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ARTIKEL/416: Der Einfluß der Pharmaindustrie im Gesundheitswesen (Teil 2) (IPPNWforum)


IPPNWforum | 120 | 09
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Herr Doktor, wünschen Sie sich was!
Der Einfluss der Pharmaindustrie im Gesundheitswesen (Teil 2)

Von Hans-Joachim Both


Untersuchungen zufolge beziehen bis zu 95% der Ärztinnen und Ärzte in ambulanter Praxis ihre Informationen von der Industrie. Damit befindet sich das Gros der deutschen Ärzteschaft im Schlepptau der Industrie - und fühlt sich wohl dabei: Statt kritischer Distanz herrscht Nähe, finanzielle Anreize führen zu Interessenkonflikt und Korrumpierbarkeit. Dabei greifen verschiedene Taktiken ineinander: die Pharmareferenten, die Anwendungsbeobachtungen (AWB), die meist gesponserten Fortbildungsveranstaltungen sowie Fachzeitschriften, die teilweise oder völlig unter dem Einfluss der Industrie stehen. Diese vier Pfeiler der Einflussnahme sollen im Einzelnen genauer beleuchtet werden (an dieser Stelle die ersten beiden), und es sollen Wege aufgezeigt werden, wie unabhängige und am Patienten orientierte Medizin aussehen könnte.


Pharmareferenten

Pharmavertreter sind das erste und wichtigste Einfallstor der Pharmaindustrie im ambulanten Sektor. Fachlich zwar nur angelernt vermitteln sie den Ärzten aktuelles "klinisches Wissen" und überbringen die Botschaft, was jetzt das modernste und damit "wirksamste" Mittel ist - meist ist es auch das teuerste.

Gleichzeitig überschütten sie die Ärzte mit einer wahren Flut von Werbematerial. Wenn man sich die Mühe macht und diese Fachinformationen analysiert, fällt auf, dass 94% der Werbeprospekte keine validen wissenschaftliche Belege aufweisen. Entweder fehlen Quellenangaben überhaupt, oder es werden z.B. negative Teilaspekte weggelassen und positive weit übertrieben. Bemerkenswert ist zudem, dass seit etlichen Jahren in Fachinformationen zu neuen Medikamenten der Preis nicht genannt wird. Nachgefragt, können die Referenten oft keine Auskunft geben. So erinnere ich mich noch gut an die groteske Situation, als der Vertreter eines multinationalen Konzerns nach einigem Suchen schließlich einen zerknüllten Zettel aus seiner Hosentasche zog. Darauf hatte er von Hand die Preise notiert. Und das in einer Zeit der knappen Ressourcen, in der Patienten erwarten dürfen, dass ihr Arzt kritisch, unbefangen, nach evidenzbasierten Kriterien informiert und zu ihrem Wohl seine Entscheidung trifft. Man stelle sich vor, ein Vertreter für Staubsauger würde an der Haustüre sein Produkt verkaufen wollen, aber den Preis nicht kennen. Er hätte wenig Aussicht auf Erfolg. Im Gesundheitssektor jedoch "trägt eh die Krankenkasse die Kosten" und den Arzt "interessiert der ganze Kram nicht", obwohl er der eigentliche Kostenverursacher ist und bleibt, spätere Regresszahlungen seitens der Kassenärztlichen Vereinigung eingeschlossen.

Wenn aber nicht der Patient die Triebfeder für solche Kontakte ist, wer oder was dann? Studien haben gezeigt, dass seitens der Ärzteschaft ein hohes Maß an Akzeptanz gegenüber den Industrievertretern besteht. Die Ärzte, oft von Praxisdruck ausgebrannt, fühlen sich verstanden, ja freundschaftlich angenommen. Sie bekommen Medikamentenmuster, oft mehr als erlaubt, schonen ihr Budget und werden nicht zuletzt mit Verlockungen geldwerten Vorteils jeglicher Art gekitzelt. Fast wörtlich nach dem Motto: aber Herr Doktor, wünschen Sie sich doch was! Sei es etwas Schönes für die Inneneinrichtung, der beliebte Kollegen-Treff im Gourmetlokal, oder der Fachkongress mit anschließender 10-Tage-Rundreise.

Hier ist ein psychologisches Phänomen ganz eigener Art zu beobachten. Immerhin 61% unserer Kollegen waren der Meinung, sie ließen sich durch Geschenke "gar nicht beeinflussen". Dieselben Ärzte nach dem Verhalten ihrer Kollegen befragt, vertraten jedoch die Ansicht, jene wären zu 84% "gelegentlich" oder "häufig beeinflussbar", nur 16% seien "unbeeinflussbar". Eine andere Untersuchung zeigte, dass die Betroffenen umso mehr von ihrer eigenen Unbestechlichkeit überzeugt waren, je mehr Geschenke sie erhielten.

Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Bayern stellte kritisch fest: "Viele Besuche von Pharmareferenten sind eher Werbemaßnahmen als objektive Informationen über tatsächliche Innovationen. Sicherlich ist Ihnen bekannt, dass die KVB aus diesem Grund mit der Pharmaindustrie einen restriktiven Kurs fährt." Die KV Bayern unter Axel Munte ist allerdings die einzige in Deutschland, die ihre Kassenärzte mit eigenen, unabhängigen Pharmaberatern unterstützt, um so zu einer rationalen, evidenzbasierten Pharmakotherapie beizutragen. Auch ist die KVB dem Verein MEZIS (Mein Essen Zahl Ich Selber) als Mitglied beigetreten. Die Mitglieder dieser Ärzteinitiative haben sich auf die Fahne geschrieben, weder Pharmavertreter zu empfangen noch irgendwelchen geldwerten Vorteil anzunehmen - auch um ein Zeichen zu setzen gegen die Vereinzelung, und gemeinsam Ausschau zu halten, wie eine bessere Medizin aussehen könnte.


Anwendungsbeobachtungen

Klinische Zulassungsstudien umfassen in der Regel nur eine kurze Zeitspanne. Deshalb sollte bei Neuzulassungen mit Phase IV Studien, auch Anwendungsbeobachtungen (AWB) genannt, unter naturalistischen Bedingungen (Langzeitmedikation, Multimorbidität) das Nebenwirkungsspektrum besser kennengelernt werden.

Die Art und Weise, wie AWB hierzulande aber eingesetzt werden, lässt allergrößten Zweifel an ihrer Seriosität aufkommen. Anstatt durch die Wissenschaftsabteilungen der Unternehmen ausgewertet und veröffentlicht zu werden, verschwinden die Fragebögen meist im Papierkorb des Marketingbereichs. Denn allein die Durchführung von AWB hat sich zu einem der schärfsten Marketinginstrumente entwickelt. So betrug der Umsatzzuwachs neuer Medikamente, die sich in AWB befanden, von 2007 zu 2008 rund 1 Mrd. Euro. Der Umsatz an AWB getesteten Mitteln selbst lag bei über 7 Mrd. Euro, was knapp einem Viertel des Jahresgesamtumsatzes entspricht.

Solche Größenordnungen verdeutlichen die herausragende wirtschaftliche Bedeutung dieses Instruments im Wettbewerb um riesige Gewinne. Wenn es um Marktführerschaft geht oder die Geschäfte angekurbelt werden sollen, werden daher auch gerne mal 35.000 AWB auf den Markt gebracht - z.B. für Blutdruckmittel, wie aus firmeninternen Papieren von Novartis nach außen drang. Medikamente wohlgemerkt, die schon länger auf dem Markt sind und deren Nebenwirkungs-Spektrum bekannt sein dürfte.

All dies vollzieht sich, obwohl die gesetzlichen Bestimmungen bis vor kurzem mehrfach verschärft wurden. So müssen die Firmen beim Spitzenverband der Kassen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) sowie dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ihre Studien anmelden und Ärzte, Honorare und Verlaufsplan angeben. Auch sollten die daran teilnehmenden Ärzte laut Gesetzgeber lediglich eine dem Zeitaufwand angemessene Entschädigung erhalten. Im Schnitt erhält der Arzt pro Patient um die 200 Euro, oft aber wesentlich mehr. Nach Einschätzung von Prof. Lauterbach (MdB, SPD) können Ärzte damit jährlich leicht 10.000 - 30.000 Euro zusätzlich verdienen. Eine typische Win-Win-Situation: die Industrie steigert ihren Umsatz und auch der Arzt verdient daran. So gesehen hat der Pharmavertreter nicht so Unrecht, wenn er sagt: "Wir sitzen doch alle im selben Boot."

Um unsere Patienten im Blick zu behalten, müssen wir woanders sitzen. Man möchte Prof. Schwabe, dem Herausgeber des Arzneimittelreports, zustimmen, wenn er unter den jetzigen Bedingungen die völlige Abschaffung von AWB fordert. Solange dieser Schritt noch nicht getan ist, sollten zumindest die Patienten umfassend aufgeklärt und ihr Einverständnis zur AWB eingeholt werden. Das Deutsche Ärzteblatt schlägt vor, dass Ärzte, die solche AWB ablehnen, ihre Patienten informieren, z.B. durch ein entsprechendes Hinweisschild in der Praxis. Das würde zu Transparenz beitragen und könnte Misstrauen abbauen.


Dr. Hans-Joachim Both
ist im pharmakritischen Arbeitskreis der IPPNW Berlin aktiv und Mitglied von MEZIS e.V.;
Interessenkonflikte: keine; weitere Details und Quellen unter: jboth@arcor.de


Lesen Sie im nächsten Heft, wie Fortbildungsveranstaltungen und Fachzeitschriften zur Beeinflussung von niedergelassenen Ärzten genutzt werden.

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Quelle:
IPPNWforum | 120 | 09, Dezember 2009, S. 10-11
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Anschrift der Redaktion:
IPPNWforum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juni 2010

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