Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → KRANKHEIT


DEMENZ/493: Vereint gegen das große Vergessen (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 2, Februar 2022

Vereint gegen das große Vergessen

von Martin Geist


DEMENZ. Zusammenarbeit zwischen medizinischem Bereich und Selbsthilfeorganisationen rücken bei Demenz in den Fokus. Angebote zur Unterstützung und Entlastung sind wichtig.


Es gibt Leiden, denen selbst mit noch so ambitionierter ärztlicher Kunst nur unzureichend begegnet werden kann. Demenz zum Beispiel. Umso wichtiger ist es, auf diesem Feld über die Disziplinen hinweg und vor allem auch mit Selbsthilfeorganisationen zusammenzuarbeiten. Das Thema Demenz ist immer noch erst auf dem Weg, breitere Kreise der Bevölkerung zu erreichen. "In den 1990er-Jahren war das in der Öffentlichkeit ein Tabuthema", sagt Marion Karstens, Vorsitzende der Alzheimer-Gesellschaft Kiel, die heute immerhin 220 Mitglieder zählt, aber nach wie vor reichlich Bewusstseinsarbeit leisten muss.

Einem Tabu kommt die Krankheit des Vergessens heute allerdings längst nicht mehr gleich. "Zum Glück", meint Christiane Berndt, Leiterin der von der Kieler Arbeiterwohlfahrt (AWO) betriebenen Beratungsstelle Demenz & Pflege, die eng mit der Alzheimer-Gesellschaft zusammenarbeitet. Vor Betroffenen und Angehörigen, die frisch mit der Diagnose Alzheimer beziehungsweise Demenz konfrontiert werden, tut sich nach Erfahrung der Sozialpädagogin gleichwohl oftmals immer noch ein Berg des Unwissens auf. Aus nachvollziehbaren Gründen, denn in ihrer Ausprägung und ihrem Verlauf kann diese Krankheit höchst unterschiedliche Formen annehmen.

Umso wichtiger ist ein möglichst guter Austausch zwischen ärztlichen Praxen und Einrichtungen außerhalb des Medizinsektors. Als Person steht dafür Dr. Silke Kraus, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und zugleich Vorstandsmitglied der Alzheimer-Gesellschaft Kiel. Wenn die Kieler AWO zu ihrem regelmäßigen "Treffpunkt Demenz" bittet, ist die Expertin immer mal wieder zu Gast, um über den neuesten Stand in Sachen Diagnose und Therapie zu berichten, aber auch um die Sorgen und Fragen der Betroffenen in Erfahrung zu bringen. "Die Zusammenarbeit zwischen Ärzteschaft und Selbsthilfegruppen klappt viel besser als früher", findet Silke Kraus.

Das tut nach ihrer Überzeugung auch Not, denn mit der Alterung der Gesellschaft breitet sich die Demenz rasch aus. Aktuell sind nach Schätzungen etwa 1,5 Millionen Menschen erkrankt, jährlich werden dabei etwa 280.000 Neudiagnosen gestellt. Bis zum Jahr 2050 erwarten Fachleute laut Kraus eine Verdoppelung der Zahl der Betroffenen, von denen 50 bis 60 % tatsächlich unter Alzheimer leiden und die Übrigen unter anderen Formen. Auch wegen dieser Vielfalt lauert immer ein Stück weit die Gefahr, dass eine Demenzerkrankung je nach Symptom zum Beispiel mit einer Depression verwechselt wird.

"Am Anfang muss immer eine sehr sorgfältige Diagnose stehen", betont Silke Kraus gerade auch wegen solcher Tücken. Das Spektrum reicht dabei von der Anamnese über neuropsychologische und körperliche Untersuchungen bis zu bildgebenden Verfahren wie MRT oder CT. Sinnvoll kann außerdem die Erstellung von EEG oder EKG sein. Auch sonografische Untersuchungen der Gefäße können laut Kraus im Einzelfall nötig sein.

Grundsätzlich lässt sich angesichts dieser Möglichkeiten eine Demenz treffsicher diagnostizieren, jedoch zum Bedauern aller Beteiligten keineswegs so gezielt behandeln. Mit im Grunde nur einer wirklichen Ausnahme: Unter Umständen kann ein schlichter Mangel am Vitamin B12 eine Demenz erheblich verstärken oder womöglich sogar auslösen. Wird das Problem rechtzeitig erkannt, ist zwar leicht Abhilfe zu schaffen, doch ausgerechnet die B12-Analyse gehört noch nicht zum diagnostischen Standardprogramm. "Das betrachte ich als fast fahrlässig" kritisiert die Fachärztin und hofft, dass die Regeln bald geändert werden.

