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DIAGNOSE/146: Autismus (3) - Zugang zur inneren Welt, Therapie in Spezialzentren (research*eu)


research*eu Nr. 57 - Juli 2008
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Zugang zur inneren Welt

Von Julie Van Rossom


In den Spezialzentren mit behavioristischer Ausrichtung geht es darum, die Betreuungsmethoden für Autisten individuell anzupassen. Dieser Ansatz erzielt beim Umgang mit der Behinderung heutzutage die überzeugendsten Ergebnisse. Ein Bericht aus drei belgischen Zentren.


Kommunizieren, den anderen verstehen, seine Haltung an eine gegebene soziale Situation anpassen - so viele unverfängliche Gesten, die wir alle täglich beinahe unbewusst ausführen. So viele Gesten, die für die meisten Autisten unüberwindbare Prüfungen darstellen. Eingeschlossen im eigenen Ich, gefangen in der eigenen Welt... So werden Autisten häufig beschrieben, was jedoch den grundlegend vielfältigen Charakter dieser Krankheit kaschiert. Denn je nach der Persönlichkeit des Einzelnen gibt es ebenso viele Autismen wie Autisten. Jeder besitzt seine eigenen Stärken, seine eigenen Schwächen und braucht daher eine "maßgeschneiderte" Behandlung.


Mistral, der Lichtblick nach der Psychiatrie

Saint-Georges-sur-Meuse, ein kleines Dorf im wallonischen Teil Belgiens. Vor 14 Jahren wurde der gemeinnützige Verein Aide aux Autistes Adultes - Mistral eröffnet, um den Mangel an Einrichtungen für autistische Erwachsene in Belgien auszugleichen. "Drei Viertel unserer Bewohner kommen aus psychiatrischen Kliniken. Für autistische Menschen dieser Generation ist es ein eher normaler Lebensweg. Die meisten unter ihnen wurden von einem Zentrum ins andere verlegt, hervor sie schließlich in einer psychiatrischen Einrichtung landeten, wo sie mit Neuroleptika ruhig gestellt wurden", erklärt Cédric Kalkmann, Direktor von Mistral. "Beim Eintreffen der Bewohner ist es daher unser erstes Ziel, ihre chemische 'Zwangsjacke' so weit wie möglich abzubauen und gleichzeitig andere Strategien einzusetzen, um abweichendes Verhalten einzuschränken und ihnen die wichtigsten Bewegungsabläufe beizubringen, wie sich an einen Tisch zu setzen oder auf die Toilette zu gehen."

Da sie sich nicht ausdrücken können und von ihrer Umgebung nicht verstanden werden, reagieren viele autistische Menschen mit Gewalt, denn nur so können sie nach Meinung der Kognitivisten die Aufmerksamkeit anderer auf sich ziehen. Daher muss ein geeigneter Kommunikationsrahmen geschaffen werden, der als Treffpunkt zwischen unserer sozialen Welt und dem inneren Universum der autistischen Menschen dient "Wir versuchen, uns auf die Ebene ihrer Behinderung zu stellen, damit sie ihre Umgehung besser verstehen und wir besser mit ihnen kommunizieren können. Jetzt ist das antisoziale Verhalten rückläufig und die Neuroleptikadosen können drastisch gesenkt werden", erklärt Cédric Kalkmann. "Natürlich traten in den ersten Jahren des Bestehens unseres Zentrums Aggressionen sehr viel häufiger auf. Schrittweise ist es uns jedoch gelungen, sie um 90 % zu reduzieren." Wie? Indem aggressives Verhalten ignoriert und andererseits angemessenes Verhalten belohnt wird.

Die Architektur trägt maßgeblich zum Wohlbefinden der Bewohner des Zentrums bei. "Jedem Raum ist eine Farbe zugeordnet, die einer ganz bestimmten Aktivität entspricht. Die Flure und Treppen sind beispielsweise gelb gestrichen, da Gelb die Farbe des Übergangs ist."

Diese Verfahrensweise wird von der TEACCH-Methode empfohlen, einer der vielen behavioristischen Ansätze, die für die Betreuung autistischer Menschen verwendet werden. Ziel ist es, die Zeit und den Raum zu strukturieren, sodass die übersteigerte Angst der Autisten vor Veränderungen so weit wie möglich eingeschränkt wird. "Wir kombinieren dieses Konzept auch mit dem Snoezelen (Siehe Kasten), wodurch uns die Arbeit am Menschen, an der zwischenmenschlichen Beziehung ermöglicht wird."

