchten wir betonen, dass es aus unserer Sicht in der Diskussion um eine Verstetigung des Steuerzuschusses nicht um einen Systemwechsel gehen kann und soll. Das System der Beitragsfinanzierung allein lässt sich schon durch eine ganze Reihe von Stellschrauben nachhaltiger und solidarischer gestalten (z.B. Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze, Einbezug der PKV-Versicherten in den Risikostrukturausgleich und Verbeitragung anderer Einkommensarten als Lohn). Die Steuerfinanzierung kann jedoch ein weiterer Baustein für die dauerhafte Sicherung der Finanzierungsbasis sein.


ANMERKUNGEN

(1) Funktionales Äquivalent dafür könnte - je nach konkreter Ausgestaltung - auch die Verbeitragung von anderen Einkommensarten als Lohn, wie etwa Einkommen aus Kapital (Zinsen) sein. Auf Grund der Beitragsbemessungsgrenzen in der Sozialversicherung ist es jedoch nicht einfach, Versicherte, deren Einkünfte sich in unterschiedlicher Gewichtung aus Kapital- und Erwerbseinkommen zusammensetzen, nicht ungleich zu behandeln. Dieses Problem lässt sich durch eine Anhebung der Beitragsbemessungsgrenzen zwar nicht lösen, aber mildern. Auch ist mit einem zusätzlichen administrativen Aufwand bei der Verbeitragung anderer Einkommen neben Lohn zu rechnen. Einige Modelle schlagen daher als Mittel zur Einbeziehung zusätzlicher Einkunftsarten in die Krankenversicherung eine Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge vor, womit die Grenze zwischen einer steuer- und einer beitragsbezogenen Lösung verschwimmt.

(2) Formal kann dabei je nach gewählter Steuerart die Abgabenlast der privaten Haushalte zu- und die der Unternehmen abnehmen oder umgekehrt. Die effektive Abgabenlast hängt allerdings von den zur Gegenfinanzierung gewählten Steuern und deren Überwälzungsmöglichkeiten ab.

(3) Bereits heute wird die Steuerfinanzierung in der GKV mit der Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben begründet. Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zählt dazu Leistungen, die keinen Bezug zu Krankheit typischen Versicherungsfall der gesetzlichen Krankenversicherung haben. Das beinhalte u.a. Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft, vor allem aber auch die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern und anderen Familienangehörigen (BMELV 2010). Einige Studien (z.B. Sachverständigenrat 2005) zählen sogar die gesamte Einkommensumverteilung zwischen einkommensschwächeren und einkommensstärkeren Beitragszahlern in der GKV als versicherungsfremde Leistung, was die großen Unterschiede in den Summen der als versicherungsfremd bezeichneten Leistungen erklärt (45 Mrd. Euro nach Sachverständigenrat 2005, rund 22 Mrd. Euro etwa nach Meinhardt/Zwiener 2005). Die GKVen weisen zudem auf die von ihnen übernommenen Präventionsleistungen hin, die auch privat Versicherten zugute kämen.

(4) Insbesondere die Frage, inwiefern die Familienmitversicherung zu den versicherungsfremden Leistungen oder umgekehrt gerade zu den originären Prinzipien der Sozialversicherung zu zählen ist, ist aber umstritten.

(5) Empirisch bestätigt sich diese in Deutschland zwar für die GKV und Arbeitslosenversicherung, nicht aber für die Gesetzliche Rentenversicherung.

(6) Dies heißt im Umkehrschluss allerdings nicht, dass Beitragsfinanzierung gegenüber solchen Kürzungen immun macht. Die Gesundheitspolitik der vergangenen Jahre hat ja gerade gezeigt, wie das Ziel der Beitragssatzstabilität über Leistungskürzungen und -ausgliederungen verfolgt wurde, ohne dass Steuermittel in nennenswertem Ausmaß involviert waren.


Dr. Florian Blank ist Wissenschaftler im Bereich Sozialpolitik im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung.

Prof. Dr. Simone Leiber ist Professorin für Sozialpolitik an der Fachhochschule Düsseldorf.

Dr. Claus Schäfer ist Leiter der Abteilung
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI)
in der Hans Böckler-Stiftung.


LITERATUR/QUELLEN:

BMELV (2010):
Fragen und Antworten zur Beteiligung der landwirtschaftlichen Krankenversicherung an Bundesmitteln zur Finanzierung versicherungsfremder Leistungen,
http://www.bmelv.de/SharedDocs/Standardartikel/Landwirtschaft/Agrar-Sozialpolitik/Krankenversicherung/FAQzumGKV-WSG2.html.

Kingreen, Thorsten (2007):
Europarechtliche Implikationen des Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz - GKV-WSG), Rechtsgutachten für den DGB und die Hans-Böckler-Stiftung, Regensburg.

Leiber, Simone/Rudolf Zwiener (2007):
Wirtschaftliche Rahmenbedingungen und Finanzierungsgrundlagen des Sozialstaates, in: WISO Diskurs: Zukunft des Sozialstaats - Sozialpolitik Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, 89-101.

Meinhardt, Volker/Rudolf Zwiener (2005):

Gesamtwirtschaftliche Wirkungen einer Steuerfinanzierung
versicherungsfremder Leistungen, Berlin.

Reformkommission "Für ein solidarisches Gesundheitssystem der Zukunft" (2010):
Bürgerversicherung statt Kopfpauschale, Berlin.

Rothgang et. al (2010):
Berechnungen der finanziellen Wirkungen verschiedener Varianten einer Bürgerversicherung in der Gesetzlichen Krankenversicherung, Gutachten im Auftrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Bremen.

Sachverständigenrat (2005):
Die Chancen nutzen - Reformen mutig voranbringen. Jahresgutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2005/06, Wiesbaden.

SPD (2011):
Beschluss des SPD-Präsidiums: Sozialer Fortschritt geht nur gemeinsam: Die Bürgerversicherung,
http://www.spd.de/aktuelles/Pressemitteilungen/5782/20101108_beschluss_praesidium_buergerversicherung.html


*


Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 1/2011, Heft 182, Seite 12-15
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
Abo-/Verlagsadresse:
spw-Verlag / Redaktion GmbH
Postfach 12 03 33, 44293 Dortmund
Telefon 0231/202 00 11, Telefax 0231/202 00 24
E-Mail: spw-verlag@spw.de
Internet: www.spw.de
Berliner Büro:
Müllerstraße 163, 13353 Berlin

Die spw erscheint mit 6 Heften im Jahr.
Einzelheft: Euro 5,-
Jahresabonnement Euro 39,-
Auslandsabonnement Euro 42,-


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. März 2011