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PARKINSON/079: Breites Therapiespektrum bringt Patienten mehr Lebensqualität (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 4/2011

Parkinson
Breites Therapiespektrum bringt Patienten mehr Lebensqualität

Von Uwe Groenewold


Kongress der Deutschen Parkinson Gesellschaft in Kiel. Therapieansätze geben Hoffnung, dass die Erkrankung mittelfristig heilbar sein wird.


In den nächsten 30 Jahren wird sich die Zahl der Parkinsonpatienten in Deutschland auf etwa eine halbe Million verdoppeln, denn Parkinson ist ein typisches Altersleiden. Ein Prozent der 60-Jährigen, aber schon drei Prozent der über 80-Jährigen sind von der chronischen, progredient verlaufenden Erkrankung betroffen. Anlass genug für über 500 Neurologen, Neurochirurgen und Neurophysiologen aus dem In- und Ausland, Mitte März im Kieler Schloss über bessere Diagnosemethoden und neue Therapieverfahren zu diskutieren.

Das große Zittern begann bei Michael J. Fox vor 20 Jahren. Der in Kanada geborene Schauspieler war gerade 30 Jahre alt, als er bei Dreharbeiten zum Film "Doc Hollywood" die ersten Tremorssymptome wahrnahm. Jahrelang überdeckte er das Leiden durch gezieltes Schauspielern, bevor er 1998 nach einem öffentlichen Krankheitsbekenntnis von der Bühne abtrat. Neben Box-Legende Muhammad Ali ist Fox der prominenteste Parkinsonpatient; in Deutschland hat sich Schauspieler Ottfried Fischer vor einigen Jahren zu dem Leiden bekannt.

Dieses deutet sich, anders als bei Fox, meist nicht mit der zittrigen Hand an, die die Kaffeetasse nicht mehr halten kann. Vielmehr stehen oft über Jahre unspezifische Symptome wie depressive Verstimmungen, ungewohnte Müdigkeit, häufige Rückenschmerzen und olfaktorische Störungen - 95 Prozent der Parkinsonkranken können das Pizzagewürz Oregano nicht riechen - im Vordergrund. Sie werden in aller Regel vom Patienten bagatellisiert und vom Arzt fehlgedeutet. Erst wenn die Schrittlänge kürzer und die Schrift kleiner wird, rückt eine mögliche Parkinsonerkrankung ins Blickfeld. Bis dahin ist viel Zeit vergangen: Im Schnitt dauert es rund drei Jahre von den ersten Symptomen bis zur korrekten Diagnose.

Bis dahin sind bereits mehr als 60 Prozent der Neuronen in der Schwarzen Substanz (Substantia nigra) abgestorben. Bei der Substantia nigra handelt es sich um eine tief im Hirn gelegene Region, deren Zellen den Botenstoff Dopamin bilden - eine Vorläufersubstanz der Hormone Adrenalin und Noradrenalin, die eine zentrale Rolle für die Kontrolle von Bewegungen spielen. Fehlt der Neurotransmitter Dopamin oder tritt ein Mangel auf, werden die Nervenzellen der benachbarten Hirnregion, des Striatum, nicht ausreichend stimuliert. Daraufhin kommt es zu einer Verlangsamung willkürlicher und unwillkürlicher Bewegungen bis hin zur Bewegungsarmut (Akinese). Ein damit verbundenes Übergewicht anderer Botenstoffe wie Acetylcholin und Glutamat führt zum typischen Zittern (Tremor) und zur Muskelsteifheit (Rigor).

Was den massiven Zelluntergang letztendlich verursacht, ist bis heute nicht in allen Details bekannt. Monogenetische Vererbung spielt nur in wenigen Fällen eine Rolle, auch wenn bereits eine Reihe assoziierter "Parkinson-Gene" entschlüsselt ist (siehe Interview). Als Auslöser diskutiert werden vielfältige Umwelteinflüsse; epidemiologische Studien lassen entsprechende Zusammenhänge vermuten.

Besonders bei jüngeren Patienten lassen sich die Bewegungseinschränkungen mit Krankengymnastik und Dopaminagonisten - Substanzen, die die Dopaminrezeptoren der Neuronen stimulieren - über Jahre lindern oder ganz unterdrücken. Vor allem mit dem sogenannten BIG-Training kann nach Angaben von Prof. Werner Poewe, Neurologe an der Uniklinik Innsbruck, die Beweglichkeit der Patienten stark verbessert werden. Bei der noch sehr jungen Therapiemethode (wird in Schleswig-Holstein am Uniklinikum Kiel und im Neurologischen Zentrum der Segeberger Kliniken angeboten) geht es um das Einüben und Wiederholen großer Bewegungen - also langer Schritte oder weit ausholender Arme. "Mit diesem Verfahren gelingt es häufig, bereits eingeschränkte normale Bewegungsabläufe wieder zu verbessern. In einer großen Studie konnte nach achtwöchigem Training ein deutlich besserer Effekt als mit Nordic Walking oder herkömmlicher Physiotherapie erzielt werden", erklärte Poewe.

