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ARTIKEL/406: Stigmatisierung psychisch Erkrankter - Kampf dem Vorurteil (Gehirn&Geist)


GEHIRN&GEIST 6/2011
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Stigmatisierung
Kampf dem Vorurteil

Von Beate Schulze


Wer an einer seelischen Störung leidet, stößt bei anderen oft auf Ablehnung und Vorurteile - was sich negativ auf das Selbstbild und den Krankheitsverlauf auswirken kann. Die Soziologin Beate Schulze erklärt, wie sich Betroffene erfolgreich zur Wehr setzen.

AUF EINEN BLICK

Widerstand lohnt sich

1. Umfragen belegen, dass die öffentliche Einstellung zu psychisch Kranken nach wie vor sehr negativ ist - trotz gewachsenen Wissens über seelische Leiden.

2. Mindestens die Hälfte der Patienten fühlt sich stigmatisiert. Die übrigen kennzeichnet, was Forscher »Stigma-Widerstand« nennen.

3. Am besten hilft den Betroffenen ein Mix verschiedener Strategien, die sie je nach Situation flexibel einsetzen können.

Die Depression kam, als eigentlich alles wieder im Lot zu sein schien. Gerade hatte Carola eine Brustkrebserkrankung überstanden, hatte Operation und Chemotherapie erfolgreich hinter sich gebracht und wieder in ihrem Beruf als Direktionsassistentin Fuß gefasst. Doch eines Morgens spürte sie plötzlich keinen Antrieb mehr, schaffte es nicht einmal mehr aufzustehen. Sie kam in die Psychiatrie, die Diagnose lautete: schwere depressive Episode.

Ihr Chef gehörte zu den Ersten, die Carola besuchten. Er brachte Blumen und Genesungswünsche mit - auf dass sie bald wieder in die Firma käme. Dabei solle sie sich alle Zeit lassen; seiner Unterstützung könne sie sich sicher sein. Daraufhin entschied sich Carola, offen mit ihrer depressiven Erkrankung umzugehen. Warum sollte sie sich verstecken? Also erzählte sie allen davon, ihrer Familie und Freunden, später auch den Kollegen und anderen Bekannten. Diese Haltung half ihr, die Depression zu überwinden. Und ganz nebenbei konnte sie noch anderen Menschen, die ebenfalls unter psychischen Problemen litten, den Rücken stärken.

Carolas Geschichte endete tatsächlich mit einem Happy End. Doch für viele Menschen, die an einer psychischen Störung leiden, liest sie sich wohl wie ein Märchen. Denn wer mit seiner Diagnose so offen umgeht, muss oft feststellen, dass nach wie vor negative Einstellungen und Vorurteile das Bild von psychisch Erkrankten in der Öffentlichkeit prägen - sie werden stigmatisiert (siehe Kasten). Laut dem Soziologen Erwing Goffman (1922-1982) bedeutet Stigmatisierung, dass die Gemeinschaft eine Person von »vollständiger sozialer Akzeptanz« ausschließt. Die Krankheit ist wie ein Mal oder ein Zeichen, auf Grund dessen sich andere distanzieren wollen.

Vom Leiden gezeichnet

Die US-amerikanischen Stigmaforscher Patrick Corrigan vom Illinois Institute of Technology und Amy Watson von der University of Illinois in Chicago unterscheiden in ihrem Modell zwischen öffentlichem Stigma, das gegen über einer stigmatisierten Gruppe besteht, und internalisiertem Stigma (siehe unten). Dabei übernehmen die Betroffenen selbst die negativen Einstellungen über psychisch Kranke und schreiben sie schließlich auch sich persönlich zu. Diese Internalisierung kann sich negativ auf das Selbstwertgefühl und die Handlungsfähigkeit der Betroffenen auswirken.

Laut Corrigan und Watson beginnt Stigmatisierung mit allgemeinen Vorstellungen über psychisch Kranke, den Stereotypen. Diese sind Teil der Werte und Traditionen einer Gesellschaft. Während die meisten Menschen dank ihrer Sozialisation mit den gängigen Ansichten über Psychiatriepatienten vertraut sind (wie zum Beispiel Gefährlichkeit, Inkompetenz oder Unbehandelbarkeit), stimmen längst nicht alle diesen zu. Darüber entscheidet erst die gefühlsmäßige Bewertung der Stereotype.