Ein Wundermittel gegen Demenz gibt es davon abgesehen noch immer nicht. Nach wie vor setzen Therapien oft auf Antidepressiva oder Neuroleptika, also auf Medikamente, die eigentlich für ganz andere Krankheitsbilder entwickelt wurden, aber eben auch gegen Gedächtnisschwund beziehungsweise aggressive Verhaltenszüge wirken können.

Umso wichtiger sind angesichts der begrenzten medikamentösen Möglichkeiten aus Sicht von Fachleuten wie Kraus andere Handlungsfelder. "Ganz, ganz wichtig" ist es für die Fachärztin, den Blick darauf zu richten, was der oder die Erkrankte noch kann - und daran anzuknüpfen. Oftmals landet man dann schnell bei Betätigungen außerhalb des eigentlichen Medizinbetriebs. Tanzen zum Beispiel kann nach Meinung von Kraus "sehr effektiv" wirken, in ähnlicher Weise auch Musik machen, weil beides Bewegung mit Denken verbindet. Etwas allgemeiner gefasst gilt das genauso für die Ergotherapie, die motorische und kognitive Prozesse zu fördern vermag.

Nicht weniger bedeutend sind entlastende Angebote für die Angehörigen. Tagespflege oder Alltagsbegleitgruppen erlauben es, durchzuatmen und im positiven Sinn reflektierend mit der jeweiligen Situation umzugehen. Was nicht zuletzt deshalb als unerlässlich gilt, weil Demenz trotz aller Bemühungen eine fortschreitende Krankheit ist, die immer wieder neu bewertet werden muss.

Mit therapeutischen Angeboten von Kunst über Musik bis zu Ergotherapie arbeitet auch die Diakonie Altholstein, die aktuell für ambulant betreute Demenz-WGs in Kiel, Neumünster und Henstedt-Ulzburg zuständig ist. "Natürlich arbeiten wir ganz intensiv mit der Ärzteschaft zusammen", sagt Projektentwicklerin Semra Basoglu und betont: "Davon profitieren alle Seiten. Die Ärzte, wir als Diakonie und vor allem die Demenzkranken und ihre Angehörigen."

"Wir können unterstützend und entlastend für die Praxen wirken", glaubt Sozialpädagogin Christiane Berndt von der AWO-Beratungsstelle. Und Marion Karstens verweist ebenfalls auf vielerlei Möglichkeiten, das Leben mit Alzheimer leichter zu machen. Demenz als Gemeinschaftsaufgabe begreifen, die Betroffenen nicht allein lassen, das sieht sie als zentrale Aufgabe der Alzheimer-Gesellschaft an. So eng wie möglich mit der Ärzteschaft auf der einen und Organisationen wie der Alzheimer-Gesellschaft auf der anderen Seite zusammenzuarbeiten, ist dabei nach ihrer Überzeugung unerlässlich.

Gerade in städtischen Räumen wie Kiel ist unter diesen Vorzeichen viel möglich. Sitztanz, ganzheitliches Gedächtnistraining, Rehasport, Gesprächskreise für Angehörige, das zum zwanglosen Verweilen einladende "Café Sonnenschein", die Alzheimer-Gesellschaft bietet im Bunde mit verschiedenen Kooperationspartnern zahlreiche Möglichkeiten. Bei Bedarf sind Schulungen für spezielle Zielgruppen möglich. So können beispielsweise Kräfte an Empfangstresen von Praxen oder Kliniken in einem kurzen Kurs das Einmaleins im Umgang mit Demenzkranken erlernen. Die große Unbekannte heißt bei vielen Angeboten aber nach wie vor Corona. Es kommt immer auf die jeweilige Infektions- und Rechtslage an, was aktuell in welcher Weise stattfinden kann. Mehr Informationen unter alzheimer-kiel.de oder alzheimer-sh.de oder awo-kiel.de oder diakonie-altholstein.de

*

Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 2, Februar 2022
75. Jahrgang, Seite 20-21
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 12. März 2022

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang