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DIAGNOSE/147: Autismus (4) - Genetischer Ansatz - Das Autism Genome Project (research*eu)


research*eu Nr. 57 - Juli 2008
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Genetischer Ansatz: die ersten Verdächtigen

Von Nicolas Chevassus


Eine kleine Region auf dem Chromosom 11 enthält Gene, deren Fehlfunktion am Entstehen von Autismus beteiligt ist. Das ist die wichtigste Schlussfolgerung der ersten Arbeiten des Autism Genome Project (AGP), des größten internationalen Konsortiums, das je zur Erforschung der Genetik dieser Krankheit gebildet wurde. Nächste Etappe: die Identifizierung dieser Gene und die Beschreibung ihrer Rolle bei der Gehirnentwicklung.


Die große Mehrheit der Spezialisten ist in der Zwischenzeit davon überzeugt: Die Ursachen von Autismus sind in der frühzeitigen Fehlfunktion mehrerer Gene zu suchen. Diese Überzeugung gründet zunächst einmal auf Zahlen. Wenn ein Kind an dieser Krankheit leidet, erhöht sich bei seinen Geschwistern das Erkrankungsrisiko je nach Studie um 25-67 %. Dieses Argument allein reicht jedoch nicht aus, um genetische Ursachen zu beweisen. Geschwister haben teilweise gemeinsame Erbinformationen, aber sie haben auch Eltern. Der US-amerikanische Psychiater Leo Kanner beschrieb 1943 als Erster den frühkindlichen Autismus, und obwohl er davon überzeugt war, diese Störung sei größtenteils angeboren, hielt er fest, dass die Eltern seiner elf kleinen Patienten streng, kalt und wenig liebevoll seien.

Diese Auffassung, dass Autismus in erster Linie durch eine Störung der affektiven Beziehung zu den Eltern verursacht werde, die in Europa bis vor 20 Jahren noch vorherrschte, lässt sich indes schlecht mit den Ergebnissen aus Zwillingsstudien vereinbaren: Der eineiige Zwilling eines autistischen Kindes ist in 60-92 % der Fälle ebenfalls betroffen, gegenüber 10 % bei einem zweieiigen Zwilling, dessen Erbmaterial sich so stark von seinem Geschwisterzwilling unterscheidet wie bei Nicht-Zwillingsgeschwistern.


Die Suche nach Genen

Diese statistischen Studien aus den 1970er und 1980er Jahren haben stark zum Umdenken hinsichtlich der Ursache der Erkrankung beigetragen. Von einem Modell, das auf einer Störung der Mutter-Kind-Beziehung beruhte, gelangte man zu einer Sichtweise, die der Rolle einer genetischen Veranlagung mehr Gewicht einräumte. Aber bis Ende der 1990er Jahre verfügten die Genetiker nicht über ausreichende Mittel, diese mysteriösen Gene aufzuspüren, deren Existenz man zwar vermutete, aber von deren Anzahl, Funktion oder Lage auf den Chromosomen man keine Ahnung hatte.

Durch die Entschlüsselung des menschlichen Genoms erhielt diese Forschung einen neuen Impuls dank der Kopplungsanalyse. Worum geht es hier? Es geht darum, eine Stecknadel im Heuhaufen zu finden, d. h., Regionen auf den Chromosomen aufzuspüren, die bei Autisten - und nur bei diesen - grundsätzliche Variationen aufweisen. Diese Regionen werden mithilfe genetischer Marker, d. h., molekularer Kennzeichen entlang des Genoms, ausfindig gemacht. Wenn das Vorhandensein bestimmter Marker statistisch mit der Erkrankung in Verbindung gebracht werden kann (daher der Begriff Kopplungsanalyse), schließen die Genetiker daraus, dass diese Region Gene enthält, die eine Rolle bei der Verursachung spielen und näher untersucht werden sollten.

Da sie auf statistischen Berechnungen beruhen, haben diese Kopplungsanalysen umso mehr Aussicht auf Erfolg, als sie sich auf eine große Menge beziehen: Es wurden mehrere Dutzend Familien untersucht, von denen mindestens zwei Mitglieder an Autismus erkrankt sind. Die eigentliche Stärke des Autism Genome Project liegt darin, dass hierbei die zu den Familien gespeicherten Daten von Genetikern aus 50 Forschungseinrichtungen in neun Ländern in einer zentralen Datenbank zusammengefasst wurden, d. h. es wurden insgesamt fast 8000 Menschen aus 1496 Familien erfasst, von denen ein Drittel bis dahin nicht untersucht worden war. 1181 von ihnen wurden schließlich in die genetische Analyse einbezogen. "Ein sehr wichtiger Teil unserer Arbeit in der ersten Phase von AGP bestand darin, die von den Projektpartnern zusammengetragenen Daten zu standardisieren, und zwar im Hinblick auf die Diagnose der Erkrankung und die Sammlung von DNA-Proben und ihre Analyse", erklärt Anthony Monaco vom Wellcome Trust Centre for Human Genetics in Oxford (UK), der diese Arbeit koordiniert.


Erste Ergebnisse

Die ersten Ergebnisse wurden im vergangenen März in der Zeitschrift Nature Genetics veröffentlicht. Dank DNA-Mikrochips, die eine Automatisierung der Suche nach 10.000 genetischen Markern für die Kopplungsanalyse ermöglichen, fanden die Forscher heraus, dass Varianten einer einzigen Region des Chromosoms 11, dessen maßgebliche Rolle bis dahin niemand vermutet hatte, immer in Verbindung mit der Erkrankung auftraten.