Machen sich Menschen ablehnende Vorstellungen über eine Gruppe zu eigen, entwickeln sie ihr gegenüber auch negative emotionale Reaktionen wie Ärger oder Angst. Auf diesem Weg werden negative öffentliche Bilder zu Vorurteilen. Schließlich kann sich die persönliche Haltung in diskriminierendem Verhalten widerspiegeln. Die unterstellten negativen Eigenschaften dienen als Rechtfertigung dafür, psychisch Kranke auszugrenzen und ihnen Chancen vorzuenthalten.

ÖFFENTLICHES STIGMA

Stereotyp: Negative Vorstellung über eine Gruppe
- z. B. Gefährlichkeit, Inkompetenz, Charakterschwäche

Vorurteil: Zustimmung zum Stereotyp und/oder negative emotionale Reaktion
- z. B. Wut, Angst etc.

Diskriminierung: Verhaltensreaktion auf ein Vorurteil
- z. B. Vorenthaltung von Arbeits- und Wohnmöglichkeiten; Verweigern von Hilfe

INTERNALISIERTES STIGMA

Stereotyp: Negative Vorstellung über sich selbst
- z. B. Inkompetenz, Charakterschwäche

Vorurteil: Zustimmung zum Stereotyp und/oder negative emotionale Reaktion
- z. B. niedriges Selbstwertgefühl, niedrige Selbstwirksamkeitserwartung

Diskriminierung: Verhaltensreaktion auf ein Vorurteil
- z. B. Wohnungs- und Jobsuche von vornherein aufgegeben; Möglichkeiten nicht wahr nehmen

(Corrigan, P.W., Watson, A.C.: Understanding the Impact of Stigma on People with Mental Illness. In: World Psychiatry 1, S. 16-20 2002)

Lieber auf Abstand

Umfragen belegen diese ablehnende Haltung gegenüber psychisch Erkrankten in der Bevölkerung. Die »soziale Distanz«, welche die Befragten zwischen sich und den Betroffenen empfinden, lässt sich mit Fragen wie diesen messen: Könnten Sie sich prinzipiell vorstellen, eine Person mit einer seelischen Störung zu heiraten? Würden Sie eine Person mit psychischer Krankheit als Arbeitnehmer einstellen - oder als Babysitter für Ihre Kinder engagieren?

Die neueste repräsentative Umfrage hierzu führte im April 2011 das Meinungsforschungs institut YouGov Psychonomics im Auftrag von G&G durch. Demnach stimmen 92 Prozent der 1026 befragten Deutschen mindestens einem ablehnenden Urteil über Menschen mit psychischen Störungen zu. Am häufigsten sind die Befragten der Ansicht, dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung »wenig belastbar« seien - was auf viele Erkrankte zutreffen mag, aber keineswegs immer der Fall ist (siehe unten).

Aktuelle Umfrage: Vorurteile gegenüber psychisch Erkrankten

Im April 2011 befragte das Meinungsforschungsinstitut »YouGov Psychonomics« im Auftrag von G&G 1026 Deutsche zu ihrer Einstellung gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen. Knapp die Hälfte der Teilnehmer verfügte über persönliche Erfahrungen mit seelischen Störungen, da sie selbst oder jemand aus ihrem engsten Bekanntenkreis bereits darunter litten. 92 Prozent der Befragten stimmten mindestens einem ablehnenden Urteil über Personen mit psychischen Störungen zu. Auch die Betroffenen selbst hegten Vorurteile gegen ihresgleichen - teils sogar zu einem größeren Prozentsatz als die Gesamtstichprobe. Diese Selbststigmatisierung ist ein bekanntes Problem bei psychiatrischen Patienten.

Schließlich plädierten drei Viertel der Teilnehmer in der Frage, wem Erkrankte ihre Diagnose offenlegen sollten, für eine flexible Strategie. Hier gab es keine Unterschiede zwischen Befragten mit oder ohne persönliche Erfahrung.

