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DIAGNOSE/151: Babyblues und postpartale Krisen (pro familia)


pro familia magazin Nr. 03/2008
Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e.V.

Babyblues & postpartale Krisen
(K)ein Thema in der Schwangerenberatung?

Von Christine Eichhorn-Wehnert


Der Begriff der postpartalen Krisen umfasst alle psychischen Erkrankungen der Mutter im Wochenbett beziehungsweise im ersten Jahr nach der Entbindung. Diese Krisen im Zusammenhang mit der Geburt eines Kindes nehmen eine Sonderrolle innerhalb der psychischen Erkrankungen ein - auch deshalb, weil sie in der Regel eine äußerst gute Prognose haben, das heißt zu 98 Prozent wieder ausheilen. Nach Ansicht der Autorin stellen sie ein sehr ernst zu nehmendes Phänomen dar, das leider nach wie vor im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt viel zu wenig Beachtung findet.


Postpartale Erkrankungen reichen in ihrer Ausprägung vom so genannten Babyblues bis hin zur postpartalen Psychose, der schwersten aller psychischen Erkrankungen im Wochenbett. Während schätzungsweise 50 bis 80 Prozent aller Mütter in den ersten Tagen nach der Geburt vom so genannten Babyblues betroffen sind, entwickeln lediglich 0,3 Prozent der Mütter eine postpartale Psychose. Die postpartale Depression hingegen trifft etwa 10 bis 20 Prozent aller Mütter. So kommt man basierend auf der Geburtenzahl des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2006 auf eine geschätzte Zahl von 68.000 bis 134.000 betroffener Frauen, die mittelfristig unter einer postpartalen Erkrankung leiden. Dies ist eine Zahl, die meines Erachtens zu hoch ist, um weiterhin von der Öffentlichkeit sowie von der Fachwelt weitgehend ignoriert zu werden.


Wie äußern sich postpartale Krisen?

Der weit verbreitete und auch in der Geburtsvorbereitung häufig erwähnte Babyblues ist durch Traurigkeit, häufiges Weinen, Stimmungsschwankungen, erhöhte Empfindsamkeit, Müdigkeit und Erschöpfung bei gleichzeitiger Schlaf- und Ruhelosigkeit gekennzeichnet. Der Babyblues entsteht unmittelbar oder in den ersten Tagen nach der Entbindung und ist eine Folge der vielschichtigen körperlichen wie psychischen Veränderungen, die mir der Geburt eines Kindes einhergehen. Die Symptome verschwinden in der Regel von allein und umso rascher, je sensibler auf die betroffene Mutter eingegangen wird.

Ganz anders ist die Lage bei postpartalen Psychosen. Diese entstehen meist auch in den ersten Tagen nach der Entbindung; seltener entwickeln sie sich allerdings auch nach einigen Wochen aus einer Depression heraus. In jedem Fall verläuft die sehr ernst zu nehmende Erkrankung recht schnell und auffällig und ist immer behandlungsbedürftig. Man unterscheidet zwischen drei verschiedenen Formen bzw. deren Mischformen:

Die manische Form äußert sich durch starke Antriebssteigerung, Unruhe, Verworrenheit und auch Wahnvorstellungen - zum Beispiel sehr realistische Planungen und Größenwahn. Die depressive Form geht hingegen mit extremen Ängsten sowie Antriebs- und Teilnahmslosigkeit einher (teilweise "versteinerter" Ausdruck, Realitätsverlust). Die schizophrene Ausprägung ist gekennzeichnet durch Halluzinationen und Wahnvorstellungen bei gleichzeitiger Antriebsarmut (oftmals religiöse Wahnvorstellungen).


Keine vorübergehende Verstimmung

Die nachgeburtlichen Psychosen haben ebenso einen multifaktoriellen Entstehungshintergrund wie die postpartalen Depressionen. Diese können jederzeit im ersten Jahr nach der Entbindung auftreten. Dies macht die Diagnose und auch die Einordnung der Symptome auch für Fachleute oft schwierig. Die Entwicklung ist häufig schleichend, was dazu führt, dass sowohl die betroffenen Frauen als auch ihre Angehörigen erst relativ spät merken, dass es sich nicht um eine vorübergehende Verstimmung handelt. Wie bei anderen Depressionen auch reichen die Symptome von innerem Leeregefühl, Ängsten, Panikattacken, Zwangsgedanken über psychosomatische Beschwerden bis hin zu Suizidgedanken. Zwiespältige Gefühle gegenüber dem Kind führen wiederum zu starken Schuldgefühlen. Die Abstufung der Depressionen reicht von leicht bis schwer. Danach richtet sich auch die Notwendigkeit und die Form der Behandlung.