"Wir funktionieren mit vier Gruppen, vier Wohneinheiten mit je sieben bis acht Personen, die von zwei Pädagogen betreut werden. Das ist der zentrale Raum des alltäglichen Lebens. Die Bewohner essen hier, lernen oder halten sich kurz zwischen zwei Aktivitäten auf." Stühle und Schaumstoffsessel, Schränke voll Spielzeug oder Bastelmaterial. An der Wand hängen Kommunikationstafeln, auf denen alle jederzeit ihren Zeitplan ablesen können. "Jede Aktivität wird durch ein Bild oder ein Symbol veranschaulicht. Einige Bewohner bringen sie selbst an, andere, die schreiben können, führen ihren eigenen Tagesplan."

Der Tagesablauf beinhaltet alltägliche Aktivitäten, wie z. B. Gemüse schälen, Wäsche waschen oder den Müll nach draußen bringen, spielerische Aktivitäten, wie Sport, Basteln oder Zeichnen, und individuelle Lernaktivitäten. Das Leben in der Gemeinschaft passt sich im Grunde an die Eigenheiten jedes Einzelnen an.


Und auf Seiten der Psychoanalyse?

Psychoanalytiker und Kognitivisten sind sich auf dem Gebiet der psychologischen Wissenschaften nicht immer einig. Und besonders beim Autismus gehen die Meinungen auseinander. Die Psychoanalytiker betrachten nämlich den Autismus gewöhnlich als eine kindliche Psychose. Daher schrieben die analytischen Theorien von Bettelheim lange Zeit den Müttern einen Teil der Verantwortung an dieser Behinderung zu. "Seitdem haben zahlreiche Arbeiten diese theoretischen Behauptungen in Frage gestellt und der Autismus wird international als eine tief greifende Entwicklungsstörung und nicht mehr als eine Psychose gesehen", versichert Éric Willaye, Doktor der Psychologie und Direktor des Service Universitaire Spécialisé pour personnes avec Autisme (SUSA) der Universität Mons-Hainaut (BE).

"Unabhängig von der Strömung, der man angehört, sollte eine hochwertige Betreuung von Autisten so wichtige Punkte enthalten wie eine umfassende und präzise Diagnostik oder auch ein individuelles Therapieprogramm, das schriftlich in Abstimmung mit den Familien erarbeitet wurde. Alle diese Leistungen müssen bewertet werden können, um den Autisten und ihrer Familie eine optimale Betreuung zu gewährleisten." Oftmals sind es die Bewertungsmethoden, die bei analytischen Therapien fehlen. In Frankreich, wo der Widerspruch zwischen Psychoanalyse und Kognitivismus noch deutlich erkennbar ist, wird diese Lücke gerade gefüllt: Kürzlich wurde ein Netzwerk des INSERM (Institut National de la Santé et de la Recherche Médicale) (FR) gegründet, das gemeinsame Bewertungshilfsmittel für psychoanalytische und kognitive Methoden entwickeln soll.


Les Aubépines

In Aubépines, einem ehemaligen Kloster, das in ein Wohnheim für erwachsene Autisten umgebaut wurde, herrscht die gleiche Arbeitsphilosophie. "Alle 18 Monate bewerten wir die Fortschritte jedes einzelnen Bewohners und setzen Ziele für die kommenden anderthalb Jahre. Sie reiten, schwimmen, arbeiten im Garten... Wir besitzen auch einen Kosmetik- und einen Frisörsalon. In jedem Fall werden die Programme individuell ausgearbeitet, wobei die Neigungen jedes Einzelnen berücksichtigt werden", erklärt Marie Dominique de Hemptinne, Leiterin von Aubépines.