Leiden oder litten Sie selbst oder jemand aus Ihrem Familien- bzw. Freundeskreis an einer psychischen Erkrankung (z.B. Angststörung, Zwang, Depression, Schizophrenie)? (Mehrfachantworten möglich)

19 % - Ja, ich selbst
16 % - Ja, mein/e Partner/in, Kind, Elternteil oder anderer Verwandter
17 % - Ja, ein/e Freund/in oder Bekannte/r
54 % - Nein

54 % keine persönliche Erfahrung
46 % persönliche Erfahrung mit psychischer Erkrankung

Welchen der folgenden Aussagen stimmen Sie im Großen und Ganzen zu?

Menschen mit einer psychischen Erkrankung sind wenig belastbar.
84 % aller Befragten
79 % Betroffene

Ich würde mich schämen, wenn ich oder jemand aus meiner Familie an einer psychischen Störung erkranken würde.
7 % aller Befragten
12 % Betroffene

Menschen mit einer psychischen Erkrankung sollten keine verantwortungsvollen Tätigkeiten ausüben (etwa in der Kinderbetreuung oder im Straßenverkehr).
56 % aller Befragten
33 % Betroffene

Viele Menschen mit einer psychischen Störung könnten sich besser zusammenreißen.
22 % aller Befragten
33 % Betroffene

Wem sollten Ihrer Meinung nach Menschen mit einer psychischen Erkrankung von ihrer Störung berichten?

72 % - Sie sollten es ausgewählten ersonen (z. B. guten Freunden) erzählen, es ansonsten aber besser für sich behalten.
25 % - Sie sollten es möglichst allen Menschen in ihrer Umgebung mitteilen.
3 % - Sie sollten es so weit wie möglich geheim halten.

Diese Daten bestätigen das eher pessimisitsche Bild, das Forscher in den letzten Jahrzehnten bezüglich der öffentlichen Einstellung zu psychisch Kranken gezeichnet haben. So veröffentlichten die Psychiater Matthias Angermeyer und Sandra Dietrich von der Universität Leipzig 2006 einen Übersichtsartikel, in dem sie 62 Umfragen und Studien aus den Jahren 1990 bis 2004 auswerteten, rund zwei Drittel davon aus Europa. Ihr Fazit: Obwohl Österreicher, US-Amerikaner oder Australier in den letzten Jahren immer mehr über psychische Erkrankungen dazulernten, hielten sich negative Stereotype dennoch hartnäckig. Und dies ungeachtet zahlreicher Aufklärungskampagnen und Projekte gegen Stigmatisierung (siehe Randspalte unten).

2009 analysierte Angermeyer zusammen mit Herbert Matschinger von der Universität Leipzig und Anita Holzinger von der Medizinischen Universität Wien noch einmal genauer, wie sich die Sicht auf Menschen mit seelischen Störungen über einen längeren Zeitraum entwickelte. Sie wählten dafür die neuen Bundesländer, für die sowohl aus dem Jahr 2001 als auch von 1993 eine repräsentative Umfrage vorlag.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Bevölkerung im Verlauf dieser acht Jahre tatsächlich an Wissen dazugewann. Mehr Menschen als zuvor konnten beispielsweise bei der fiktiven Beschreibung eines Patienten die korrekte Diagnose stellen: 1993 erkannten nur 27 Prozent der Befragten eine Depression, acht Jahre später waren es immerhin schon 38 Prozent. Doch das Bedürfnis, psychisch Erkrankten aus dem Weg zu gehen, blieb trotz des gestiegenen Wissens unverändert. Wenn es um die Empfehlung für einen Job oder die Akzeptanz im Freundeskreis ging, distanzierten sich die Befragten 2001 sogar noch stärker von psychisch Erkrankten als in den 1990er Jahren.

