Soziale Psychiatrie Nr. 131 - Heft 1, Januar 2011
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Visionen für die Sozialpsychiatrie
Frankfurter psychiatriepolitische Eckpunkte der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V. (DGSP)
Zur DGSP-Jahrestagung 2010 legte der Vorstand folgende Eckpunkte vor.
Zweck ... ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller
Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit
Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die
Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern. Zu den Menschen mit
Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche,
seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in
Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen
und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können"
(UN-Konvention zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderung
[UN-BRK], Artikel 1).
"Psychiatrie in Bewegung ... in der DGSP, mit der DGSP, durch die DGSP"
Psychiatriebewegung braucht Zukunftsentwürfe und Ideen. Wir haben sie!
Die UN-BRK zielt auf das Ende der Diskriminierung psychisch erkrankter Menschen und die Gewährleistung von Chancengleichheit. Über das bisherige Paradigma Integration hinaus geht die UN-Konvention weiter und verlangt die soziale Inklusion. Das heißt: Menschen mit psychischen Erkrankungen sollen in vollem Umfang am Leben in der Gesellschaft teilhaben und dabei ihre Autonomie und Unabhängigkeit bewahren. Ziel ist die umfassende und wirksame gesellschaftliche Teilhabe, Einbeziehung in die Gesellschaft, die Achtung vor der Unterschiedlichkeit aller Menschen und die Akzeptanz der menschlichen Vielfalt.
Das Zusammenleben von Menschen ohne und mit seelischen Erkrankungen muss selbstverständlicher werden, als es heute ist.
Die nachfolgenden Eckpunkte verstehen wir als notwendige Utopie
und als Forderung zur aktiven Gestaltung der Gesellschaft, damit
soziale Inklusion Realität wird und Menschen mit psychischen
Erkrankungen zukünftig als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft
in ihrem Sosein gesehen, ernst genommen und geschätzt werden. Die
Empowerment-Bewegung der Psychiatrie-Erfahrenen und internationale
Entwicklungen wie das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen (UN-BRK) ermutigen uns, den Vorgaben der UN-BRK zu
folgen.
1 Krankheits- und Gesundheitsverständnis
Psychische Erkrankungen sind unter anderem Ausdruck beeinträchtigter
Interaktion, mit vielfältigen psychosozialen und emotionalen Folgen
für das Individuum und die Gesellschaft. Folglich verstehen wir
seelische Gesundheit als Ergebnis gelingender Auseinandersetzung des
Subjekts mit sich selbst und seinem sozialen Umfeld.
2 Interventionen bei psychischen Erkrankungen
Sozialpsychiatrische Behandlungs- und Unterstützungsangebote
berücksichtigen die vielfältigen Faktoren, die zu psychischen
Erkrankungen führen. Interventionen richten sich demnach sowohl an den
einzelnen Menschen (Personenorientierung) als auch an seine Lebenswelt
(Sozialraumorientierung).
3 Konsequenter Lebensweltbezug
Sozialpsychiatrische Behandlung und Unterstützung findet konsequent in
der Lebenswelt der betroffenen Menschen statt. Psychiatrische Kliniken
sollen zukünftig die Funktion und die Größe von Krisenhäusern haben.
Menschen in besonders verletzlichen Phasen bieten sie Schutz und
Rückzugsräume. Psychiatrie als Ort der Ausgrenzung ist mit der
UN-Behindertenrechtskonvention nicht vereinbar. Politisches Handeln
ist notwendig, wenn psychisch Erkrankte von Arbeitslosigkeit betroffen
sind oder ihnen aufgrund ungerechter Verteilungskriterien ein
finanziell ungesichertes Leben droht.
4 Veränderte Psychopharmaka-Behandlung
Neuroleptika und andere Psychopharmaka machen viele psychische
Erkrankungen behandelbar und handhabbar. Aber sie heilen nicht, und
sie bergen nach wie vor bekannte und unerkannte Risiken. Der Einsatz
von Medikamenten erfolgt auf der Grundlage unabhängiger und
trialogisch kontrollierter Forschung, also unter Einbeziehung von
Professionellen, Angehörigen und Psychiatrie-Erfahrenen. Die Patienten
sind vor einer Behandlung umfassend zu informieren und ihr
Einverständnis hierzu ist einzuholen. Zum Schutz vor
Gesundheitsrisiken und unangemessenen gesellschaftlichen Kosten ist
die pharmazeutische Industrie unter besondere staatliche Aufsicht
gestellt.
5 Halt gebende Strukturen für Nutzer und Helfer
Sozialpsychiatrie ist eine gesellschaftlich respektierte soziale,
therapeutische und politische Arbeit auf hohem Niveau. Sie stellt
besondere Ansprüche an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die
Kommunikation mit verletzlichen, verunsicherten, herausfordernden
Menschen und ihrem Umfeld erfordert qualifiziertes Personal. Um Halt
und Sicherheit geben zu können, müssen professionell Helfende
ihrerseits Halt finden in stabilen Arbeitsverhältnissen, zu
existenzsichernden Löhnen, mit regelmäßiger Supervision und
Fortbildung.