Philippe, ein stämmiger Bursche in den Vierzigern, lebt seit 14 Jahren hier. Er ist sehr selbstständig und spaziert oft ungehindert durch die Gänge des Zentrums. "Sie machen eine Reportage über den Autismus? Sehr gut", erklärt er, bevor er die Direktorin zum x-ten Mal nach dem Zeitplan jedes Betreuers oder nach dem Namen und der Anzahl der Kinder fragt, um die sie sich kümmern. Besuch in einer Wohngruppe. Als wir eintreten, empfangen uns Sandra und Fatima hektisch, aber über das ganze Gesicht strahlend. Sie sprechen nicht, suchen aber begierig nach körperlichem Kontakt, sei es durch Umarmung oder ein Küsschen. Julie ist zurückhaltender. Mit ausweichendem Blick, ein wenig besorgt, gibt sie uns die Hand, ohne ein Wort zu sagen.

Hier haben die Bewohner den ganzen Tag über Zugang zu ihrem Zimmer. Sandra zeigt uns ihres mit Begeisterung. Ein Hampelmann an der Wand, ein Bett, eine Kommode und ein Schrank. Der Ort ist schmucklos, aber gemütlich. Blaue Türen für das Badezimmer, gelbe für die Zimmer: Auch hier werden die Räumlichkeiten durch Farben strukturiert. Die meisten Autisten erlernen nie die verbale Kommunikation, da sie ihre Fantasie nur schwer beherrschen können. Ihre visuellen Kapazitäten sind normalerweise stärker ausgebildet, beschränken sich jedoch auf statische Elemente. Sie haben nämlich oftmals Schwierigkeiten, Bewegungen, wie z. B. Gesichtsausdrücke, zu entschlüsseln.


Le Chat Botté - zukunftsorientiert

Gleich neben den Aubépines steht ein kleines Gebäude, in dem alles auf die Zukunft ausgerichtet ist. Seit fast fünf Jahren nimmt das Zentrum Chat Botté autistische Kinder im Alter von 0 bis 7 Jahren auf. Dieses Tageszentrum bietet eine spezifische Förderung, die es den kleinen Kindern ermöglichen soll, ein maximales Potenzial an Selbstständigkeit zu erreichen. "Wir müssen schnell handeln, denn das Gehirn entwickelt sich in den ersten Lebensjahren eines Kindes", erklärt Hélène le Hardy de Beaulieu, geschäftsführende Leiterin. "Zahlreiche Studien belegen, je früher das autistische Kind gefördert wird, desto besser kann es sich später an seine Umgebung anpassen", ergänzt Sarah Terelle, Psychologin und Direktorin. Ziel ist es, das Kind gründlich auf den Besuch einer normalen oder Sonderschule vorzubereiten und ihm damit die Unterbringung in einem Wohnheim zu ersparen.

Wie auch in Aubépines und bei Mistral erfolgt die Betreuung interdisziplinär. Krankengymnast, Logopäde, Lehrer, Sozialarbeiter... Das Konzept ist jedoch viel intensiver, da es hier nicht um die Integration in eine Gemeinschaft von Personen mit ähnlichen Störungen, sondern um die Integration in die Gesellschaft geht. "Soweit es möglich ist, versuchen wir Sitzungen mit individueller Stimulierung den Vorrang zu gehen", erklärt Sarah Terelle. "Der Lernprozess ist in mehrere Etappen unterteilt, die schrittweise komplizierter werden."

"Wir versuchen, die Eltern so umfassend wie möglich an dieser Methode zu beteiligen. Eine Person macht besondere Hausbesuche bei den Familien, um die alltäglichen Gesten zu erklären, die sich positiv auf die Entwicklung des Kindes auswirken. Nachdem sie das Zentrum verlassen haben, kümmert sich ein anderes Teammitglied um die Förderung der Kleinen in der Schule", fährt Sarah Terelle fort. "Wir bevorzugen ein Konzept vom Typ ABA (Siehe Kasten), aber, wie bei allen Autisten, passen wir es an das jeweilige Kind an, indem wir auch Prinzipien aus anderen Methoden einbringen. Alle diese Methoden ergänzen sich."


Vielfältige Betreuungsansätze

Bernard Nols, Erzieher bei Mistral, verfolgt den gleichen Ansatz. "Welche der auf den Autismus zugeschnittenen Methoden und Techniken angewendet werden, ist eigentlich nicht von Bedeutung. Für mich ist das Wichtigste, dass die Bewohner glücklich sind, sich weiterentwickeln und ihre Ziele erreichen. Die Theorie hat keinen Sinn, wenn sie in der Praxis keine Fortschritte ermöglicht." Die Betreuung von autistischen Menschen erfordert nämlich eine Vielzahl von Techniken. Und auch sehr viel Improvisation, wovon die vielen Basteleien oder Tricks zeugen, die sich die Erzieher eigens ausgedacht haben, um dem einen oder anderen Bewohner zu helfen. Diese ganze Vielfalt lässt sich ganz klar mit der Verschiedenartigkeit des autistischen Spektrums erklären. Es reicht von schwerer geistiger Behinderung bis zum High-Functioning-Autismus, sodass die Therapiestrategien natürlich äußerst vielseitig sein können.