Diese Vorurteile spiegeln sich auch in den Erlebnissen der Betroffenen wider. 2003 führte ich gemeinsam mit Matthias Angermeyer Gesprächsrunden, in denen wir insgesamt 83 Schizophreniepatienten, deren Angehörige und Pflegepersonal zu ihren subjektiven Erfahrungen mit Stigmatisierung befragten. Tatsächlich berichteten die meisten Teilnehmer, dass Freunde, Verwandte und Kollegen häufig mit Unverständnis reagiert und den Kontakt reduziert hatten, nachdem sie von der Diagnose erfahren hatten. Zudem würde das Umfeld nun oft alltägliche Verhaltensweisen als Zeichen der Erkrankung deuten. Den Aufenthalt in der Psychiatrie erlebten viele Patienten als Makel, den sie vor ihrer Umwelt lieber zu verbergen suchten.

Gehänselt, schikaniert, belästigt

Eine Befragung von 95 Patienten, die ich 2009 gemeinsam mit Steffi Riedel-Heller von der Universität Leipzig und Heather Stuart von der Queen's University in Kingston (Kanada) durchführte, ergab ein ähnliches Bild. Rund zwei Drittel der Betroffenen - die meisten von ihnen litten an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung - stimmten beispielsweise der Aussage zu, dass sie auf Grund ihrer Erkrankung schon einmal gehänselt, schikaniert oder belästigt wurden. Die schlimmste Form der Stigmatisierung erfuhren die meisten in der eigenen Familie, wo sie häufig auf Ablehnung stießen. So befand gar die Mutter einer Patientin: »Du bist nicht mehr meine Tochter!«

Auch in anderen Ländern ergeht es den Betroffenen kaum besser. Ein internationales Forscherteam um den Psychiater Graham Thornicroft vom King's College London veröffentlichte 2009 eine Befragung mehrerer hundert Schizophreniepatienten aus 27 Staaten. Über die Ländergrenzen hinweg empfand es rund die Hälfte der Befragten als schwierig, neue Freundschaf ten zu schließen, etwa ein Drittel klagte über Nachteile in Liebesbeziehungen, bei der Jobsuche oder bei Kontakten zu ihren Nachbarn.

Ablehnung und negative Einstellungen bestimmen die öffentliche Sichtweise auf Patienten mit seelischen Leiden. Wie sollten sich die Betroffenen also im Alltag verhalten? Und wem sollten sie überhaupt von ihrer Erkrankung erzählen?

In einer Studie der Gesundheitsökonomin Marjorie Baldwin von der Arizona State University in Tempe aus dem Jahr 2009 gab die große Mehrheit der Befragten an, dass in der Firma niemand von ihrer Erkrankung wisse. Vielmehr versuchten sie, am Arbeitsplatz möglichst »normal« zu erscheinen, und wechselten teils sogar freiwillig den Job, wenn die psychische Erkrankung am Arbeitsplatz bekannt wurde. Diese Geheimhaltung ist eine der drei Strategien für den Umgang mit einer psychiatrischen Diagnose, die Forscher traditionell untersucht haben. Die anderen beiden sind »selektive Vermeidung« - also sich von Situationen oder Personen fernzuhalten, bei denen Diskriminierung und Ablehnung drohen - sowie Aufklärung. Wer diesen dritten Ansatz verfolgt, versucht andere Menschen grundsätzlich aktiv über seine psychische Erkrankung zu informieren und ihnen die eigene Situation zu erklären.

Alle diese Vorgehensweisen erwiesen sich in Untersuchungen jedoch als wenig hilfreich. Wer in Fragebögen angab, strikt eine dieser Strategien zu verfolgen, war weder erfolgreicher bei der Jobsuche noch sah er seine eigene Zukunft positiver. Können also psychisch Erkrankte ihrer Stigmatisierung gar nichts entgegensetzen? Immerhin gab in unseren Studien ein nicht unerheblicher Teil der Befragten an, wenig oder gar nicht unter Stigmatisierung zu leiden - es muss daher wirksame Wege geben, Vorurteile zu bekämpfen.

Um herauszufinden, welche Strategien psychiatrische Patienten noch einsetzen, habe ich 2010 gemeinsam mit Maya Janeiro vom Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst des Kantons Zürich und mit Helena Kiss vom Universitätsspital Zürich 81 Patienten mit Schizophrenie und Borderline-Persönlichkeitsstörung danach gefragt, in welchem Ausmaß sie ihre Diagnose anderen gegenüber offenlegen. Auf einem Fragebogen sollten die Betroffenen ankreuzen, ob sie die klassischen Strategien Geheimhaltung, selektive Vermeidung und Aufklärung im Alltag nutzen. Gerade die Borderlinepatienten gaben jedoch auf diese Fragen oft keine Antwort und wählten das Feld »Weiß nicht«.

