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STANDPUNKT/002: Die "Offenen Hilfen" in der gemeindenahen Psychiatrie (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 129 - Heft 3, Juli 2010
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Die "Offenen Hilfen" in der gemeindenahen Psychiatrie
Eine Erfolgsgeschichte ist gefährdet

Von Fritz Bremer


Begegnungsstätten, Ambulante Dienste, Ambulante Zentren, Kontaktstellen ... so oder so ähnlich heißen die Einrichtungen der "Offenen Hilfen" in Schleswig-Holstein.

Sie bewähren sich seit fast dreißig Jahren als innovative Kristallisationspunkte in der gemeindenahen psychiatrischen Arbeit. Auf Grundlage des PsychKGs werden hier gesetzlich vorgeschriebene kommunale Leistungen erbracht. Die Arbeit ist zuwendungsfinanziert. Sie ist finanziell abhängig von den freiwilligen Zuschüssen des Landes und der Kommunen.

Die öffentlichen Haushalte geraten in Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise unter immer stärkeren Druck. Für die Jahre 2010 und folgende ist zu erwarten, dass alle freiwilligen Leistungen überprüft werden.


Zwölf Argumente für die Stärkung der "Offenen Hilfen"

Wir, die DGSP Schleswig-Holstein, setzen uns mit Nachdruck für den Erhalt und die Weiterentwicklung der "Offenen Hilfen" ein.

Warum?

1. Offene ambulante Hilfen mit Begegnungsstätten bieten einen niedrigschwelligen Zugang zu Beratung, Unterstützung und Vermittlung. Sie sind insofern eine unverzichtbare Chance für ersterkrankte Menschen, die noch keine Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen haben. Ebenso wichtig sind sie für psychisch erkrankte Menschen, die in ihrem Kontaktverhalten schwer beeinträchtigt sind und große Mühe haben, überhaupt einen Zugang zu Hilfsangeboten zu finden. Eine bedeutsame Auffang- und Vermittlungsfunktion haben die "Offenen Hilfen" zunehmend auch für Menschen in akuten Krisensituationen mit ganz unterschiedlichem und unter Umständen nur kurzfristigem Beratungsbedarf.

2. Für junge erwachsene psychisch erkrankte Menschen können gerade die "Offenen Hilfen" einen unbürokratischen, flexiblen, kreativen Zugang zu Beratung, Betreuung und Gruppenangeboten gestalten.

3. Andererseits sind die Begegnungsstätten mit Mittagstisch, Cafébetrieb, Gruppen, Festlichkeiten ... insbesondere für alte chronisch erkrankte Menschen ein zweites Zuhause, ein sozialer Raum vergleichbar mit Familie und Nachbarschaft.

4. "Offene Hilfen" sprechen also psychisch erkrankte oder in Krisen geratene Bürgerinnen und Bürger mit sehr unterschiedlichem Hilfebedarf in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen an. Sie sind multifunktional. Sofern sie frei bleiben von zu viel Steuerung und Dokumentationspflichten können sie flexibel und kreativ auf verschiedene Anforderungen reagieren.

5. "Offene Hilfen" entfalten in ganz Schleswig-Holstein seit zirka dreißig Jahren fortwährend eine innovative Wirkung. Vor allem die Erfahrungen in diesem Arbeitsfeld haben die Impulse gegeben für die notwendige Weiterentwicklung und Differenzierung in der gemeindenahen psychiatrischen Versorgung. Im Umfeld der "Offenen Hilfen" sind die meisten Psychoseseminare, Angehörigengruppen, Selbsthilfegruppen und anderes mehr entstanden.

6. Seit zirka dreißig Jahren sind Begegnungsstätten/Ambulante Zentren Informations-, Vermittlungs-, Verknüpfungspunkte der gemeindenahen Psychiatrie. Die Teams der "Offenen Hilfen" übernehmen wichtige Vernetzungsfunktionen in den Gemeindepsychiatrischen Verbünden.

7. Der geringe bürokratische Aufwand in den "Offenen Hilfen" ermöglicht ein effektives, ausgewogenes und der eigentlichen Aufgabenstellung angemessenes Verhältnis zwischen "Bürozeit" und "Betreuungszeit" der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Der größte Teil der Arbeitszeit der Teams ist der direkten Begegnung, Betreuung und Beratung gewidmet. Leider gibt es keine vergleichenden Studien, die den besonders effektiven Einsatz von Mitteln in "Offenen Hilfen" nachweisen. Unser Eindruck ist: "Offene Hilfen" sind auch ökonomisch äußerst sinnvoll.

8. Die "Offenen Hilfen" sind in besonderer Weise geeignet, Ausgangspunkte zu sein für vielfältige Kooperationen - mit anderen psychiatrischen Einrichtungen, mit der Jugendhilfe, mit Kinderschutzbund, Kirchengemeinden, Volkshochschulen und anderen mehr. So entstehen Netzwerke für Hilfen für Kinder, für Gruppenangebote, für Veranstaltungen, Aufklärung und Antistigmaarbeit, die weit über die psychiatrischen Einrichtungen hinauswirken. "Offene Hilfen" wirken als Multiplikator und gewinnen Multiplikatoren.

