Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → KRANKHEIT

DIABETES/1241: Bewegungsprogramm BEL - Schulung von Diabetes mellitus Typ 2-Patienten (f.i.t.)


f.i.t. - Forschung . Innovation . Technologie
Das Wissenschaftsmagazin der Deutschen Sporthochschule Köln 1/2009

"BEL. Bewegung neu erleben"
Pilotstudie eines integrativen Bewegungsprogramms für die Schulung von Diabetes mellitus Typ 2-Patienten

Ein Beitrag von Thanh-Mai und Ludwig Bettina Schaar
Institut für Rehabilitation und Behindertensport


Die Relevanz von Bewegung als wesentlicher Baustein der Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 ist bereits bekannt und wissenschaftlich belegt (vgl. BOULÈ et al. 2001). Ungeachtet dieser Tatsache, wird Bewegung in den Diabetes-Schulungen bis heute noch häufig vernachlässigt. Die Leitlinien der Deutschen Diabetes Gesellschaft, DDG, (vgl. KEMMER et al. 2007; www.deutsche-diabetesgesellschaft. de) fordern den vermehrten Einsatz von Bewegung und Sport, doch bisher mangelt es an entsprechenden Programmen zur praktischen Umsetzung in der Schulung. Daraus resultierte die Idee zur Konzeptionierung eines speziell auf Schulungen von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 ausgerichteten Bewegungsprogramms. "BEL. Bewegung neu erleben" wurde in Zusammenarbeit mit Lilly Deutschland GmbH entwickelt und soll Diabetes-Patienten im Rahmen ihrer Schulung an Bewegung heranführen. Das Programm zielt darauf ab, den Patienten die positiven Effekte von Bewegung praktisch zu vermitteln, sie zu mehr Bewegung im Alltag zu motivieren und somit eine Initialzündung zu setzen, die den Patienten zu einem dauerhaft aktiveren Lebensstil verhilft.


Diabetes mellitus Typ 2 hat sich in den vergangenen Jahrzehnten von einer seltenen Erkrankung zu einer Volkskrankheit entwickelt. Die Bezeichnung "Altersdiabetes" trifft auf dieses Krankheitsbild nicht mehr zu, da mehr und mehr auch jüngere Menschen betroffen sind. Verschiedene Studien, die sich seit Ende der 80er Jahre mit der Diabetes-Prävalenz beschäftigen, zeigen, dass es in Deutschland etwa 6 Millionen Frauen und Männer mit einem diagnostizierten Diabetes gibt, das entspricht etwa 7% der Bevölkerung (vgl. HAUNER et al. 2003). Seit 1960 kam es zu einem Anstieg der Diabetes mellitus Typ 2-Betroffenen um mehr als das Zehnfache (vgl. HAUNER 2005), was auch auf eine stetige Zunahme des metabolischen Syndroms und der damit einhergehenden Adipositas zurückzuführen ist. Aufgrund der hohen Anzahl an Betroffenen und den mit Diabetes mellitus Typ 2 assoziierten Folgeerkrankungen wie Neuropathie, Nephropathie und Retinopathie kommt es zu einer hohen finanziellen Belastung des Gesundheitswesens. Die durch Diabetes-Patienten verursachten direkten Kosten beliefen sich im Jahr 2001 insgesamt auf 14,6 Milliarden Euro (vgl. HAUNER et al. 2003). Dazu kommen die indirekten Kosten, die zum einen durch Arbeitsunfähigkeit und Frühberentung und zum anderen durch Begleiterkrankungen und Komplikationen entstanden sind. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, sind eine Reduktion des Körpergewichts und eine Steigerung der körperlichen Aktivität unumgängliche Maßnahmen. Bedingung für einen wirklich dauerhaften Nutzen ist hierbei die Regelmäßigkeit der Bewegung, wobei schon durch niedrige Intensitäten große Erfolge erzielt werden können. Das "American College of Sports Medicine" (ACSM) hat in Zusammenarbeit mit der "American Heart Association" (AHA) Leitlinien zur körperlichen Aktivität erstellt. Um gesundheitlich positive Effekte zu erzielen, werden einem Erwachsenen über dem 50. Lebensjahr mit einer chronischen Erkrankung unter anderem acht bis zehn Krafttrainingsübungen (je 10-15 Wiederholungen), zwei bis drei Mal pro Woche empfohlen (vgl. NELSON et al. 2007). An diesen Punkten setzt das Bewegungsprogramm "BEL. Bewegung neu erleben" an.