Wir wollten genauer wissen, was sich hinter diesem Antwortmuster verbarg, und befragten daher die Patienten anschließend noch einmal in ausführlichen Gesprächen. Dabei kam heraus, dass viele Betroffene mit ihrer Diagnose sehr flexibel umgehen - auf die Frage, wem sie von ihrem Leiden erzählten, antworteten sie mit »Kommt ganz drauf an«. Anstatt stur eine Strategie zu verfolgen, wägten sie in jeder Situation sorgfältig ab, welche Vorgehensweise nun angemessen wäre. Dazu gehörte zum Beispiel, die abfällige Bemerkung eines entfernten Verwandten bei einer Familienfeier auch einmal zu ignorieren oder mit einem Witz zu kontern; dafür aber Freunde oder vertraute Kollegen am Arbeitsplatz aktiv über die Störung aufzuklären und sich für die Rechte psychisch Erkrankter einzusetzen. Wer diese »selektive Offenheit« einsetzte, machte damit meist gute Erfahrungen.

Das Repertoire an möglichen Verhaltensweisen ist groß (siehe Kasten unten). Ein Patient erklärte beispielsweise: »Ich setze mich für psychisch Kranke ein und verteidige sie, wenn schlecht über sie geredet wird. Aber ich sage nicht, dass ich selbst betroffen bin. So wird man wenigstens ernst genommen und kann tatsächlich etwas erreichen.«

Wie man Vorurteilen begegnet

Menschen mit psychischen Erkrankungen setzen die verschiedensten Strategien im Umgang mit Stigmatisierung ein. Am effektivsten scheint es zu sein, verschiedene Bewältigungsstrategien zu kombinieren. Je nach Situation können das sein:

- Neu- oder Umbewerten der Situation oder des Gesagten
- Vermeidung von Situationen, in denen Ablehnung droht
- Aufklärung und Information
- Widerspruch leisten, diskutieren
- Humor
- Gesellschaftliches Engagement für psychisch Kranke
- Geheimhaltung, Verschweigen
- Bei anderen Unterstützung und Hilfe suchen

Verborgene Strategien

Auch in der aktuellen Umfrage im Auftrag von G&G hielten es drei Viertel der Teilnehmer für die sinnvollste Methode, wenn Psychiatriepatienten nur ausgewählten Personen von ihrer Störung erzählen - unabhängig davon, ob die Befragten persönliche Erfahrung mit psychischen Erkrankungen gemacht hatten oder nicht.

Selektive Offenheit kam bislang in den meisten Umfragen zu Stigmatisierungserfahrungen nicht vor. Anscheinend haben Forscher unterschätzt, wie kreativ und differenziert psychisch Erkrankte ihre Diagnose handhaben. Auch Differenzen zwischen verschiedenen Störungsbildern wurden bisher meist vernachlässigt. Dabei zeigte sich in unserer Studie von 2010, dass sich die subjektiven Erfahrungen mit Stigmatisierung zwischen Schizophrenie- und Borderlinepatienten stark unterscheiden.

Unter anderem scheint wichtig zu sein, in welchem Ausmaß die Betroffenen sichtbare Krankheitsanzeichen haben. Borderlinepatienten tragen oft einen erkennbaren Makel, nämlich Narben und andere Spuren selbstverletzenden Verhaltens. Tatsächlich berichteten aus dieser Gruppe deutlich mehr Teilnehmer von konkreten Erlebnissen, in denen sie diskriminiert wurden. Rund ein Fünftel gab an, zu ihrer schlimmsten Stigma-Erfahrung gehöre es, wegen dieser offenkundigen Zeichen einmal »geoutet« oder diffamiert worden zu sein.

