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DIAGNOSE/144: Autismus (1) - Eine Bestandsaufnahme, Interview mit Michel Favre (research*eu)


research*eu Nr. 57 - Juli 2008
Magazin des Europäischen Forschungsraums

"Wir müssen in ihre Welt eintreten"


Autismus ist heute in genetischer Hinsicht besser untersucht und durch die Zerebralbildgebung besser abgrenzbar als früher. Auch gibt es bestimmte, relativ erfolgreiche Programme zur Förderung von Menschen, die daran leiden. Trotzdem werden für diese Erkrankung noch zuverlässigere und frühzeitigere Diagnosemöglichkeiten benötigt, um eine optimale Behandlung zu gewährleisten. Eine Bestandsaufnahme dieser besonders komplexen Verhaltensstörung mit Michel Favre, Forschungsdirektor am INSERM (Institut National de la Santé et de la Recherche Médicale), Ressortleiter am Institut Pasteur (FR), Präsident der Vereinigung Pro-Aid Autisme und Vize-Präsident und Beauftragter für wissenschaftliche Fragen des Vereins Autisme Europe.


Ist Ihrer Ansicht nach Autismus eine Krankheit?

Eine Krankheit oder eine Behinderung, jedenfalls etwas, was nicht im Bereich des Normalen liegt. Denkt man aber genauer darüber nach, dann ist Autismus der gesteigerte Ausdruck eines Verhaltens, das durchaus zur Norm gehört, Wie zum Beispiel eine zehn- oder hundertfach verstärkte Aggression... Es gibt sehr unterschiedliche Formen und jeder Autist ist ein Einzelfall, mit eigenen Kriterien, der auf seine Umwelt verschieden reagiert und unterschiedlich an sie herangeht. Das macht es den Forschern nicht gerade leicht, das Phänomen zu verstehen, schon allein deshalb, weil sie, je nach Fachgebiet, nicht dieselben Kriterien zugrunde legen.

Trotzdem fasst man derzeit die verschiedenen Formen von Autismus mit sehr unterschiedlichen Schweregraden unter der sehr allgemeinen Bezeichnung "tief greifende Entwicklungsstörung" zusammen. Die genetischen, zerebralen und kognitiven Mechanismen sind bislang noch nicht sehr gut bestimmt. Man kann es sowohl mit vollkommen in sich verschlossenen Menschen zu tun haben als auch mit Menschen, die relativ normal leben, jedoch kontinuierlich Hilfe benötigen, weil sie sich in bestimmten Lebenssituationen nicht zu helfen wissen, wie beispielsweise beim Umgang mit Geld.

Oft wird Autismus mit genetischen Anomalien in Verbindung gebracht. Wie steht es damit?

Der genetische Ursprung des Autismus wird in umfangreichen Forschungsarbeiten untersucht. Tatsächlich weisen eine erhöhte Korrelation bei eineiigen Zwillingen, eine erhöhte Inzidenz bei Familien, in denen bereits ein Kind betroffen ist, und die Verbindung mit bekannten genetischen Erkrankungen darauf hin, dass es genetische Faktoren gibt, die die Entwicklung autistischer Syndrome fördern. Aber diese Behinderung ist besonders schwer zu erfassen, weil sie meist das Ergebnis einer Fehlfunktion mehrerer Gene ist - mindestens zwanzig, vielleicht sogar hundert - was jeweils zu demselben oder einem anderen Phänotyp führen kann. Mit anderen Worten: Je nach Fall sind nicht dieselben Gene betroffen.

Die ersten beteiligten Gene, die man entdeckte, liegen auf dem X-Chromosom. Dieses ist auch für andere Krankheiten verantwortlich, wie das Rett-Syndrom (Gen MeCP2) oder das Fragile X-Syndrom (Gen FMR1), und Menschen, die an diesen Syndromen erkrankt sind, können autistische Merkmale aufweisen. Die Untersuchung der Umbildung des X-Chromosoms zeigte auch Mutationen der Neuroligin-Gene (NLGN3 und NLGN4), die an den Mechanismen für die Bildung und Reifung der Synapsen im Zentralnervensystem beteiligt sind. US-amerikanische Forscher stellten zudem eine Veränderung im MET-Gen fest, das eine Rolle bei der Entwicklung des Gehirns spielt. Alle diese Gene werden mit Autismus in Verbindung gebracht, verursachen aber nicht unbedingt eine Behinderung. Die im MET-Gen beobachtete genetische Variation beispielsweise erhöht das Risiko, ein autistisches Kind zu bekommen, um den Faktor 2,5.