Nicht-motorische Störungen entwickelt praktisch jeder Patient im Laufe der Erkrankung; Blasenstörungen, Schlafschwierigkeiten, unruhige Beine (Restless Legs Syndrom), Parästhesien, Doppelbilder oder verschwommenes Sehen sind weit verbreitet.

Für Patienten und Angehörige besonders schwer wiegen die psychosozialen Einschränkungen; häufig treten Angststörungen, begleitet von Panikattacken, auf. Etwa jeder dritte Patient erkrankt an einer Depression. Die Schwermut legt sich lähmend auf den Alltag, der Patient wird antriebs- und willenlos. Für die Angehörigen ist dieser Zustand meist stärker belastend als die motorische Beeinträchtigung. Immer wieder müssen sie den Patienten anstoßen und ihn zu gemeinsamen Unternehmungen auffordern. Auch dies ist auf den Dopaminmangel zurückzuführen: Das Belohnungssystem im Hirn ist gestört, Parkinsonpatienten verspüren keinen Genuss mehr. Die Patienten nehmen diese quälenden Persönlichkeitsveränderungen bewusst wahr, können sich jedoch nicht dagegen wehren. Erstmals konnte jetzt in einer Studie der positive Einfluss eines Standardmedikaments (Pramipexol) auf die Parkinson-Depression belegt werden.

Im fortgeschrittenen Stadium treten die Bewegungsstörungen stärker in den Vordergrund. Kopf und Rumpf sind vornüber gebeugt, Gesichtszüge frieren ein, die Hände zittern. Bewusste schnelle Bewegungen werden unmöglich, vor allem in engen Räumen scheinen die Füße am Boden zu kleben. "Diese Phase ist von starken Fluktuationen geprägt", erläuterte Kongresspräsident Prof. Günther Deuschl, Direktor der Neurologischen Universitätsklinik, Campus Kiel.

Vor allem die morgendlichen Off-Phasen sind sehr belastend, verhindern selbstständiges Aufstehen und Anziehen. Linderung versprechen Substanzen mit Retard-Formulierungen (z.B. Ropinirol), die eine kontinuierliche dopaminerge Stimulation bei einmaliger Tabletteneinnahme pro Tag ermöglichen. Reicht eine orale Therapie nicht mehr aus, um die fluktuierenden On/Off-Phasen zu kontrollieren, gilt die subkutane Apomorphin-Therapie mit Pen oder Pumpe als erste Option. Auch damit wird ein gleichmäßiger Wirkspiegel erreicht, mit dem sich die Symptome gut kontrollieren lassen. Weitere Medikamente, vor allem zur Verlängerung der On-Phasen, befinden sich in der klinischen Entwicklung; in den nächsten zwei Jahren wird etwa mit der Zulassung des MAO-B-Inhibitors Safinamid gerechnet. Ein anderer MAO-B-Hemmer, Rasagilin, konnte in einer Studie die Krankheitsprogression verlangsamen. Dieses Studienergebnis wird viel diskutiert und die Experten empfehlen weitere wissenschaftliche Untersuchungen, bevor die Aussage allgemein akzeptiert werden kann.

Mit einer relativ jungen Methode, der elektrischen Stimulation tiefer Hirnregionen, können selbst heftigste Symptome bei vielen Patienten über einen langen Zeitraum fast vollständig beseitigt werden. "Für diese schwer betroffene Patientengruppe gibt es nichts Wirksameres", sagte der Kieler Kongresspräsident. Bei dem Verfahren werden hauchdünne Elektroden durch die Schädeldecke ins Hirn geführt und mit einer Art Schrittmacher, der unter dem Schlüsselbein eingesetzt wird, verbunden. Dieser sendet feine Stromsignale aus, die das Signalchaos in den Neuronen neutralisieren. Deuschl: "Der Effekt ist zum Teil dramatisch. Patienten, die zuvor bewegungslos auf einem Stuhl verharrten, konnten nach Aktivierung des Schrittmachers ohne Hilfe aufstehen und durch den Raum laufen." In einzelnen Fällen gelingt es sogar, Patienten nach Jahren der Behinderung zumindest eingeschränkt ins Berufsleben zurückzuführen.

