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ARTIKEL/407: Ein Drittel aller Europäer mental erkrankt (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 38 vom 23. September 2011
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Ein Drittel aller Europäer mental erkrankt
Vom "Europäischen Pakt für Psychische Gesundheit und Wohlbefinden" zur Massenerkrankung der europäischen Jugend

von Hans-Peter Brenner


Am 13. Juni 2008 wurde in Brüssel eine hochrangig besetzte EU-Konferenz zum Thema "Gemeinsam für Psychische Gesundheit und Wohlbefinden" durchgeführt. Im Ergebnis wurde feierlich der "Europäische Pakt für Psychische Gesundheit und Wohlbefinden" verkündet und unterzeichnet.

Sowohl die Konferenz als auch der Pakt waren die Folge einer Anhörung zum "Grünbuch über psychische Gesundheit", das die EU-Kommission im Herbst 2005 vorgelegt hatte. In der bürgerlichen Presse wurde seiner Zeit der Pakt als "ein Symbol für die Chancen und Herausforderungen im Bereich der psychischen Gesundheit" gelobt.

Problem erkannt ...

Seine Dringlichkeit war damals vor allem mit folgender schlimmer Bilanz des Gesundheitszustands und psychischen Befindens der Europäer begründet worden: schätzungsweise 11 Prozent der Europäer erlitten jedes Jahr eine psychische Erkrankung; Suizid war eine der Hauptursachen vorzeitiger Todesfälle in Europa. Insgesamt waren im Jahre 2006 58 000 Selbstmorde registriert worden. Davon standen 90 Prozent im Zusammenhang mit psychischen Störungen; etwa 50 Prozent der psychischen Störungen begannen im Jugendalter; im Jahre 2004 beliefen sich die "volkswirtschaftlichen Kosten" der Depressionen in der EU auf zirka 235 Euro pro Einwohner bzw. 118 Milliarden Euro in allen EU-Mitgliedsländern. Die Kosten für die Gesundheitssysteme sowie durch Fehlzeiten am Arbeitsplatz, Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung wurden als "eine immer größere Herausforderung" eingestuft; die altersbedingten psychischen Störungen, wie Demenz aber auch Depressionen aufgrund geringerer sozialer Unterstützung, nahmen deutlich zu; psychische Erkrankungen wurden gleichwohl immer noch mit Tabuisierung und Stigmatisierung verbunden. Der "Europäische Pakt" wollte der zunehmenden Bedeutung psychischer Gesundheit Rechnung tragen und konzentrierte sich auf folgende fünf Themenund Arbeitsbe reiche:

• Vorbeugung von Selbstmord und Depression.

• Psychische Gesundheit in den Bereichen Jugend und Bildung.

• Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz.

• Psychische Gesundheit bei älteren Menschen.

• Bekämpfung von Stigma und sozialer Ausgrenzung.

Mit den angekündigten Initiativen der EU sollten die psychischen Erkrankungen "stärker in den gesundheits-, sozialund wirtschaftspolitischen Blickpunkt gerückt und Möglichkeiten zum Austausch und zur Zusammenarbeit zur gemeinsamen Bewältigung geschaffen werden" - so lautete damals ein wohlwollender Kommentar.

... aber nicht gebannt.

Drei Jahre später zeigt sich, dass es nicht nur keine Erfolge bei der Bekämpfung und Linderung der psychischen Erkrankungen als eines Massenphänomens gibt, sondern dass die Bilanz immer schlechter ausfällt. Eine Forschergruppe der Universität Dresden unter Leitung des bekannten Klinischen Psychologen Professor Hans-Ulrich Wittchen stellte die bislang umfangreichste Studie zur psychischen Gesundheit der Europäer vor ("Neuropsychopharmacology" 2011; 21: 655-679).

Die Studienergebnisse basieren auf einer über drei Jahre durchgeführten Studie und beziehen sich auf alle 27 EU Staaten sowie die Schweiz, Island und Norwegen mit einer Gesamt-Einwohnerzahl von 514 Millionen Menschen. Es wurden mehr als 100 unterschiedliche psychische und neurologische Krankheitsbilder berücksichtigt. Damit ist dies die weltweit erste Studie, die ein nahezu vollständiges Spektrum von psychischen und neurologischen Störungen umfasst.

Die Studie liefert erstmals ein realistisches Bild zur Häufigkeit und Belastung psychischer Störungen für alle europäischen Länder sowie für Europa als Ganzes. Die Bilanz überrascht selbst psychotherapeutische Profis. Die wichtigsten Ergebnisse:

• Jährlich leiden 38,2 Prozent aller Einwohner der EU (164,8 Millionen Menschen) unter einer klinisch bedeutsamen psychischen Störung.

• Psychische Störungen sind in allen Altersstufen ähnlich häufig und selbst unter Kindern und jungen Erwachsenen weit verbreitet.

