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RHEUMA/195: Forschung - Wie wandert die Erkrankung von Gelenk zu Gelenk? (Spiegel der Forschung)


Spiegel der Forschung Nr.1/Juni 2010
Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Giessen

Die Ausbreitung der rheumatischen Arthritis
Wie wandert die Erkrankung von Gelenk zu Gelenk?

Von Elena Neumann, Stephanie Lefèvre und Ulf Müller-Ladner


Die Mechanismen, die zur Ausbreitung der rheumatoiden Arthritis zu nicht betroffenen Gelenksarealen und Gelenken beitragen, waren bisher nicht bekannt. Jüngste Forschungsergebnisse zeigen, dass bestimmte Zellen, so genannte aktivierte synoviale Fibroblasten, für die Ausbreitung dieser Erkrankung auf andere Areale eines Gelenks, aber vor allem auch auf noch gesunde Gelenke eines Patienten mit verantwortlich sind. ein Team von Wissenschaftlern der Universitäten Gießen, Münster und Regensburg beschäftigt sich bereits seit Jahren gemeinsam mit internationalen Partnern aus der Schweiz und den USA mit der Aufschlüsselung der Fähigkeit zur Migration der Gelenkfibroblasten im Tiermodell. Die Ausbreitung dieser Zellen findet nicht durch Wanderung durch die Gewebe sondern direkt durch das Blutgefäß-System der Tiere statt. Diese Ergebnisse wurden kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift "Nature Medicine" publiziert.


Die rheumatoide Arthritis ist eine entzündliche Gelenkerkrankung, die etwa 0,7-1 % der europäischen Bevölkerung betrifft. Das Zusammenspiel verschiedener Zellarten im Gelenk führt zu einer fortschreitenden Zerstörung der Gelenke und insbesondere des Gelenkknorpels. Zentrale Zellen der Zerstörung des Gelenks durch körpereigene Zellen sind die Fibroblasten der "Innenhaut" eines Gelenks, die so genannten synovialen Fibroblasten. Dieser Zelltyp ist in der rheumatoiden Arthritis deutlich aktiviert, weist ein aggressiv-invasives Verhalten auf und ist somit direkt am Abbau des Gelenkknorpels beteiligt.

Ein weiteres für die rheumatoide Arthritis charakteristisches Phänomen ist die Ausbreitung der Erkrankung zwischen verschiedenen Gelenken. Über Monate und Jahre der Erkrankung können, meist ausgehend von den kleinen Fingergelenken, mehr und mehr Gelenke eines Patienten von der rheumatoiden Arthritis betroffen werden. Bisher waren die Mechanismen, die zur Ausbreitung der Erkrankung zu nicht betroffenen Gelenksarealen und Gelenken beitragen, nicht bekannt.

Aktuelle Forschungsergebnisse weisen nun darauf hin, dass die aktivierten Fibroblasten des Gelenks für die Ausbreitung der rheumatoiden Arthritis auf andere Areale eines Gelenks, aber vor allem auch auf noch gesunde Gelenke eines Patienten mit verantwortlich sind. Ein Forscher-Team der Universitäten Gießen, Münster und Regensburg beschäftigt sich seit Jahren zusammen mit internationalen Partnern aus der Schweiz und den USA damit, die Fähigkeit zur Wanderung (Migration) der Gelenkfibroblasten im Tiermodell aufzuschlüsseln. Das internationale Wissenschaftler-Team unter der Leitung von Dr. Elena Neumann und Prof. Dr. Ulf Müller-Ladner (Professur für Innere Medizin mit Schwerpunkt Rheumatologie der Justus-Liebig-Universität Gießen mit Sitz an der Kerckhoff-Klinik in Bad Nauheim) konnte nun vor kurzem unter dem Titel "Synovial fibroblasts spread rheumatoid arthritis to unaffected joints" in der renommierten Fachzeitschrift "Nature Medicine" die Ergebnisse der Versuche vorstellen. Dipl.-Biol. Stephanie Lefèvre, die sich im Rahmen ihrer Promotionsarbeit mit der Migration der Fibroblasten beschäftigt, konnte zusammen mit dem Wissenschaftler-Team zeigen, dass die aktivierten synovialen Fibroblasten der Gelenkinnenhaut in der Lage sind, unter Kulturbedingungen und auch im Tiermodell aktiv über weite Strecken zu wandern. Die Ausbreitung dieser Zellen findet hierbei nicht durch Wanderung durch die Gewebe sondern direkt durch das Blutgefäß-System der Tiere statt.