Der fortschreitende Zellverlust der Parkinsonerkrankung lässt sich mit der Hirnstimulation zwar nicht aufhalten, doch "die Krankheit wird um fünf bis zehn Jahre zurückverlegt", so Deuschl. In einer bereits 2006 von ihm veröffentlichten Studie, in der das Stimulationsverfahren gegen die beste medikamentöse Therapie getestet wurde, hatten die Patienten der ersten Gruppe eine um 24 Prozent bessere Lebensqualität. Derzeit prüft Deuschl in einer deutsch-französischen Multicenterstudie, ob sich das Verfahren auch bereits für Patienten in einer frühen Erkranungsphase eignet. Die Ergebnisse der sogenannten EARLY STIM-Studie, für die 250 Patienten rekrutiert wurden, sollen Ende 2012 vorliegen.

Große Hoffnungen setzen Wissenschaftler, Patienten und Angehörige in neue Behandlungsverfahren wie Zell- oder Gentherapien. Ob diese berechtigt sind, wurde während des Kongresses sehr differenziert betrachtet; zur Euphorie besteht jedoch kein Anlass, wie Kongresspräsident Deuschl erläuterte. Bei der Gentherapie werden Erbinformationen mittels viraler Vektoren in die Basalganglien eingebracht. Bei der Stammzelltransplantation werden zum Beispiel fetale Vorläuferzellen dopaminerger Neurone in das Striatum eingebracht. Alle Methoden befinden sich in verschiedenen Erprobungsphasen, klinische Studien der Phase drei sind noch nicht in Sicht.

"Je länger ein Parkinsonpatient seine Erkrankung gut im Griff hat und selbstständig bleiben kann, desto mehr Lebensqualität bedeutet das nicht nur für ihn, sondern auch für seine Angehörigen", betonte Prof. Jürgen Winkler von der Neurologischen Universitätsklinik Erlangen. Ob der Gewinn an Lebensqualität und Lebenszeit noch weiter zu steigern ist, ist heute noch unklar. Schauspieler Michael J. Fox hat im Jahre 2000 eine Stiftung gegründet, die verschiedene Forschungsprojekte fördert. Für ihn sind alle neuen Therapieansätze mehr als ein Hoffnungsschimmer: Fox ist zuversichtlich, dass er den Zeitpunkt noch erlebt, an dem Parkinson heilbar wird.

Weitere Informationen:
www.uni-kiel.de/neurologie und www.kompetenznetz-parkinson.de


Versorgungssituation in Schleswig-Holstein

In Schleswig-Holstein leben etwa 3.000 bis 4.000 Menschen mit einer Parkinsonerkrankung. Ambulant versorgt werden die Patienten in aller Regel von niedergelassenen Neurologen. Für die stationäre Behandlung steht die Paracelsus Nordseeklinik Helgoland, eine von nur knapp einem Dutzend Parkinson-Spezialkliniken in Deutschland, zur Verfügung. Darüber hinaus haben die größeren Kliniken des Landes, etwa in Neumünster oder Flensburg, neurologische Stationen mit erfahrenen Ärzten. Das Neurozentrum am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel, behandelt und forscht schwerpunktmäßig auf dem Gebiet der Parkinsonkrankheit. Es werden alle Krankheitsstadien stationär und/oder in einer großen Parkinson-Ambulanz behandelt. Ein besonderer Schwerpunkt liegt in Kiel auf den fortgeschrittenen Krankheitsstadien mit allen interventionellen Therapien einschließlich der Tiefen Hirnstimulation. Die Neurologischen Unikliniken in Kiel und Lübeck arbeiten auf diesem Gebiet eng zusammen.

Für Patienten und Angehörige von großer Bedeutung ist die Selbsthilfe. Die Deutsche Parkinson Vereinigung hat im Land 18 Regionalgruppen und ist mit einem Infostand regelmäßig im Kieler Neurozentrum vertreten. Die Schleswig-Holsteinische Landesbeauftragte der Deutschen Parkinson Vereinigung, Marion Erdmann-Hansen aus Hanerau-Hademarschen, ist über die Internetseite www.parkinson-vereinigung.de oder per E-Mail (m.eh@gmx.de) erreichbar. (ug)


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 4/2011 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2011/201104/h11044a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
- Viele Parkinsonpatienten zeigen eine typische Haltung beim Gehen.


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt April 2011
64. Jahrgang, Seite 16 - 18
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juli 2011