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THERAPIE/349: Therapie mitten im Leben (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 9/2016

Tagesreha
Therapie mitten im Leben

Von Anne Lütke Schelhowe


Zwischen ambulant und stationär: In der Tagesrehabilitation "TASK" in Kiel bleiben die suchtkranken Patienten in ihrem sozialen Lebensumfeld, erfahren aber an sechs Tagen die Woche intensive Behandlung.


Nicola ist 54 Jahre, alleinerziehend und Krankenschwester. Sie wirkt fröhlich und entspannt und macht motiviert beim morgendlichen Sportprogramm mit dem Elastikband mit. Auf den ersten Blick lässt nichts darauf schließen, dass hier eine Frau im Gruppenraum der "TASK" (Tagesrehabilitation für suchtkranke Menschen Kiel) steht. Doch seit Mitte Mai geht sie morgens nicht zur Arbeit, sondern fährt mit dem Fahrrad in die Hasseerstraße in Kiel, wo vor dem gemeinsamen Frühstück mit der Gruppe zunächst der Atem-Alkoholtest auf dem Plan steht. Nicola ist schon seit Jahren alkoholkrank. Sie bezeichnet sich selbst als "Pegeltrinkerin", ein stetiger Alkoholkonsum, der im täglichen Leben kaum auffällt. "Ich habe nie harte Sachen getrunken, aber dafür jeden Tag", erzählt sie beim Spaziergang durch eine nahe gelegene Grünanlage. Nur während der Arbeit habe sie keinen Alkohol konsumiert, doch "irgendwann hat die Menge nicht mehr gereicht und ich habe auch vor der Schicht getrunken". Vor Freunden, Verwandten und selbst ihrem eigenen Sohn konnte sie ihr Problem gut verstecken. Keiner bemerkte etwas. Vor drei Jahren wurde der alleinerziehenden Mutter eines heute 15-jährigen Sohnes aber klar, dass es so nicht weitergehen kann und sie suchte Hilfe bei ihrer Hausärztin. Doch die schlug ihr keine Therapie, nur eine Entgiftung vor. So zog die 54-Jährige, die auch an Depressionen leidet, irgendwann allein die Reißleine und landete über einige Umwege vor wenigen Monaten zuerst im Zentrum für Integrative Psychiatrie (ZIP) in Kiel und anschließend in der TASK.

Nicola ist dort Teil einer Gruppe von derzeit drei Frauen und acht Männern, die die Tagesreha als Alternative zur stationären Entwöhnungsbehandlung wahrnehmen. Sechs Tage die Woche besuchen die Patienten die Einrichtung, die von der Evangelischen Stadtmission Kiel betrieben wird. Jeden Morgen beginnt der Tag mit der Alkoholkontrolle aller Teilnehmer am Programm. "Der Test ist sehr wichtig, da bei uns nur Patienten die Therapie durchführen können, die in der Lage sind, abstinent zu bleiben", so Marina Soltau, Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin in der TASK. Bei Bedarf kann zusätzlich noch ein Urintest erfolgen. Bei einem positiven Test erfolgt ein Rückfallgespräch, "spätestens beim zweiten Mal ist Schluss. Das können wir nicht tolerieren", erklärt Soltau, die auch im ZIP tätig ist.

Das gemeinsame Frühstück in der Gruppe findet in einer eigenen Küche der Einrichtung statt. Hier werden die Teilnehmer auch selbst tätig: Sie kochen gemeinsam und erhalten Informationen über gesunde Ernährung. Währenddessen bespricht das Team den Tag und das Befinden einzelner Teilnehmer. Heute folgt nach dem Frühstück der Programmpunkt "Sport und Bewegung". Nach einigen Übungen mit dem Elastikband, die zur Kräftigung und gegen Rückenschmerzen wirken sollen, sowie anschließenden Dehnübungen geht es raus in die Sonne. Ein Spaziergang bietet den Patienten die Möglichkeit, sich untereinander auszutauschen und etwas zu entspannen.