Die häufigsten Erkrankungsformen sind laut Studie Angststörungen (14,0 Prozent der Gesamtbevölkerung), Schlafstörungen (7,0 Prozent), "unipolare" Depressionen (6,9 Prozent), psychosomatische Erkrankungen (6,3 Prozent), Alkohol- und Drogenabhängigkeit (>4 Prozent), Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen (5 Prozent aller Kinder und Jugendlichen) und Demenzen (1 Prozent bei 60-65 Jährigen bis 30 Prozent bei Personen über 85 Jahren.

Was ist neu?

Wie das Deutsche Ärzteblatt am 5. 9. schreibt, hatte die Gruppe Wittchen im Jahre 2005 das erste Mal versucht, das Ausmaß mentaler Störungen abzuschätzen. Ihr damaliger Report hatte in "European Neuropsychopharmacology" (2005: 15: 357-76) die Prävalenz (Verbreitungsquote) auf 27 Prozent geschätzt. Der Anstieg auf jetzt 38,2 Prozent, liegt daran, dass der aktuelle Report weitere Störungen berücksichtigt, etwa die Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen oder Schlafstörungen.

Nur bei den Demenzen gibt es einen Anstieg, der auf die Zunahme der Lebenserwartung zurückzuführen ist. Häufigkeit und Rangliste der psychischen Störungen sind laut dem Bericht in allen Ländern ähnlich. Einzige Ausnahme bilden Suchterkrankungen.

Dagegen gibt es nicht die häufiger zu findenden Depressiven "im finsteren Norden". Und im "sonnigen Süden" gibt es nicht mehr Ausgeflippte und Aufgedrehte mit "histrionisch gestörter" Persönlichkeit.

Das "Ärzteblatt" verweist auf das wirklich (aus medizinischer Sicht) Neue: "Neu am Report ist eine Abschätzung der "disability-adjusted life years (DALYs). Das ist die Zahl der Lebensjahre, die in Folge von Krankheit, Behinderung oder einem frühen Tod verloren gehen. Hier wurden neben den mentalen auch die organischen Hirnerkrankungen berücksichtigt. Beides ist ohnehin kaum zu trennen.

Die vier am stärksten belastenden Erkrankungen sind demnach: Depression, Demenzen, Alkoholabhängigkeit und Schlaganfall. Alle Krankheiten zusammen sind für 26,6 Prozent der gesellschaftlichen Gesamtbelastung durch Krankheiten in der EU verantwortlich. Wenn die Berechnungen von Wittchen stimmen, dann wären Hirnerkrankungen vor Krebs und Herzerkrankungen die häufigsten und am meisten belastenden Erkrankungen."

Besonders besorgniserregend sei die Zunahme von Depressionserkrankungen bei Jugendlichen. Sie stellen inzwischen den größten Bevölkerungsanteil bei den Depressiven. Wittchen stellt dazu fest: "Wir sehen bei Jungen und Mädchen auch unter 18 Jahren ungefähr fünfmal so häufig eine voll ausgeprägte Depression wie früher".

Schlechte Versorgung, zu vage Konsequenzen

Für Prof. Wittchen ist das Ergebnis keine Überraschung. Da das Gehirn das "komplexeste Organ des Körpers" sei, seien Störungen und Erkrankungen dort genauso möglich wie im Rest des Körpers. Er kritisierte, wie bereits im letzten Report von 2005, dass höchstens ein Drittel aller Betroffenen in der EU irgendeine Form professioneller Aufmerksamkeit oder eine Therapie erhalte. Die Behandlung beginne meistens erst Jahre nach Krankheitsbeginn und entspreche oft nicht den "minimalen Anforderungen an eine adäquate Therapie".

Die Reaktionen auf diese Meldungen fallen bestürzt bis sarkastisch aus. Ein sich als "Weitdenkender" vorstellender anonymer Blogger kommentierte diese Meldung auf "welt-online" mit den Worten:

"... bei den Arbeitsmarktaussichten in dieser verkommenen und dekadenten Wirtschaftsgesellschaft wundert es doch nicht, dass Europas Jugend depressive Zustände bekommt. Da ist es eher ungewöhnlich, dass da noch Jemand normal bleibt bei allem, was uns tagtäglich an Absurditäten das Leben schwermacht. Unglaublich ist dann auch, dass eine auf Profit basierende Pharmalobby mit den Krankheiten so viel Kasse macht, die als Ursache im System selbst zu suchen sind. Würden wir uns wie die ursprünglichen Menschen so geben, wie wir sind, bräuchten wir diese Giftcoctails an Medikamenten nicht mehr, die uns nur ruhigstellen sollen, obwohl es zum aus der Haut fahren ist." Dieser Ausdruck spontaner Entrüstung erscheint nicht untypisch in seiner Emotionalität und Hilflosigkeit - aber er legt den Finger in die offene Wunde nicht nur des kapitalistischen Systems, das diese enormen psychischen Belastungen verursacht, sondern auch in die des wissenschaftlichen "Befundes".

Was ist eine (richtige) Diagnose wert, wenn sie die Ursachen einer "Störung" nicht benennt oder verschleiert? Und was ist eine wissenschaftliche Studie wert, wenn sie nicht einige wichtige Schlussfolgerungen zieht oder zumindest andeutet? Hierzu bleiben die Aussagen der Studie unzureichend und zu vage.