Ein integrativer Ansatz

Das BEL-Programm ist ohne großen zeitlichen oder materiellen Aufwand in jede Diabetes-Schulung integrierbar und führt gezielt und kontrolliert an Bewegung heran. Es besteht aus insgesamt 30 Bewegungsübungen, die vorwiegend im Sitzen durchgeführt werden können. Diese Übungen sind leicht zu vermitteln, einfach zu erlernen und anzuwenden. Gemäß den Empfehlungen des "American College of Sports Medicine" für Bewegung bei Diabetes mellitus Typ 2-Patienten (vgl. ALBRIGHT et al. 2000), wurden die Übungen so ausgewählt, dass sie auch für Menschen mit einer geringen Leistungsfähigkeit durchführbar sind. Durch einen modularen Aufbau können die verschiedenen Übungen sowohl von den Diabetesberatern als auch von den Patienten effizient zusammengestellt werden. Der zeitliche Rahmen einer Bewegungseinheit kann hierbei frei gewählt werden. Empfohlen wird, mindestens 10 Minuten für eine Bewegungseinheit aufzuwenden.


Ziele des BEL-Programms

Das BEL-Programm soll den chronisch erkrankten Patienten mehr Selbständigkeit und Belastbarkeit im Alltag ermöglichen und somit ihre Lebensqualität verbessern. Die Bewegungsübungen zielen darauf ab, die motorischen Beanspruchungsformen auf vielfältige Art zu fördern.

- moderate ausdauernde Bewegung
- Kräftigung von Muskelgruppen
- Mobilisation der Gelenke
- Förderung und Verbesserung der Koordinationsfähigkeit
- Dehnung verkürzter und/oder beanspruchter Muskulatur
- Entspannung

Zusätzlich werden durch das BEL-Programm psychosoziale Gesundheitsressourcen wie Selbstvertrauen, Handlungswissen und Eigenverantwortung geschult. Das BEL-Programm zielt auf eine Weiterführung der Übungen zu Hause und somit eine Integration in den Alltag des jeweiligen Patienten ab.


Voraussetzungen für BEL

Die Bewegungsübungen des BEL-Programms können in jeder Diabetes-Schulung durchgeführt werden, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt werden. So sind eine ausreichende Größe des Schulungsraums und stabile Sitzgelegenheiten Bedingung. Sportkleidung ist nicht erforderlich, aber die Kleidung der Teilnehmer sollte bequem sein und genügend Bewegungsfreiraum bieten. Das Material, welches im Rahmen des Programms "BEL. Bewegung neu erleben" eingesetzt werden kann, ist der AirogymTM. Beim AirogymTM handelt es sich um ein Luftkissen mit zwei Kammern, welche durch eine kleine Öffnung miteinander verbunden sind, so dass es möglich ist, die Luft, beispielsweise mit den Füßen, aus einer Kammer in die andere zu drücken. Für Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 ist diese Art der Bewegung gut geeignet, da neben der körperlichen Leistungsfähigkeit auch die Wahrnehmung, der oft vernachlässigten Regionen der Beine und Füße geschult wird.


Modularer Aufbau

Mit Hilfe des modularen Aufbaus können die Bewegungsübungen für die jeweilige Schulungsstunde ausgewählt werden. Die Differenzierung der Bewegungsübungen erfolgt übergeordnet nach körperlichen Beanspruchungsformen (Kräftigung, Dehnung, Koordination, Ausdauer, Entspannung) und dann nach Körperregionen (Rumpf, Schultern, Arme, Füße, Beine). Mit diesem modularen Aufbau wird eine leichte Auswahl der Übungen erreicht.


Die Pilotstudie "BEL. Bewegung neu erleben"

Parallel zu der Konzeption des Programms, wurde eine Pilotstudie initiiert. Ziel war es, eine Auswahl der im BEL-Programm beinhalteten Bewegungsübungen in Diabetesschulungen zu integrieren, um sie auf Ihre Wirksamkeit und Anwendbarkeit hin zu überprüfen. Folgende Fragestellungen fanden hierbei Berücksichtigung:

Ist die Umsetzung der Bewegungsübungen im Rahmen der Diabetesschulung möglich und praktikabel
Wie bewerten Diabetesberater und Patienten die Bewegungsübungen subjektiv?
Verändert sich die Lebensqualität der Patienten im Laufe der Treatmentphase?
Hat die regelmäßige Durchführung von Bewegungsübungen Einfluss auf die Alltagsaktivitäten der Patienten?