Ermöglichen diese Kenntnisse eine Verfeinerung der Diagnose?

In den meisten Fällen kann der Gentest einfach eine mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeit für das Auftreten der Krankheit angeben. Es muss also ein Unterschied zwischen genetischer Diagnose und genetischer Beratung gemacht werden. Wenn in einer Familie eine Mutation festgestellt wurde, spricht nichts gegen eine Beratung. Die Eltern müssen wissen, ob sie ein autistisches Kind bekommen könnten, und müssen sich entscheiden.

Aber diese Arbeiten stecken noch in den Anfängen. Es wäre ideal, über Kriterien für die Frühdiagnose zu verfügen - derzeit erfolgt diese nämlich erst im Alter von drei Jahren. Dann könnte man bereits früh auf ein noch sehr formbares Gehirn einwirken, je schneller die Erkrankung behandelt wird, umso geringer fällt die Behinderung aus.

Sie sprechen von drei Jahren, aber bereits das Verhalten eines Babys sollte die Aufmerksamkeit der Eltern erregen...

Selbstverständlich kann es einen gewissen Stress verursachen, sein Baby ununterbrochen ganz genau zu beobachten. Außerdem haben manche Kinder mit zwei Jahren etwas eigenartige Verhaltensweisen, liegen aber ein Jahr später voll in der Norm... Hätte man sie also behandeln sollen? Die Familie zu ängstigen, indem man verkündet, es gebe das Risiko einer Behinderung? Das ist eine schwierige Frage, auf die ich selbst keine Antwort habe. Derzeit haben wir jedenfalls keine Kriterien, die mit 100 % iger Sicherheit bei einem zweijährigen Kind bestimmen können, oh es später Autist wird.

Gibt die medizinische Bildgebung keine weiteren Aufschlüsse?

Die Forschung in der medizinischen Bildgebung erklärt meiner Ansicht nach vieles über die Reaktionen im Gehirn eines autistischen Menschen im Vergleich zu einem normalen Gehirn, indem sie beispielsweise mangelnde Aktivität mehrerer Zonen in den beiden Temporallappen aufzeigt. Diese Anomalien des Temporallappens könnten Ursachen für autistische Symptome und auch für eine Desorganisierung der neuronalen Netze sein. Das Gehirn der Kinder sollte also strukturelle und funktionelle Anomalien zeigen. Damit ist man weit von den Erklärungen der Psychoanalyse entfernt, wenngleich man noch keine wirklichen Erklärungen, ganz zu schweigen von Behandlungshypothesen, schlussfolgern kann.

Daneben eröffnet die Entwicklung der derzeitigen Forschung große Hoffnungen auf den möglichen Einsatz von Stammzellen. Dabei würde man versuchen, im Gehirn Stammzellen zu reimplantieren und sie so neu zu programmieren, dass sie ein Neuron wiederherstellen können, das Verbindungen bildet, um auf einen visuellen, akustischen oder anderen Stimulus zu reagieren. Wie bei vielen Erkrankungen sind auch hier alle Blicke auf die Neurobiologie gerichtet.

Gibt es also derzeit keine echte Therapie?

Es kommt darauf an, welchen Sinn Sie diesem Begriff gehen. Es gibt die Betreuung autistischer Personen. Spezielle Methoden, mit denen sie lernen, autonom zu werden in einem Universum, das sie verstehen können, und zu kommunizieren, wenn sie nicht sprechen. Hieran muss derzeit gearbeitet werden, vor allem an der Ausbildung der Betreuer und der Eltern, die sich um diese Kinder kümmern. Es gibt sehr gute Programme, die vor etwa 50 Jahren von US-amerikanischen Forschern initiiert wurden, wie ABA und TEACCH. Letzteres entwickelt sich kontinuierlich weiter - entsprechend den Erfahrungen der Ärzte oder durch Autisten, die sprechen und beschreiben können, was sie in bestimmten Situationen empfinden. All das ermöglicht eine Weiterentwicklung der Methoden und eine verbesserte Anpassung an jeden einzelnen Fall.