Sich in der Gruppe zurechtzufinden, fällt nicht jedem auf Anhieb leicht: "Am Anfang war es schwer", so Nicola, "ich hatte Probleme mit den Mitpatienten". Inzwischen habe sie aber gelernt, Differenzen mit anderen anzugehen und offen zu besprechen. "Dadurch kann ich auch Probleme in meinem Alltag besser bewältigen und komme mit meinem Sohn besser zurecht." Ein Effekt, den auch andere Patienten schätzen: Oliver, 42 Jahre ist seit zwei Monaten in der Therapieeinrichtung. Auch er hatte am Anfang mit Konflikten in der Gruppe zu kämpfen. "Aber inzwischen weiß ich, wie ich mich damit auseinandersetzen kann." Der alleinerziehende Vater ist froh über die Möglichkeit der Tagesreha, da er so auch weiterhin für seine Kinder sorgen kann. "Und man ist nicht komplett aus dem Leben heraus. Bei einer stationären Behandlung ist man wie in Watte gepackt." Die TASK gebe ihm dagegen die Möglichkeit, alles Gelernte gleich im Alltag auszuprobieren. Genau auf diesem Aspekt baut das Konzept der Rehamaßnahme auf: Das familiäre und soziale Umfeld bleibt erhalten und die unmittelbare Lebensrealität fließt direkt in den therapeutischen Prozess ein. So können Probleme tagesaktuell besprochen und gezielte Maßnahmen für das häusliche Umfeld erarbeitet werden. Durch die Behandlungszeiten (Montag bis Freitag 8:30-16:30 Uhr, samstags 8:30-13:00 Uhr) sollen vor allem arbeitslose Menschen wieder eine Tagesstruktur erhalten, was Nicola nur bestätigen kann: "Die Therapie ist sehr strukturiert. Es gibt ein regelmäßiges Programm mit Ergotherapie, Sport, Gruppen- und Einzelsitzungen und gemeinsame Mahlzeiten. Zu Hause bin ich aufgrund meiner Depression einfach liegen geblieben. Die Struktur hier hilft mir."

Das Behandlungsangebot ist vom Umfang und den strukturellen Begebenheiten her zwischen der ambulanten Rehabilitation und einer stationären Entwöhnungsbehandlung angesiedelt. Es soll sich laut Konzept an jene Patienten richten, für die ein ambulantes Therapieprogramm nicht ausreicht, um die angestrebten Ziele zu erreichen, die aber ausreichend stabil sind, sodass eine vollstationäre Behandlung nicht notwendig ist.

Es ist ein Konzept, das in Schleswig-Holstein noch weitgehend unbekannt ist: "Viele Hausärzte wissen gar nicht, dass es uns gibt. Wir könnten noch viel mehr Zulauf haben", so Soltau. Das Angebot erstreckt sich über einen Zeitraum von zwölf Wochen und bietet maximal 20 Personen gleichzeitig Platz. Die Therapie setzt sich aus folgenden Bausteinen zusammen: Medizinische Behandlung, Gruppentherapie und Einzelgespräche, Physiotherapie, Akupunktur und PME, Sport, Themengruppen, Sozialberatung, Ergotherapie und Ernährungsberatung. Ein großer Fokus wird auch darauf gelegt, die Arbeitsfähigkeit der Patienten zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Dafür wird am Anfang festgehalten, welche Kompetenzen vorhanden sind und wo noch Entwicklungsbedarf besteht. Im Rahmen der Ergotherapie wird die Möglichkeit geschaffen, individuell an sich zu arbeiten. Das kann die Unterstützung beim Schreiben von Bewerbungen sein, aber auch kreatives Handwerk wie Malen oder das Gestalten mit verschiedenen Materialien. Dafür steht den Patienten ein großzügiger Ergotherapie- und Werkstattbereich mit professionellen Maschinen zur Verfügung, die mehrmals in der Woche unter Anleitung zu nutzen sind. Das kommt bei den Teilnehmern gut an: "Ich bin ein sehr kreativer Mensch. Dem kann ich hier freien Lauf lassen. Ich werde dabei unterstützt und Materialien werden besorgt, so wie wir sie benötigen", schildert Julia, 46 Jahre, die in der neunten Woche dabei ist und nach einem Rückfall nach erfolgreicher stationärer Therapie vor einigen Jahren einen neuen Anlauf wagt.