6 Gemeinsames Verständnis
So vielfältig die Ursachen seelischer Erkrankungen, so
multiprofessionell sind die Hilfen. Berufsgruppen- und
institutionsspezifische Abgrenzungen sind überwunden, und es gibt eine
gemeinsame Grundhaltung und Sprache. In sozialpsychiatrischen Teams
arbeiten die Angehörigen aller Berufsgruppen gleichberechtigt
miteinander. Leitidee ist, dafür zu sorgen, dass sozialpsychiatrische
Behandlungssituationen für alle Beteiligten verstehbar, handhabbar und
in ihrer Bedeutung transparent werden. Berufsausbildungen sowie Fort-
und Weiterbildungen sind trialogisch orientiert. Psychiatrieerfahrene
Genesungsbegleiter sind Teil der Personalausstattung.
7 Berechtigte Ansprüche durchsetzen - Politik aktiv am Ort
gestalten
Das Sozialgesetzbuch (SGB), insbesondere SGB IX, bietet längst alle
Voraussetzungen für das gleichberechtigte Zusammenwirken von
Teilhabeleistungen, medizinischen, psychotherapeutischen,
pflegerischen und anderen Behandlungsangeboten. Sozialpsychiatrisch
Tätige engagieren sich auf den unterschiedlichen politischen Ebenen
für eine inklusive Praxis in der Sozial-und Gesundheitspolitik.
Vertreter der Betroffenen und Angehörigen sind in allen Gremien mit
Stimmrecht beteiligt. Regionale Budgets, die die Grenzen auf der Ebene
der Leistungsträger wie der Leistungserbringer überwunden haben, sind
umgesetzt und werden von allen am Hilfesystem Beteiligten
bedarfsorientiert gesteuert.
8 Planung orientiert sich am Menschen
Behandlungs- und Hilfeplanung findet nicht mehr unter der Maßgabe der
Kostenreduzierung statt, sondern der Personenzentrierung und der
regionalen Planung. Alle Beteiligten haben erkannt, dass knappe Mittel
am besten genutzt werden, wenn Handlungsspielräume für
bedürfnisorientierte Lösungen und sozialrechtlich verankerte Hilfen
eingeräumt werden.
9 Mit Verantwortung handeln
Sozialpsychiatrie akzeptiert und gestaltet auch den doppelten
gesellschaftlichen Auftrag: Behandlung und Kontrolle, Hilfe und Zwang
sind zwei Aspekte desselben Geschehens. Sozialpsychiatrie in
Verantwortung schützt den Einzelnen und die Gesellschaft vor
krankheitsbedingten Grenzüberschreitungen. Insofern gibt es zeitlich
befristete und situativ beschränkte Ausnahmen von den Prinzipien des
partnerschaftlichen Verhandelns und der unbedingten Selbstbestimmung.
10 Sozialpsychiatrie berücksichtigt Expertenwissen
Menschen mit Krisenerfahrung, besonders verletzliche Menschen, auch
Menschen mit herausforderndem Verhalten leben gleichberechtigt in der
Gesellschaft. Ihre vielfältigen Erfahrungen und Begabungen werden in
das soziokulturelle Leben der Gemeinde einbezogen und zum Bestandteil
bürgerorientierter kommunaler Sozialpolitik.
11 Aus Krisenerfahrenen werden Krisenhelfer
Die ökonomische Krise der jüngsten Zeit verursachte in breiten
Bevölkerungskreisen individuelle, existenzielle Krisen.
Psychiatrieerfahrene Menschen sind krisenerfahren. Viele haben
wirksame Bewältigungsstrategien entwickelt und bekommen die Chance,
ihre Kompetenz in Schulen und Ausbildungsgängen für psychosoziale und
medizinische Berufe zur Verfügung zu stellen. Psychiatrieerfahrene
Menschen bringen ihr Wissen in viele gesellschaftliche Bereiche ein
und übernehmen auf diese Weise gesellschaftlich respektierte Aufgaben.
12 Mehr Teilhabechancen für alle Menschen
Mit der Unterzeichnung der UN-Konvention zum Schutz der Rechte von
Menschen mit Behinderung sind die Weichen für einen tief greifenden,
nicht mehr umkehrbaren gesellschaftlichen Wandel gestellt worden. Die
UN-Konvention hat zur sozialen Inklusion der Menschen mit
Behinderungen beigetragen und der umfassenden gesellschaftlichen
Solidarität mit behinderten Menschen enorme Kraft verliehen:
Orientierung für individuelles und gesellschaftliches Handeln sind
nunmehr humane Werte; die Politik hat sich offensiv mit der ethischen
Grundhaltung und den Zielen der Konvention auseinandergesetzt und zu
einem positiven Lebensgefühl aller beigetragen - von Menschen mit und
ohne Behinderungen!
Diese Wirkung der UN-BRK gilt es auch für die Zukunft zu nutzen.
*
Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 131 - Heft 1, Januar 2011, Seite 24 - 25
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Heinz Mölders und der
Redaktion
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Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
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Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.
veröffentlicht im Schattenblick zum 15. April 2011
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