Überall in Europa kämpfen die Eltern von Autisten und das Fachpersonal darum, das tägliche Leben der Betroffenen zu verbessern, die Schwierigkeiten beim Erwerb der für den Menschen doch so wesentlichen Kommunikationsfähigkeiten haben. Die Betreuung unterscheidet sich jedoch von einem Mitgliedstaat zum anderen gravierend. In Skandinavien wird den Familien dauerhaft ein Sozialpädagoge zugeteilt, der sie unterstützt. Im Gegensatz dazu wurden in Frankreich sehr lange Zeit psychiatrische und psychoanalytische Ansätze bevorzugt, wobei die Eltern in tiefer Verzweiflung angesichts der Krankheit ihres Kindes gelassen wurden (siehe Kasten). Zwischen diesen beiden Extremen steht Belgien, das zwar über kompetente Zentren verfügt, aber nicht über die notwendigen finanziellen Mittel; zudem bereitet dort die mangelnde Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Einrichtungen Probleme.

Trotz ihrer Andersartigkeit können Autisten ihren Platz in unserer Welt finden. Bleibt nur abzuwarten, inwieweit die Gesellschaft bereit ist, sich dieser Herausforderung zu stellen.


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BETREUUNG UND FÖRDERUNG

Betreuung: einige Anhaltspunkte

Aufgrund der Vielzahl der behavioristischen Betreuungsmethoden lässt sich keine erschöpfende Liste erstellen. Dennoch nachfolgend ein Auszug.

TEACCH - Treatment and education of autistic and related communication handicapped children: Dieser in den 1970er Jahren in North Carolina entwickelte Ansatz sieht die Erstellung eines individuellen Projekts für jedes Kind vor und legt den Schwerpunkt auf die notwendige Zusammenarbeit mit den Eltern. Er empfiehlt die Einrichtung einer Umgebung, in der Zeit, Raum, Arbeit und Aktivitäten strukturiert sind. Ziel ist es, den Autisten in einem vorhersehbaren Umfeld zu fördern.

ABA - Applied Behavioral Analysis: Diese Therapie basiert auf den Grundregeln des Lernens, die sich direkt am Behaviorismus orientieren. Sie beginnt mit einer Analyse der Ausgangssituation der Person und ihres Verhaltens, um dann die Fördermaßnahmen zu erarbeiten, mit denen sich angemessenes Verhalten stärken und unangemessenes Verhalten abbauen lässt.

Das Snoezelen: Diese Technik ist in den Niederlanden verbreitet und zielt darauf ab, eine Beziehung zu einer anderen Person durch Entspannung und Stimulierung der Sinne zu üben. Mistral besitzt zwei Snoezelen-Räume. Im ersten Raum, dem weißen Zelt mit gepolsterten Wänden, können sich die Bewohner ungehindert ausdrücken. Der zweite, der Nebenraum, ist in drei Abschnitte unterteilt: ein Abschnitt für den Gefühls- und den Geruchssinn, ein anderer für den Gehörsinn und ein Wasserraum.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 13: Roy Wenzel, ohne Titel, Zeichnung, etwa 1990
Roy Wenzel wurde 1959 in den Niederlanden geboren. Da er unter einem starken Ekzem litt musste er in seinen elf ersten Lebensjahren häufig ins Krankenhaus. Dort begann er damit, ständig zu zeichnen und ein außergewöhnliches Gedächtnis unter Beweis zu stellen. Er spielt in seinen Zeichnungen mit ganz besonderen Perspektiven und Transparenzen, in denen er seine Umgebung und die Menschen mit denen er zusammenlebt, in Szene setzt.

Abb. S. 14: Roy Wenzel, ohne Titel, Zeichnung


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Quelle:
research*eu Nr. 57 - Juni 2008, Seite 13 - 15
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Januar 2009