Die Basis: Das SCID-Maus-Modell der rheumatoiden Arthritis

Für diese Studien wurde das so genannte SCID-Maus-Modell der rheumatoiden Arthritis verwendet und speziell weiterentwickelt. Da die Aktivierung der Gelenkfibroblasten sehr spezifisch und charakteristisch für die Zellen von Patienten mit rheumatoider Arthritis ist, ermöglichte die Verwendung von immundefizienten SCID-Mäusen, die ein stark beeinträchtigtes Immunsystem aufweisen, die Untersuchung von Interaktionen zwischen den menschlichen aggressiven Fibroblasten mit gesundem menschlichen Knorpel über längere Zeiträume - wobei die Mäuse quasi als lebendes Reagenzglas fungieren.

Auch menschlicher Knorpel kann nicht über längere Zeit unter Kulturbedingungen gehalten und untersucht werden. Durch die Verwendung der immundefizienten Tiere, die menschliches Gewebe nicht abstoßen, wurden so die experimentellen Bedingungen geschaffen, sowohl die Interaktionen als auch den Migrationsweg der Zellen durch den Organismus zu untersuchen (Abb. 2 in der Printausgabe). Mit Hilfe dieses Modells gelang die Entdeckung der Wanderung der aggressiven Zellen über längere Distanzen durch das Blutgefäß-System und deren gezielte Anheftung an gesunde Knorpelareale.

Bisher war die Fähigkeit der Gelenkfibroblasten, aktiv in das Blutgefäß-System überzutreten und an entfernt liegenden Knorpeln wieder aus dem Blutgefäß-System auszutreten, nicht bekannt. Nach dem Austritt aus dem Blutgefäß-System wandern die Fibroblasten zu einem gesunden Knorpel, heften sich an diesen an und beginnen dann dort mit dem Abbau. Der Abbau des Knorpels scheint ausschließlich durch die Gelenkfibroblasten von Patienten mit rheumatoider Arthritis stattzufinden. Gelenkfibroblasten von gesunden Personen oder von Patienten mit Osteoarthritis (Arthrose), einer Erkrankung, die primär durch Gelenkverschleiß gekennzeichnet ist, weisen das Wanderverhalten durch das Blutgefäß-System mit anschließendem Abbau des gesunden Knorpels nicht auf.


Gesunde Gelenke scheinen "geschützt" zu sein

Interessanterweise stellte sich bei den Versuchen heraus, dass ein gesundes Gelenk vor der Anheftung der aggressiven Fibroblasten geschützt zu sein scheint. Ist die Knorpelmatrix aber zugänglich, wie dies zum Beispiel durch kleine Knorpelschäden oder durch den Abrieb der Gelenkoberflächen der Fall sein kann, sind die Zellen in der Lage, aktiv zu diesem Knorpel zu wandern, sich dort anzuheften und ihn abzubauen. Frei liegende, geschädigte und zugängliche Knorpelmatrix scheint somit eine Voraussetzung für die gezielte Wanderung der aggressiven Fibroblasten zu sein.

Erste Versuche weisen darauf hin, dass die Unterdrückung der Anheftung der aggressiven Fibroblasten an den Knorpel oder speziell des Übertritts in das Blutgefäß-System entfernt liegende Gelenkknorpel vor dem Abbau durch die aggressiven Zellen schützen könnte. Verschiedene experimentelle Ansätze haben sich in der Vergangenheit bereits mit der Blockade der Fibroblasten an den Gelenkknorpel beschäftigt. Diese Therapieansätze konnten bisher jedoch die Gelenkerosionen nicht vollständig unterdrücken.


Die Perspektive

Derzeit beschäftigt sich die Arbeitsgruppe aus Gießen zusammen mit verschiedenen Kooperationspartnern mit therapeutischen Ansätzen zur Blockade des Übertritts der aggressiven Fibroblasten von Patienten mit rheumatoider Arthritis in das Blutgefäß-System. Möglicherweise wird in Zukunft durch entsprechende therapeutische Maßnahmen dann die Ausbreitung der rheumatoiden Arthritis zu nicht betroffenen Gelenkbereichen oder Gelenken verhindert werden können. Somit können zwar die bereits geschädigten Areale nicht geheilt, aber gesunde Areale könnten vor dem Angriff durch diesen aggressiven Zelltyp geschützt werden, so dass zumindest keine weiteren Gelenke durch den Knorpelabbau betroffen werden.