Unzureichende Vorschläge

Wittchen schlägt vor:

• Die disziplinäre Aufsplitterung in Forschung und Praxis hinsichtlich unterschiedlicher Berufsgruppen (z. B. Psychiater, Neurologen, Psychotherapeuten, Psychologen) sowie daraus resultierend verschiedene Konzepte in Forschung und Praxis sowie Diagnostik und Therapie sei zu verändern.

• Die gesellschaftliche und politische Neigung, psychische und neurologische Erkrankungen als Randgruppen zu marginalisieren und zu stigmatisieren sei zu beenden.

• Das weit verbreitete Unwissen in der Bevölkerung und in der Gesundheitspolitik bezüglich der verschiedenen Formen psychischer Störungen, ihrer Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten sei zu korrigieren.

Die Wissenschaftler fordern "konzertierte Aktionen auf allen Ebenen - einschließlich einer erheblichen und der wahren Belastung entsprechenden Ausgabenerhöhung hinsichtlich der Grundlagen- und klinischen Anwendungs- und Versorgungsforschung. Ziel ist die verbesserte Aufklärung der Ursachen für psychische Störungen, um effektivere psychologische und medikamentöse Interventionen der Prävention und Therapie zu entwickeln, und so der Herausforderung zunehmender Belastungen durch psychische Störungen besser zu begegnen".

Anderer Ansatz erforderlich

Psychische Störungen seien als die Schlüssel-Herausforderung für die Gesundheitssysteme im 21. Jahrhundert zu bewältigen. In der Presseerklärung der Uni Dresden heißt es dazu:

"1. Das immense Ausmaß an Unter-, Fehl- und Mangelversorgung für die meisten psychischen Störungen muss beseitigt werden. Da viele psychische Störungen früh im Leben beginnen und - unbehandelt - massive negative Langzeiteffekte auf alle Lebensbereiche der Betroffenen haben können, müssen psychische Störungen früher und schneller nach ihrem erstmaligen Auftreten behandelt werden. Nur die gezielte und umfassende Frühintervention vor allem bei Jugendlichen kann einen exponentiell beschleunigten Anstieg der Häufigkeit Schwerstkranker und multimorbider Fallzahlen in Zukunft verhindern.

2. Wir müssen die komplexen Beziehungen der psychischen und neurologischen Erkrankungen untereinander beachten und erforschen. Anfänglich isolierte, relativ unkomplizierte psychische und neurologische Störungen führen unbehandelt oft zu vielfachen sekundären Erkrankungen, die wechselseitige Verstärkungen in der Krankheitsdynamik sowie eine erhebliche Mehrbelastung und massive Komplikation bedeuten. Wir brauchen Krankheits- und Versorgungsmodelle, die diese Entwicklungspfade über die gesamte Lebensspanne hinweg und für alle Erkrankungsgruppen berücksichtigen. Nur so kann es zu einem verbesserten Verständnis psychischer und neurologischer Störungen und einer effektiven Prävention und Therapie kommen."

Individualisierung und Fragmentarisierung sind eine Sackgasse

Aber reicht das aus? Und reicht die geforderte "deutliche Erhöhung" der nationalen und europäischen Forschungsbudgets aus, um die Ursachen-, Präventions- und Behandlungsforschung zu intensivieren? Und ist es mit dem zusätzlichen Ausbau der Behandlungsressourcen für psychische Störungen und verbesserten Zuweisungsmodellen getan, um die defizitäre Versorgungssituation "unmittelbar" zu verbessern?

Gewiss, sind diese Forderungen notwendig, aber sie sind nicht hinreichend. Wenn die psychischen Erkrankungen von den sozialen und politökonomischen Ursachen abgekoppelt bleiben, wenn die krankmachenden Arbeitsbedingungen und gleichzeitig die Folgen von (Jugend-)Arbeitslosigkeit als eines Massenproblems nicht beim Namen genannt werden, wird das Problem der massenhaften psychischen Störungen und Erkrankungen als individuelles Einzelschicksal - losgelöst von den gesellschaftlichen Ursachen - eingestuft und fehlbehandelt.

Zuzustimmen ist deshalb W. Seppmanns Analyse der "Dialektik der Entzivilisierung" ("junge Welt" vom 9. 9. 2011), in der er darauf hinweist, dass selbst in einem "Kapitalismus mit menschlichem Antlitz" der Mensch "fragmentarisiert und defundiert" wird, mit den entsprechenden Konsequenzen.

Das Zusammentragen von Fakten über die zunehmende Dehumanisierung und Pathologisierung der Lebensbedingungen von Hunderten von Millionen Menschen muss also weitergeführt werden zu einer Gesellschaftskritik und Diskussion über Widerstandsmöglichkeit und Alternativen gegenüber dem Kapitalismus. Dann bekäme die neue Studie einen wirklichen, den Menschen dienenden Zweck.

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 43. Jahrgang, 38 vom 23. September 2011, Seite 9
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. September 2011

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