Eine Patientin mit Brandnarben an den Armen berichtete etwa davon, wie sie auf offener Straße von einer Passantin beschimpft wurde: »Da kam diese Frau auf mich zu und fragte, ob ich mich nicht schämen würde. Es sei eine Zumutung, solche Arme offen zu zeigen!« Patienten mit Schizophrenie hingegen leiden eher darunter, dass andere ihre Symptome oft nicht ernst nähmen, weil die Krankheit die meiste Zeit nicht zu erkennen ist.

Auch im Umgang mit dem Stigma unterscheiden sich die Gruppen: Borderliner scheinen insgesamt aktiver, erzählen mehr Menschen von ihrer Situation und wenden eine größere Anzahl unterschiedlicher Strategien an als Schizophreniepatienten. Dies könnte natürlich daran liegen, dass sie es schwerer haben, ihre Erkrankung zu verheimlichen.

Ein großes Problem für Patienten, die öffentlicher Diskriminierung ausgesetzt sind, ist der Prozess der Selbststigmatisierung, auch »internalisiertes Stigma« genannt (siehe Kasten oben). Dabei sind sich die Betroffenen der Vorurteile über psychisch Erkrankte nicht nur bewusst, sondern erkennen diese als richtig an und schreiben sich die unerwünschten Eigenschaften schließlich selbst zu. Die Folge: In wichtigen Situationen, etwa bei der Job-, Partner- oder Wohnungssuche, trauen sie sich selbst wenig zu und geben vorschnell auf. Zudem nehmen sie seltener geeignete professionelle Hilfe in Anspruch. Ein solcher sozialer Rückzug kann wiederum die Symptome der psychischen Störung verstärken - ein Teufelskreis beginnt.

Inwieweit psychiatrische Patienten Vorurteile auf sich selbst anwenden, untersuchen Forscher meist mit Hilfe von Fragebögen. So zeigte sich auch in der von G&G beauftragten Umfrage eine deutliche Tendenz zur Selbststigmatisierung: Ein Drittel der Befragten, die bereits persönlich psychisch erkrankt waren, hielt es etwa für richtig, dass sich viele Menschen mit einer psychischen Störung »besser zusammenreißen« könnten. In der Gesamtstichprobe stimmte dem dagegen nur ein Fünftel zu.

 Psychische Erkrankung offenlegen oder nicht? 
NUTZEN
KOSTEN
Du musst dir keine Gedanken
darüber machen, deine Krankheit
zu verbergen.
Andere könnten deiner Erkrankung
oder deiner Offenheit ablehnend
gegenüberstehen.
Du kannst offener mit deinem
Alltag umgehen.
Andere könnten hinter deinem
Rücken über dich reden.
Andere könnten sich anerkennend
äußern.

Andere könnten dich sozial
ausgrenzen, z. B. nicht mehr zu
Festen einladen.
Andere könnten ähnliche
Erfahrungen gemacht haben.

Andere könnten dir Arbeits-,
Wohn- und andere Möglichkeiten
vorenthalten.
Du könntest jemanden finden, der
dich in der Zukunft unterstützen
kann.
Du könntest dir Gedanken darüber
machen, was die Leute über dich
denken.
Du stärkst dein Selbstwertgefühl
und deine Handlungsfähigkeit.
Du könntest fürchten, dass andere
dich bemitleiden werden.
Du bist ein lebendiges Beispiel
Stigma.

Künftige Rückfälle könnten gegen
belastender sein, weil alle
zuschauen.
Angehörige oder andere Personen
könnten wütend darüber sein, dass
du deine Erkrankung offengelegt
hast.

(Nach: Corrigan & Lundin 2001; Übersetzung: Beate Schulze)

Nicolas Rüsch von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich ging 2010 noch einen anderen Weg und maß die implizite, also die unbewusste Selbststigmatisierung von Patienten mit Hilfe eines Reaktionstests. Dabei erschienen verschiedene Begriffe auf einem Computermonitor. Die Teilnehmer mussten jeweils entscheiden, ob diese zu einer von zwei vorgegebenen Kategorien passten oder nicht.

So standen zum Beispiel oben auf dem Bildschirm die beiden Oberbegriffe »psychische Erkrankung« und »gut«. Für jeden Begriff, der unten aufleuchtete, mussten die Probanden nun entscheiden: Gehört er zu einer dieser beiden Kategorien? In diesem Fall sollten sie die rechte Taste drücken - sonst die linke. Später wechselten die beiden angezeigten Oberbegriffe zu »psychische Erkrankung« und »schlecht«.