Die Autoren

Elena Neumann, Jahrgang 1971, 1991-1994 Studium der Biologie an der Universität Marburg, 1994-1998 Hauptstudium an der Universität Mainz, 1998 Diplom, 2002 Promotion an der Universität Regensburg mit einer Arbeit "Untersuchung von gentherapeutischen Ansätzen für die Rheumatpoide Arthritis anhand des SCID-Maus-Modells". 2002-2004 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Regensburg, Abteilung Innere Medizin I in der Arbeitsgruppe von Priv.-Doz. Dr. Ulf Müller-Ladner. Seit 2005: Forschungsleitung der "Rheumatologischen Grundlagenforschung" der Abteilung Innere Medizin mit Schwerpunkt Rheumatologie der Justus-Liebig-Universität Gießen.

Stephanie Lefèvre, Jahrgang 1979, studierte von 1999 bis 2005 Biologie an der Universität Gießen, Diplomarbeit am Institut für Pflanzenphysiologie; 2005: Ergänzungsstudium "Grundlagen der praktischen Informatik und angewandten Mathematik an der Universität Gießen und Praktikum an der Professur für Innere Medizin mit Schwerpunkt Rheumatologie bei Prof. Dr. Ulf Müller-Ladner an der Universität Gießen. Seit 2006: Promotionsarbeit über "Migrationspotential synovialer Fibroblasten in der rheumatoiden Arthritis".

Ulf Müller-Ladner, Jahrgang 1964, studierte von 1983 bis 1990 an der Universität Tübingen Medizin, Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes, 1991: Promotion, 1990-1992: Arzt im Praktikum an der Medizinischen Klinik der Universität Ulm, anschließend bis 1993 Assistenzarzt am Universitätsklinikum Regensburg. 1993-1996 Postdoctoral Fellowship an der University of Alabama at Birmingham, 1996-1999 Assistenzarzt am Universitätsklinikum Regensburg, 1999: Facharzt für Innere Medizin und Habilitation. 1999-2004 Oberarzt. Seit 2004: Professur für Innere Medizin mit Schwerpunkt Rheumatologie der Universität Gießen und seit 2005 Ärztlicher Direktor der Abteilung Rheumatologie und Klinische Immunologie der Kerckhoff-Klinik Bad Nauheim. 2008-2009: Sprecher des Kompetenznetzes der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie.

Kontakt
Dr. Elena Neumann
Justus-Liebig-Universität Gießen
Innere Medizin mit Schwerpunkt Rheumatologie
Kerckhoff-Klinik GmbH
Rheumatologie und Klinische Immunologie
Benekestraße 2-8, 61231 Bad Nauheim
E-Mail: e.neumann@kerckhoff-klinik.de
elena.neumann@innere.med.uni-giessen.de


Literatur
Lefèvre S, Knedla A, Tennie C, Wunrau C, Kampmann A, Tarner IH, Robbins PD, Evans C, Schölmerich J, Steinmeyer J, Gay S, Pap T, Müller-Ladner U, Neumann E:
Synovial fibroblasts spread rheumatoid arthritis to unaffected joints.
Nature Med, 15:1414-20, 2009


Bildunterschriften der mit Schattenblick nicht veröffentlichten 
 Abbildungen:
Abb. 1: Hand einer Patientin mit rheumatoider Arthritis.
Abb. 2: Experimenteller Aufbau zum SCID-Maus-Modell der rheumatoiden Arthritis: - Gesunder humaner Knorpel wird in einer Trägermatrix mit beziehungsweise ohne synoviale Fibroblasten unter die Haut einer SCID-Maus eingesetzt. Nach 60 Tagen werden die Implantate entnommen und ausgewertet.
Abb. 3: Prof. Müller-Ladner im Gespräch mit einer betroffenen Patientin.
Foto der Autoren: (von links) Dipl. Biol. Stephanie Lefèvre, Prof. Ulf Müller-Ladner, Dr. Elena Neumann

Die Artikel aus "Spiegel der Forschung" können auch als PDF-Dateien heruntergeladen werden unter:
www.uni-giessen.de/spiegel-der-forschung


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Quelle:
Spiegel der Forschung Nr. 1/Juni 2010, 27. Jahrgang, S. 70 - 73
Wissenschaftsmagazin der Justus-Liebig-Universität Gießen
Herausgeber: Der Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen
Pressestelle der JLU Gießen
Ludwigstraße 23, 35390 Gießen
Telefon: 0641/99-120 40; Fax: 0641/99-120 49
E-Mail: pressestelle@uni-giessen.de
Internet: www.uni-giessen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Dezember 2010