Wie bereits erwähnt, gibt es eine Vielzahl von (möglichen) Auslösern für alle postpartalen Erkrankungen. Auf diese soll nun näher eingegangen werden. Im Rahmen meiner Beratung betroffener Mütter bin ich immer wieder auf vier Gruppen von Ursachen gestoßen, die jede für sich, meist jedoch im Zusammenspiel Einfluss nehmen:

Faktoren, unmittelbar die Geburt betreffend wie zum Beispiel das Geburtserlebnis als solches, den Geburtsverlauf (etwa Kaiserschnitt) oder auch die unmittelbaren Folgen der Entbindung (Erschöpfung, Dammverletzungen, extrem schmerzhafte Hämorrhoiden, Milcheinschuss etc.)

Endokrinologische/hormonelle Faktoren: rund um die Geburt laufen komplexe biochemische Prozesse ab, die zu Funktionsstörungen von Botenstoffen (Neurotransmittern) im Gehirn führen können. Dadurch kann die Konzentration von Serotonin und Noradrenalin verringert sein, welche bei Depressionen nachweislich eine Rolle spielen. Auch der starke Östrogen- und Progesteronabfall nach der Entbindung hat Einfluss auf die Befindlichkeit der Mutter, wenn auch nicht einen so großen wie lange angenommen.

Seelische Faktoren wie zum Beispiel vorausgegangene psychische Störungen (so auch bereits erlittene postpartale Erkrankungen), Traumatisierungen, belastende Ereignisse im Vorfeld von Schwangerschaft und Geburt sowie schwierige Lebensumstände (finanzielle/berufliche Sorgen, Partnerschaftsprobleme usw.).

Gesellschaftliche und soziale Faktoren: Hierzu zähle ich den Mythos "Mutterschaft", die allgemeine Nichtachtung der Geburt als kritisches Lebensereignis, den weiblichen Rollenspagat, zu hohe (eigene) Erwartungen, soziale Isolation vieler Mütter sowie eine unzureichende, unrealistische Vorbereitung auf die Zeit nach der Geburt.

Da ich als Schwangerenberaterin und damit sozialpädagogisch arbeite, liegt es nahe, dass mir vor allem die seelischen sowie die gesellschaftlichen Faktoren am Herzen liegen. Nichtsdestotrotz ist es unabdingbar, auch die körperliche Komponente medizinisch stets genau abzuklären. Auf die aktuellen medizinischen und medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten möchte ich hier nicht näher eingehen, sondern an dieser Stelle auf das sehr informative und lesenswerte Buch von Bettina Salis "Psychische Störungen im Wochenbett - Möglichkeiten der Hebammenkunst", München 2007 hinweisen.


Versorgungslage für Frauen mit postpartalen Erkrankungen

Bei Müttern mit schweren Depressionen oder Psychosen greift in der Regel die übliche stationäre psychiatrische Behandlung, das heißt, es erfolgt die Aufnahme in eine psychiatrische Klinik. Diese sind sehr unterschiedlich auf die Behandlung von Müttern vorbereitet. In den mehr als sieben Jahren, in denen ich mich mit der Thematik befasse, hat sich im Bereich der Psychiatrien erfreulicherweise sehr viel getan. Es gibt zahlreiche Kliniken, die sich gezielt mit postpartalen Störungen befassen und dementsprechend auch etwa über so genannte Mutter-Kind-Einheiten verfügen. Welche Klinik über welche Angebote und Ausstattung verfügt, lässt sich auf der Homepage von www.schatten-und-licht.de unter dem Stichwort "Mutter-Kind-Einheiten" nachlesen.

Von schweren Depressionen oder Psychosen sind jedoch glücklicherweise die wenigsten Mütter betroffen. Das Gros der Mütter leidet mehr oder weniger still und einsam über mehrere Wochen und Monate vor sich hin. Einerseits ohne überhaupt zu wissen, dass ihre psychische Verfassung einen Namen hat und andererseits ohne ausreichende Möglichkeit auf rasche, ambulante Hilfe und Unterstützung.

Genau an dieser Stelle kann die Kompetenz der Schwangerenberatungsstellen greifen. Bislang bleibt diese Möglichkeit der ambulanten Beratung jedoch leider weitgehend ungenutzt. Deutschlandweit gibt es nach meinen Recherchen aktuell in 6 von 16 Bundesländern etwa 11 Einrichtungen, darunter max. 8 Schwangerenberatungsstellen, in denen Diplom-Sozialpädagoginnen bzw. -Pädagoginnen Angebote für betroffene Frauen machen.

Nach § 2 Abs. 3 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (SchKG) ist die Nachbetreuung nach der Geburt eines Kindes Auftrag von Beratungsstellen. Darüber hinaus regeln vielfach Schwangerenberatungsgesetze auf Länderebene ausdrücklich die "Nachgehende Betreuung" für Familien mit Kindern. In Schwangerenbratungsstellen arbeiten in der Regel SozialpädagogInnen, SozialarbeiterInnen bzw. auch PädagogInnen oder PsychologInnen mit abgeschlossenem (Fach-)Hochschulstudium. Hinzu kommen bei den meisten BeraterInnen therapeutische oder beraterische Zusatzausbildungen.