Probanden fällt es allgemein leichter, die neu auftauchenden Begriffe zuzuordnen, wenn die beiden angezeigten Kategorien für sie besser zusammenpassen. Wer selbst Vorurteile gegenüber psychischen Erkrankungen hat, braucht also im ersten Block durchschnittlich etwas länger für seine Reaktionen. Die Differenz beträgt meist nur einige hundert Millisekunden, doch das genügt, um mentale Verknüpfungen zu offenbaren. Im zweiten Test erfasste Rüsch dann die implizite Selbstachtung der Probanden, indem er die Kategorie »ich« mal mit »gut« und mal mit »schlecht« zusammenbrachte.

Mittels dieses Impliziten Assoziationstests (IAT) konnte der Forscher Patienten identifizieren, die unbewusst Vorurteile gegenüber sich selbst und ihrer Krankheit hegten. Und das wirkt sich offenbar auf ihr Wohlbefinden aus: So schätzten diese Teilnehmer in einer anschließenden Befragung ihre Lebensqualität als geringer ein. Kein Zusammenhang bestand jedoch zu den Antworten in einem Fragebogen, bei dem die Versuchspersonen abwertenden Aussagen über psychisch Kranke zustimmen oder selbige ablehnen konnten. Rüsch folgert daraus, dass zwischen expliziter und impliziter Selbststigmatisierung unterschieden werden müsse: Durch einfaches Befragen lasse sich nicht immer herausfinden, inwieweit Patienten mit seelischen Leiden sich selbst gegenüber negativ eingestellt sind.

Stark gegen Stigmen

Dass sich Menschen mit einer psychischen Störung oft selbst abwerten, ist unbestritten. In der neueren Forschung gewinnt daher zunehmend eine Eigenschaft an Bedeutung, die dem entgegenwirken soll: Stigma-Widerstand. Dabei handelt es sich um eine Art von Resilienz, also der Fähigkeit von Menschen, aus belastenden Situationen unbeschadet oder sogar gestärkt hervorzugehen (siehe G&G 3/2010, S. 46).

Wer über großen Stigma-Widerstand verfügt, kann negativen Vorstellungen über psychisch Erkrankte etwas entgegensetzen oder lässt sich gar nicht erst davon beeindrucken. Die Betroffenen vertrauen darauf, ihr Leben nach den eigenen Wünschen gestalten zu können, und sind davon überzeugt, dass auch Menschen mit einer psychiatrischen Diagnose einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft leisten können. Sie sehen sich durch ihre Erfahrungen als persönlich gewachsen an und »abgehärtet« für weitere Herausforderungen.

Auch einige neuere Studien demonstrieren, dass sich psychisch Erkrankte durchaus erfolgreich zur Wehr setzen können - nachdem Forscher die Patienten lange nur als passive »Empfänger« von Stigmatisierung gesehen hatten. Das bekräftigt zum Beispiel eine Längsschnittstudie der Psychologin Brigitte Müller und ihrer Kollegen von der Psychiatrischen Universität Zürich aus dem Jahr 2006. Die Ergebnisse zeigen, dass erlebte Stigmatisierung, anders als meist angenommen, nicht zwingend die Anzahl der sozialen Kontakte der Betroffenen verringert. Auch wer konkrete Erfahrungen mit Vorurteilen oder Diskriminierung gemacht hatte, klagte nicht unbedingt über eine geringere soziale Unterstützung.

Durch einfaches Befragen lässt sich nicht immer herausfinden, inwieweit Patienten mit seelischen Leiden sich selbst gegenüber negativ eingestellt sind

2011 befragten Ingrid Sibitz und Kollegen von der Medizinischen Universität Wien 157 an Schizophrenie Erkrankte. Rund zwei Drittel von ihnen zeichneten sich durch eine hohe Widerstandskraft gegen Stigma aus: Vor allem lehnten sie negative Stereotype über Schizophreniepa tienten für sich persönlich ab. Diese Probanden schätzten ihre Lebensqualität als besser ein, litten weniger unter Depressionen und hatten mehr soziale Kontakte als Studienteilnehmer, die über keinen Stigma-Widerstand verfügten. Sie fühlten sich auch seltener auf Grund ihrer Erkrankung fehl am Platz oder waren von sich selbst enttäuscht.