Ein wichtiges Prinzip ist, nicht zu versuchen, den Autisten in unsere Welt zu bringen. Vielmehr müssen wir uns in seine Welt begeben, versuchen zu verstehen, wie sie funktioniert, und um diesen Menschen herum ein Universum aufbauen, das er erfassen kann, ihn beim Verständnis dieser Umgebung unterstützen und ihm die Mittel für die Kommunikation an die Hand geben.

Gibt es in Europa sehr unterschiedliche Situationen?

In Schweden stellen die Gemeinden den Eltern von Anfang an einen kompetenten Helfer zur Seite, und so wissen die Eltern, dass ihr autistisches Kind in jeder Phase seines Lebens betreut wird. In Italien werden leicht behinderte Kinder, die kommunizieren können, in den Schulen sehr gut akzeptiert. Die Eltern sind sehr erfreut, dass es durch ihre Präsenz kleinere Klassen und mehr Lehrer gibt. Alles läuft sehr gut, wenn man den Kindern erklärt, dass ihr Freund ein Problem hat und man ihm helfen muss, anstatt ihn zum Prügelknaben zu machen.

In Frankreich standen wir jahrelang unter dem Einfluss bestimmter Psychiater und Psychoanalytiker. Heute wissen wir, welche verheerenden Auswirkungen die Theorien von Bruno Bettelheim hatten, die vielen Müttern Schuldgefühle mit der Erklärung aufluden, der Autismus werde durch gefühlskalte Mütter verursacht, die nicht in der Lage seien, eine Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen. Das alles hat großen Schaden angerichtet. Eltern schlossen sich in Vereinigungen zusammen, weil sie es satt hatten, in die Falle der psychoanalytischen Psychiatrie zu tappen, und sagten sich, es sei an der Zeit, andere Ansätze zu entwickeln. Damit es keine Missverständnisse gibt: Ich verurteile nicht die Psychoanalyse an sich, ich sage nur, dass sie nichts für Autisten ist. Es gibt übrigens heute sehr viele Psychiater und Psychoanalytiker, die sich dessen bewusst sind.

Was brauchen Autisten am meisten?

Das Wichtigste ist, sie glücklich zu machen. Deshalb muss man ihnen erlauben, in einem Umfeld zu leben, in dem sie keinen oder möglichst wenig Ängsten ausgesetzt sind. In diesem für sie passenden Umfeld, das noch dazu für jeden anders aussehen kann, müssen sie sich so autonom wie möglich bewegen können. Autisten müssen als Bürger betrachtet werden, sie müssen ein Recht auf Bildung und Zugang zu Behandlung erhalten und dürfen nicht an einen Ort abgeschoben werden, wo man sie nicht mehr sehen will. Autisme Europe, eine NRO, die über 80 Vereine aus mehr als 20 europäischen Ländern umfasst, hat sich der Verteidigung dieser Prinzipien verschrieben.

Menschen, die in geringerem Maß von einer tief greifenden Entwicklungsstörung betroffen sind - und manchmal über einen überdurchschnittlichen IQ verfügen - können sehr wohl von Schulbildung profitieren, wenn sie entsprechend angepasst ist. Die Schulen müssen die Möglichkeit erhalten, solche Kinder aufzunehmen. Und wissen Sie, das Recht auf Bildung gilt das ganze Leben lang...

Interview geführt von Christine Rugemer


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Stephen Wiltshire, The Amstel River, Amsterdam, Tinte und Bleistift, 1991.

Seit seiner Kindheit begeistert sich Stephen Wiltshire für Architektur und besitzt ein außergewöhnliches visuelles Gedächtnis. Er zeichnet Städte und, da er gerne durch die Welt reist, rekonstruiert er mit bemerkenswerter Genauigkeit die Orte, die er besucht oder überflogen hat. Seine Zeichnungen wurden bereits in drei Büchern herausgegeben.

Der Fluss Amstel (Amsterdam) gehört zu Floating Cities (New York, 1991).


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Quelle:
research*eu Nr. 57 - Juni 2008, Seite 8 - 9
Magazin des Europäischen Forschungsraums
Copyright: Europäische Gemeinschaften, 2008
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auf Englisch, Französisch und Spanisch herausgegeben.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Januar 2009