Durch die Vielzahl unterschiedlicher Angebote schon im Vorfeld der Geburt, kommen die Beraterinnen auf selbstverständliche Art und Weise mit vielen Schwangeren oder auch Müttern ins Gespräch, was beispielsweise die Möglichkeit, über postpartale Depressionen zu informieren, enorm erleichtert. Die Beratungsstellen sind in der Regel gut erreichbar, da selbst in ländlichen Regionen oft Außenstellen existieren.

Ein nahe liegender Schritt ist es, die bestehenden Angebote der eigenen Stelle für Schwangere und Mütter/Eltern einmal unter bestimmten Gesichtspunkten genauer zu betrachten. Warum sollte ich als Beraterin nicht innerhalb einer Beratung/eines Vortrages zu finanziellen Hilfen standardmäßig auf das Phänomen postpartaler Erkrankungen hinweisen und ebenso selbstverständlich wie alle anderen Broschüren einen entsprechenden Informationsflyer verteilen?


Prävention & Intervention

Eine frühzeitige Information über postpartale Erkrankungen verkürzt erwiesenermaßen die Leidenszeit betroffener Frauen. Parallel dazu kann die Zusammenarbeit mit Hebammen zu einer gezielten Information über die Erkrankung in Geburtsvorbereitungskursen führen. Selbst das einfache Vorhandensein eines "Schatten und Licht"-Plakates in der Beratungsstelle kann ein wichtiger Bestandteil präventiver Arbeit sein. Diese Maßnahmen können - wie ich finde - problemlos in die alltägliche Arbeit integriert werden und dabei ein ganz wichtiges Signal senden: Wir wissen um die Thematik postpartaler Krisen und wir sind offen dafür.


Einfühlungsvermögen unerlässlich

Die Beratung betroffener Mütter setzt neben der fachlichen/beraterischen Kompetenz vor allen Dingen eine große Portion Einfühlungsvermögen in die besondere Situation von Müttern kurz nach der Geburt voraus. Die Geburt eines (besonders des ersten) Kindes grundsätzlich als einen großen Umbruch im Leben insbesondere von Frauen zu betrachten, erscheint mir ebenfalls unerlässlich. In den mehr als sieben Beratungsjahren habe ich die Erfahrung gemacht, dass nachgeburtliche Krisen neben den pathologischen und persönlichkeitsbedingten Faktoren immer auch gesellschaftliche Faktoren aufweisen. Für BeraterInnen bedeutet das, sich mit den bekannten Mythen der Mutterschaft, mit den Anforderungen an die Mutterrolle auseinander zu setzen.

Nach dem Erstgespräch, das vor allem der Abklärung der Situation und der Erwartungen dient, hat es sich für weitere Gespräche als hilfreich erwiesen, folgende Bereiche zu thematisieren: aktuelle Alltagssituation, konkrete Unterstützungsmöglichkeiten, Schlaf, Entspannungsmethoden, Beziehung zum Kind, Partnerschaft/Familie, Zukunftsperspektiven, Erarbeitung eigener Wünsche und Ziele. Auch gemeinsame Gespräche mit engen Bezugspersonen können äußerst wichtig sein. Von den betroffenen Frauen selbst werden sehr oft eine schwierige Geburt, Partnerschaftsprobleme, psychische Probleme vor Schwangerschaft und Geburt, Schuldgefühle, geringes Selbstwertgefühl oder auch großer Perfektionismus als relevante Themen benannt.

Fazit: Angesichts von jährlich rund 100.000 betroffenen Müttern sollten postpartale Krisen endlich zum Thema in der Schwangerenberatung werden. Mütter haben in einer der wichtigsten und sensibelsten Umbruchphase ihres Lebens ein Anrecht auf die Unterstützung kompetenter BeraterInnen, um die erste Zeit mit ihrem Baby zu einer wertvollen Erfahrung und nicht zu einem Albtraum werden zu lassen.


Christine Eichhorn-Wehnert, Jahrgang 1963, ist Diplom-Sozialpädagogin (FH) und arbeitet als NLP-Coach und freiberufliche Fortbildungsreferentin. Sie war lange Jahre im Sozialpsychiatrischen Dienst tätig und ist seit 2001 Schwangerenberaterin bei der pro familia Bamberg. Sie ist verheiratet und hat zwei Töchter.

Weiterführende Literatur finden Sie unter www.schatten-und-licht.de


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Quelle:
pro familia magazin Nr. 03/2008, S. 24-26
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juni 2009