Waren dann die bei früheren Studien identifizierten Regionen auf den Chromosomen 2, 7, 15 und 17 Artefakte, die auf einen statistischen Zufall zurückgehen? Sicherlich nicht. Das erklärt Catalina Betancur, Forscherin am INSERM (Institut National de la Santé et de la Recherche Médicale) in Créteil (FR), die an der Studie mitarbeitete: "Autismus ist keine Krankheit mit einem einzelnen Auslöser, sondern eine Verhaltensstörung mit zahlreichen genetischen Ursachen, wobei sich die betroffenen Gene von Familie zu Familie unterscheiden." Mit anderen Worten, die vom AGP entdeckte Region auf Chromosom 11 ist mit größter Wahrscheinlichkeit bei allen Formen des Autismus betroffen. Aber andere Regionen könnten ebenfalls bei bestimmten Formen oder Einzelfällen von autistischen Syndromen eine Rolle spielen. Im Sinne dieser Interpretation konnten bei den Arbeiten des AGP Chromosomenabschnitte identifiziert werden, die nur bei den Familien mit der Krankheit in Verbindung gebracht werden, in denen ausschließlich die Mädchen betroffen sind.


Gene, die bei der Entwicklung des Gehirns eine Rolle spielen

Die Schwierigkeit besteht also darin, diese Gruppe von Genen (mindestens 20) zu identifizieren, deren Mutation das Risiko, die Krankheit zu entwickeln, jedes Mal um einige Prozent erhöht. Hinzu kommt, dass diese Gene bei den Erkrankten in anormalen Formen vorliegen könnten, was eventuell zum Verlust der Marker führen würde, die zu ihrer Erkennung bei der Kopplungsanalyse dienen. Das legt zumindest die Entdeckung des AGP nahe, denn die Forscher haben festgestellt, dass bei Autisten häufig lokale Anomalien der Chromosomenarchitektur auftreten, die zur Löschung oder umgekehrt zur Wiederholung kurzer DNA-Fragmente führen.

"Diese Anomalien sind an sich nicht pathologisch", erklärt Anthony Monaco, "denn man findet sie auch bei Gesunden. Daher verfolgten wir den Ansatz, sie systematisch auf den 23 Chromosomen zu suchen und ihr Vorkommen bei Familien mit mehr als einem Autisten mit der Durchschnittsbevölkerung zu vergleichen." Diese lokalen Chromosomenanomalien traten besonders häufig bei mehreren Genen auf, die eine Rolle bei der Gehirnentwicklung spielen.

Jetzt muss ein Zusammenhang zwischen Anomalien im Bereich der Chromosomen und des Genoms insgesamt und den physiologischen Funktionsstörungen hergestellt werden, die die Reifung des Gehirns bei jungen Autisten beeinträchtigen. Das ist das Ziel der zweiten Phase des AGP, die vor einem Jahr begann. Der Abschnitt des Chromosoms 11, dem offensichtlich bei der Ausbildung der Erkrankung eine wichtige Rolle zukommt, enthält insbesondere zahlreiche Gene, die am Glutamatstoffwechsel beteiligt sind. Dieser Stoff hat eine wichtige Aufgabe als Neuromediator, der die Kommunikation unter den erwachsenen Neuronen ermöglicht, aber auch während der Entwicklung zur Bildung von Synapsen beiträgt. Durch die Arbeit des AGP steht nun fest, dass Fehlfunktionen bestimmter Gene, die eine Rolle bei der Reifung des Gehirns spielen, am Auftreten autistischer Syndrome beteiligt sind. In der ersten Projektphase konnte man das Versteck der Verdächtigen ausfindig machen. Jetzt müssen sie noch verhört werden.


Beispiellose internationale Bemühungen

Das Autism Genome Project entstand 2004 durch den Zusammenschluss von vier internationalen Konsortien, die bis dahin unabhängig voneinander an den genetischen Ursachen der Krankheit geforscht hatten. Es wird für die nächsten drei Jahre mit öffentlichen und privaten Mitteln in Höhe von 14,5 Mio. EUR finanziert, insbesondere mit Mitteln der karitativen Stiftung Autism Speaks, die diesen Zusammenschluss ins Leben gerufen hat. Das AGP wird von zwei Forschern der University of Oxford (UK), Anthony Bailey und Anthony Monaco, geleitet, die bereits das europäische Projekt Autism MOLGEN koordiniert haben, das zwischen 2005 und 2008 durch das 6. Rahmenprogramm finanziert wurde. Die daran beteiligten 17 europäischen Labors hatten eine DNA Datenbank mit Proben aus 425 Familien zusammengestellt. Diese wurde dann mit denen der anderen Partner des AGP zusammengeführt.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. 1: Sogno-Montagne dell'est e la laguna di Venezia

Abb. 2: Sabina con chitarra

Die 1973 in Treviso (IT) geborene Lisa Perini zeichnet schon immer. Sie studierte an der Kunsthochschule in Venedig und legte mit ihrer Teilnahme an der 50. Biennale der Stadt im Rahmen des Projekts Brain Academy Apartment einen Senkrechtstart hin. Seitdem stellt sie ununterbrochen aus. In ihren Werken huldigt sie häufig der Stadt der Dogen und weiblichen Figuren, die sie in intensive Farben hüllt. Für eines ihrer jüngsten Werke, Veronica, erhielt sie den Sonderpreis der Galerie Wanabee in Mailand.
www.lisaperini.it/


info
Wellcome Trust for Human Genetics
www.well.ox.ac.uk/monaco/autism.shtml
Autism MOLGEN
www.well.ox.ac.uk/monaco/autism/molgen.shtml
Autism Speaks
www.autismspeaks.org


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Quelle:
research*eu Nr. 57 - Juni 2008, Seite 16 - 17
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Januar 2009