Experimentelles Design

Bei dem experimentellen Design der Pilotstudie handelte es sich um ein Eingruppenexperiment mit einer Dreipunktmessung (T1, T2, T3). Entsprechend des Paneldesigns erfolgte die erste Testung vor Beginn der Intervention als Pretest, die zweite Testung im Anschluss der Schulungen als Posttest und die dritte Testung zur Überprüfung der Nachhaltigkeit, jeweils acht Wochen nach Beendigung des Treatments. Die Bewegungsübungen wurden in jeder Schulungseinheit zehn Minuten durchgeführt.


Stichprobe

Die Stichprobe der Patienten setzte sich aus 70 Probanden (37 Frauen, 33 Männer) mit einem Alter von 62,5±11,5 Jahren zusammen. Das durchschnittliche Körpergewicht lag zu Beginn der Untersuchung bei 92,3±19,8 Kilogramm, bei einem Body Mass Index (BMI) von 32,5±5,9. Das Durchschnittsalter der 16 Diabetesberater lag bei 43,7±10,8 Jahren.


Untersuchungsinstrumentarien

Mit einem selbst entwickelten Fragebogen, der ausschließlich informellen Charakter hatte, bewerteten die Diabetesberater die praktische Anwendung der Übungen. Eine weitere schriftliche Befragung der Patienten beinhaltete Informationen zur Anamnese. Je eine schriftliche Befragung der Patienten fand mit standardisierten Instrumentarien zum Gesundheitszustand (SF 36) nach BULLINGER und KIRCHBERGER (1998) und körperlicher Aktivität nach FREY und BERG (1999) Berücksichtigung.


Inhalte des Bewegungsprogramms

Für die Durchführung der Pilotstudie wurden 8 Bewegungsübungen aus unterschiedlichen Modulen des BEL-Programms zufällig ausgewählt und in einem Übungskatalog zusammengefasst. Das Ziel der Übungen lag in der Förderung von Kraft, Mobilität und Ausdauer. Dieser Übungskatalog stand den Schulungsgruppen in schriftlicher Form zur Verfügung, um die Übertragbarkeit auf die gesamte Stichprobe zu gewährleisten. Die Übungen leiteten die Diabetesberater in jeder Einheit der Schulung an. Auch erinnerten die Diabetesberater die Patienten in jeder Schulungseinheit auf das regelmäßige und selbständige Durchführen der Übungen von mindestens drei Mal pro Woche für mindestens 10 Minuten.


Darstellung der Ergebnisse

Im Folgenden werden die Ergebnisse der Befragungen dargestellt.


Bewertung der praktischen Anwendbarkeit

Die Ergebnisse der Befragungen zeigen, dass die Bewegungsübungen sowohl von den Patienten als auch von den Diabetesberatern in allen abgefragten Bereichen (u. a. Zugang, Verständlichkeit, Alltagsbezug) positiv beurteilt wurden. 70% der Patienten gaben an, die Bewegungsübungen selbständig zu Hause durchgeführt zu haben, sogar auch 8 Wochen nach der Intervention. Diese Ergebnisse lassen auf eine nachhaltige Wirkung mit einer hohen Compliance schließen.


Anthropometrische Daten

Sowohl Körpergewicht als auch BMI der Patienten haben sich im Laufe der Untersuchung sehr signifikant reduziert (p=0.004**). So lag das Köpergewicht vor der Intervention noch bei 92,3±19,8 Kilogramm bei einem BMI von 32,5±5,9, fiel nach der Intervention auf 91,1±19,4 Kilogramm bei einem BMI von 32,1±5,7 und wies zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung einen Wert von 89,1±19,1 Kilogramm bei einem BMI von 31,3±5,6 auf.