Das zeigt: Psychisch Erkrankte sind der distanzierten Haltung breiter Bevölkerungsschichten nicht schutzlos ausgeliefert. Eine Veränderung der öffentlichen Stereotype scheint bestenfalls auf lange Sicht möglich - doch die Betroffenen können lernen, angemessene Bewältigungsstrategien im Umgang mit ihrem Stigma zu entwickeln. Immer mehr Therapeuten fordern daher, Stigma-Widerstand gezielt während der Behandlung von seelisch erkrankten Menschen zu thematisieren und zu fördern. Dabei sollten die oft schon bestehenden, zum Teil sehr ausgefeilten Strategien der Betroffenen in die Behandlung integriert und erweitert werden.

Wie die Stigmaforscher Patrick Corrigan und Amy Watson bereits 2001 in ihrem Buch »Don't Call me Nuts!« (zu Deutsch etwa »Nenn mich nicht verrückt!«) feststellten, bleibt die Frage »Erzählen oder verheimlichen?« oft die schwierigste Entscheidung im Umgang mit Stigmatisierung (siehe Kasten). Effektive Therapiemodule sollten daher unbedingt ein Training dafür beinhalten, diese nicht immer leichte Frage zu lösen.

Beate Schulze hat Soziologie, Psychologie und Volkswirtschaft studiert. Derzeit ist sie Gastwissenschaftlerin am Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health der Universität Leipzig und Lehrbeauftragte an der Universität Zürich.

Randnotizen

Im sozialen Abseits
Menschen mit psychischen Leiden fühlen sich oft nicht von der Gemeinschaft akzeptiert. Umfragen bestätigen, dass die Mehrheit der Deutschen nach wie vor auf Distanz zu ihnen geht.

Wie Aufklärung wirkt
In den letzten Jahren wurden zahlreiche Projekte gegen die Stigmatisierung psychisch Kranker ins Leben gerufen. Forscher der Universität Leipzig untersuchten 2006 die Arbeit des Vereins Irrsinnig Menschlich e.V. Bei dessen Schulprojekt »Verrückt? Na und!« erhalten Jugendliche Informationen über psychische Störungen und treffen mit Patienten zusammen. Die Teilnehmer an diesen Veranstaltungen hatten anschließend weniger negative Stereotype und empfanden die soziale Distanz zu den Betroffenen als geringer.

(Winkler, I. et al.: Strategien gegen die Stigmatisierung psychisch kranker Menschen und ihre praktische Umsetzung am Beispiel des Irrsinnig Menschlich e.V. In: Gesundheitswesen 68, S. 708-713, 2006)
www.irrsinnig-menschlich.de Informationen zu den Anti-Stigma-Projekten des Leipziger Vereins

MUT ZUR WAHRHEIT
Auf andere zuzugehen ist wichtig, um Stigmatisierung erfolgreich zu überwinden. Dabei sollten Betroffene jedoch im Einzelfall abwägen, wem sie von ihrer Diagnose erzählen und wem nicht.

Quellen

Corrigan, P. Lundin, R.: Don't Call me Nuts! Coping with the Stigma of Mental Illness. Recovery Press, Tinley Park 2001

Schulze, B. et al.: Das Inventar Subjektiver Stigmaerfahrungen (ISE): Ein neues Instrument zur quantitativen Erfassung subjektiven Stigmas. In: Psychiatrische Praxis 36, S. e19-e27, 2009

Sibitz, I. et al.: Stigma Resistance in Patients With Schizophrenia. In: Schizophrenia Bulletin 10.1093/schbul/sbp0 48, 2011

Weitere Quellen im Internet: www.gehirn-und-geist.de/artikel/106971

© 2011 Beate Schulze, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
GEHIRN&GEIST 6/2011, Seite 42 - 49
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
Redaktion und Verlag:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. August 2011

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