Einmal die Woche steht eine medizinische Inforunde durch den ärztlichen Leiter Dr. Jakob Koch, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, auf dem Programm. Im Stuhlkreis wird diesmal zur Frage "Welche medizinischen Probleme werden durch Alkohol/Drogen 'gebessert'?" diskutiert. Koch klärt dabei über Mythen und medizinische Erkenntnisse auf, geht geduldig auf Fragen und Anmerkungen ein. Haupterkenntnis in dieser Sitzung: Schmerzen lassen sich durch Alkohol tatsächlich kurzfristig bessern, langfristig werden sie aber schlimmer und die Alkoholdosis immer höher, um einen Effekt zu erzielen. Auch solche Runden führen zur Selbstreflexion, z. B. bei Jens, der hier feststellt: "So habe ich das wohl mit meiner schmerzenden Schulter auch gemacht."

Die Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Geschichte ist anstrengend und zuweilen schmerzhaft. Nach sechs Wochen Therapiezeit sollen alle Patienten ihre sogenannte Lebenslinie in der Gruppe vorstellen. In 90 Minuten werden wichtige Stationen des Lebens und ihr Zusammenhang zur Suchtmittelerkrankung präsentiert. Weitere 90 Minuten gibt es dann Feedback von der Gruppe. Nicola hat zwei Anläufe gebraucht, um ihre Lebenslinie fertigzustellen. "Man setzt sich sehr intensiv mit der Kindheit und Jugend auseinander. Ich hatte einige Dinge verdrängt. Und ich hatte Angst, mein Leben der Gruppe vorzustellen. Einige Dinge hätte ich gern verschwiegen, doch das wäre der falsche Weg gewesen. Ich wollte die volle Wahrheit sagen. Am Ende war es eine Befreiung für mich." Die ersten Treffen mit Bekannten, die ihr bei einer Feier Alkohol angeboten haben, hat sie inzwischen hinter sich und erfolgreich gemeistert. Sie will die Therapie noch einmal um vier Wochen verlängern und sieht zuversichtlich in die Zukunft.


Berufliche Orientierung der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitserkrankter (BORA)

Der Aspekt der Wiederherstellung bzw. Sicherstellung der Erwerbsfähigkeit als Grundlage zur Teilhabe am Arbeitsleben spielt in der TASK eine wichtige Rolle. Daher erfolgt eine zielgruppenorientierte Beratung und Therapie. Folgende Gruppen werden dabei unterschieden:

  • BORA-Zielgruppe 1: Rehabilitanden ohne besondere erwerbsbezogene Problemlagen
  • BORA-Zielgruppe 2: Rehabilitanden mit besonderen erwerbsbezogenen Problemlagen
  • BORA-Zielgruppe 3: Rehabilitanden ohne Arbeit, die ALG I beziehen, während der Krankschreibung arbeitslos geworden sind oder der Arbeitsplatz zwar noch vorhanden, aber durch Langzeitsarbeitslosigkeit von der Krankenkasse ausgesteuert sind
  • BORA-Zielgruppe 4: Rehabilitanden, die ALG II beziehen
  • BORA-Zielgruppe 5: Rehabilitanden, die nicht erwerbstätig sind (Schüler, Studenten, Hausmänner, Zeitrentner), die eine (Re-)Integration in den Arbeitsmarkt anstreben.


Dr. Jakob Koch kennt viele Patienten bereits aus dem ZIP Kiel, mit dem die TASK kooperiert und wo er als Oberarzt die Sucht- und Privatstation leitet.


Infoabend

Der Zugang zur TASK erfolgt über eine offene Info-Runde, die jeden Montag um 15:30 Uhr in der Hasseer Straße 49 in Kiel stattfindet. Hier können sich Interessierte über das Konzept und die Aufnahmemodalitäten informieren. Eine Anmeldung ist nicht notwendig.

Kontakt
TASK-Tagesrehabilitation, Telefon 0431260 44 730
task@stadtmission-kiel.de


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 9/2016 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2016/201609/h16094a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
69. Jahrgang, September 2016, Seite 20 - 21
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2016

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