SF 36 Fragebogen zum Gesundheitszustand (vgl. BULLINGER und KIRCHBERGER 1998)

In allen acht Teilbereichen der Lebensqualität konnten nach dem Treatment signifikante Verbesserungen in den Skalenwerten festgestellt werden. In den Bereichen körperliche Funktionsfähigkeit, körperliche Rollenfunktion, soziale Funktionsfähigkeit und emotionale Rollenfunktion waren die deutlichsten signifikanten Veränderungen zu verzeichnen. Diese Skalen beziehen sich auf das Ausmaß, in dem der körperliche sowie emotionale Gesundheitszustand, die Arbeit und andere alltägliche und normale soziale Aktivitäten beeinträchtigen. Die Wahrnehmung der allgemeinen Gesundheit (p=0,01**), die Vitalität (p=0,001**) und das psychische Wohlbefinden (p=0,002**) wiesen ebenfalls signifikant höhere Skalenwerte nach der Intervention auf. Die körperlichen Schmerzen der Patienten haben sich im Laufe der gesamten Untersuchung signifikant verringert (p=0,006**). Nach BENNETT et al. (2008) leiden Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 häufiger unter einer geringeren Lebensqualität als gesunde Menschen. Die Ursache hierfür sehen KLEEFSTRA et al. (2005) in dem Zusammenhang zwischen der Lebensqualität und subjektiv wahrgenommenen Symptomen des Diabetes. Nach den Schulungen gaben 65,7% der Patienten eine Verbesserung von körperlichen und seelischen Beschwerden an.


Freiburger Fragebogen zur körperlichen Aktivität (vgl. FREY und BERG 1999)

Die Beurteilung der körperlichen Aktivität durch den Freiburger Fragebogen erfolgte einerseits mittels Gesamtscores, andererseits anhand der Sportpunkte, die die sportliche Aktivität bewerten. Veränderungen der körperlichen Aktivitäten konnten nicht nachgewiesen werden. Die Sportpunkte der befragten Patienten haben sich im Verlauf des Untersuchungszeitraums verbessert. Insgesamt haben die sportlichen Aktivitäten nach der Schulung signifikant zugenommen.


Zusammenfassung und Ausblick

Die Ergebnisse der durchgeführten Pilotstudie zeigen, dass Bewegungsübungen in der Schulung von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 nicht nur praktisch anwendbar sind, sondern hier auch eine nachhaltige Wirkung haben. Das Konzept wird sowohl von den Diabetesberatern als auch von den Patienten positiv bewertet. Weitere Untersuchungen zu den Wirkungen des BEL-Programms auf EBM-Niveau sind aktuell in der Konzeptionsphase.


Literatur bei den Autoren.


Thanh-Mai LUDWIG, Diplom-Sportwissenschaftlerin, studierte bis 2006 Sportwissenschaften an der Deutschen Sporthochschule Köln. Seit Juni 2007 ist sie zunächst als wissenschaftliche Hilfskraft, seit Januar 2008 als wissenschaftliche Mitarbeiterin und seit 2009 als Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Rehabilitation und Behindertensport der Deutschen Sporthochschule Köln tätig. Im Bereich der Forschung beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit dem Thema "Rehabilitation und Prävention von Stoffwechselerkrankungen".

E-Mail: mai.ludwig@dshs-koeln.de


Priv.-Doz. Dr. Bettina SCHAAR, studierte Sport und Sportwissenschaft, Leistungsphysiologie und Erziehungswissenschaft an der Ruprecht-Karls Universität Heidelberg (Magister Artium 1989, Promotion 1994). Ihre Tätigkeit an der Deutschen Sporthochschule Köln begann sie 1995 als Studienrätin im Hochschuldienst am Institut für Rehabilitation und Behindertensport, wo sie seit 1998 als Oberstudienrätin im Hochschuldienst tätig ist (Habilitation 2006).

E-Mail: schaar@dshs-koeln.de


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. 1: Modularer Aufbau des Programms "BEL. Bewegung neu erleben".

Abb. 2: Experimentelles Design der Pilotstudie.

Abb. 3: SF 36-Skalen.


*


Quelle:
F.I.T.-Wissenschaftsmagazin der Deutschen Sporthochschule Köln
Nr. 1/2009 (14. Jahrgang), Seite 10-13
Herausgeber: Univ.-Prof. mult. Dr. Walter Tokarski
Rektor der Deutschen Sporthochschule Köln
Deutsche Sporthochschule Köln
Presse-, Informations- und Transferstelle
Am Sportpark Müngersdorf 6, 50933 Köln
Tel.: 0221/49 82-38 50, Fax: 0221/49 82-84 00
E-Mail: pressestelle@dshs-koeln.de
Internet: www.dshs-koeln.de/presse

F.I.T. Wissenschaftsmagazin erscheint zweimal pro Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2009