9. Für die Entwicklung von sozialräumlicher und inklusiver Orientierung können alle Interessierten von den "Offenen Hilfen" viel lernen. Die Zusammenarbeit mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern, Aufklärungs- und Antistigmaarbeit, die Wertschätzung für die Begabungen und das Engagement psychiatrieerfahrener Menschen und der Angehörigen, Kontakte zu Vereinen, soziokulturelle Veranstaltungen - in diesen und vielen anderen Feldern gibt es in Begegnungsstätten und Ambulanten Zentren Erfahrungsschätze zu entdecken. Diese Erfahrungen und Ansätze zu erkennen, sie aufzugreifen und systematisch weiterzuentwickeln ist ein entscheidender Schritt in Richtung Inklusion. Wer die Entwicklung inklusiver Orientierung will, muss "Offene Hilfen" erhalten und stärken.

10. Vorzugsweise im Rahmen der "Offenen Hilfen" entstehen Selbsthilfegruppen, werden psychiatrieerfahrene Menschen in vielfältiger Weise aktiv. Vor allem hier finden interessierte Bürgerinnen und Bürger Orientierung für ihr Engagement. Lesungen, Ausstellungen, Informationsveranstaltungen und vieles mehr finden insbesondere im Rahmen "Offener Hilfen" statt. Hier treffen sich die "Angehörigengruppen", meistens auch die Psychoseseminare. Gerade diese Einrichtungen sind geeignet, sich von einem "psychiatrischen Ort" hin zu einem "Ort für Bürgerinnen und Bürger" zu entwickeln.

11. Psychiatrieerfahrene Menschen werden selbst aktiv im Tagesablauf in der Begegnungsstätte, in Gesprächsrunden, in Selbsthilfegruppen, in der gegenseitigen Hilfe als Einkaufsbegleiter, als Krankenbesucher und in Psychoseseminaren als Moderatoren oder Referenten. Aus der passiven Rolle des Erkrankten herauszutreten, wirksam zu werden, Selbstwirksamkeit zu erfahren, Zugehörigkeit und eigene soziale Kompetenz zu erleben - das sind wichtige Schutzfaktoren für psychische Gesundheit. Die Einrichtungen für "Offene Hilfen" sind ein besonderer Raum, in dem entdeckt werden kann, dass man nicht nur Hilfe benötigt, sondern auch Hilfe geben kann. Die dort entstehenden Selbsthilfenetzwerke sind beeindruckend. Sie sind sozial und ökonomisch sinnvoll. Zugleich produzieren sie in hohem Maße Schutzfaktoren psychischer Gesundheit.

12. Als um 1975 die Reform der psychiatrischen Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland begann, ging es vor allem darum, das psychisch erkrankte Menschen wieder gemeindenah behandelt, betreut, begleitet werden sollten. Viele Betroffene und Reformer hielten das für notwendig. Zu spät wurde gefragt, ob es denn auch eine Gemeinde gäbe, die die Nähe ihrer psychisch erkrankten Mitbürgerinnen und Mitbürger wolle oder gar mitgestalten würde. An dieser Frage arbeiten wir bis heute.


Fazit

Voraussetzung für Nähe und Zugehörigkeit von Menschen in der Gemeinde ist eine öffentlich anerkannte, sozial relevante Rolle. Psychisch erkrankte Menschen haben eine solche Rolle in der Welt der herrschenden Normen und im "normalen" Alltag erst einmal nicht. Sie befinden sich in ihrer Lebenslage nicht nur außen vor, sondern an einer Leerstelle. In den Einrichtungen der "Offenen Hilfen" haben wir vielfach daran mitgearbeitet und beobachtet, wie ermutigend diese Leerstelle mit Leben erfüllt werden kann, wie vielfältig die in der Gemeinschaft anerkannten Rollen sind, die psychiatrieerfahrene Menschen hier übernehmen. Und seit einigen Jahren treten sie mit ihren Erfahrungen vor allem im Umfeld der Psychoseseminare, in beeindruckender Weise in die Öffentlichkeit.

"Offene Hilfen" müssen gestärkt und weiterentwickelt werden. Sie schaffen die Handlungsspielräume, die notwendig sind, um in Zeiten knapper Kassen kreative Wege zur Gewährleistung der notwendigen Hilfen und zugleich zur soziokulturellen Bereicherung des gesellschaftlichen Lebens zu finden.

Wer will eine solche Erfolgsgeschichte ernsthaft beenden?


Fritz Bremer ist Diplom-Pädagoge und Geschäftsführer der Brücke Neumünster gGmbH. Er ist Mitbegründer des Paranus-Verlags, Neumünster, und der Zeitschrift "Brückenschlag". Zahlreiche Veröffentlichungen.

Internetkontakt:
www.bruecke-gGmbH.de
www.paranus.de


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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 129 - Heft 3, Juli 2010, Seite 12 - 13
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Redaktion sowie des Autors
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2011