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DIAGNOSE/157: Schizophrene Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen (GEHIRN&GEIST)


GEHIRN&GEIST 3/2011
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Das Chaos in Lenas Kopf

Von Stefanie Reinberger


Eine schizophrene Erkrankung trifft Kinder und Jugendliche besonders hart. Zwar ist ein Ausbruch vor dem 18. Lebensjahr selten, meist prägt die Störung dann jedoch das ganze weitere Leben. Denn die jungen Patienten machen eine besonders sensible Entwicklungsphase durch.



Auf einen Blick

Kindheit mit Hindernissen

1. Schizophrenie ist eine Entwicklungsstörung des Gehirns. Sie macht sich jedoch selten vor dem 18. Lebensjahr bemerkbar, fast nie vor der Pubertät.

2. Die ersten Symptome sind meist schwer zu erkennen, weil sie sehr unspezifisch sind.

3. Nach einer Therapie können junge Patienten in speziellen Wohnheimen lernen, wieder ins Leben zurückzufinden.


*


Merle Weiden(*) wird ihn nie vergessen, den Tag, den sie als den schlimmsten ihres Lebens bezeichnet. Damals stand ihre elfjährige Tochter Lena auf einmal mit blutüberströmten Händen vor ihr. Mit einer Rasierklinge hatte sie sich zwei Fingerkuppen aufgeschnitten. Das »Männlein« habe ihr gesagt, sie solle das tun, erklärte das Mädchen seiner entsetzten Mutter. Dabei deutete es auf seinen Kopf, wo Lena einen blauen Geist wähnte, der ihr Befehle gab. »Da schrillten bei mir alle Alarmglocken«, erinnert sich Weiden. »Mir war schlagartig klar, dass etwas ganz gewaltig nicht stimmt.«

Umgehend packte sie die Tochter ins Auto und fuhr mit ihr in die Klinik. Dass der Albtraum gerade erst seinen Anfang nahm, ahnte sie zu diesem Zeitpunkt nicht. Die Untersuchungen der Ärzte ergaben, dass Lena an Schizophrenie litt: einer schwer wiegenden psychiatrischen Erkrankung, die mit Wahnvorstellungen und Halluzinationen einhergehen kann, Störungen im Denken sowie verminderte Gefühlsreaktionen mit sich bringt.

Den Betroffenen geht der Bezug zur Realität oft auf dramatische Weise verloren. Das blaue Männchen in Lenas Kopf prophezeit ihr mehrmals am Tag, dass die Welt untergehen werde. Immer wenn es dunkel wird oder der Himmel sich verfärbt, hat sie große Angst. Sie fürchtet auch, dass eine ehemalige Mitschülerin sie vergiften wolle, dass jemand aus der Familie plane, sie zu entführen, oder dass ihrer Mutter etwas Schlimmes zustoßen werde.

Ungefähr jeder hundertste Mensch erlebt mindestens einmal in seinem Leben eine schizophrene Episode. In den allermeisten Fällen tritt die Erkrankung im jungen Erwachsenenalter zwischen 20 und 35 Jahren auf. Nur selten trifft sie Minderjährige: Rund vier Prozent aller Patienten erleben ihre erste psychotische Phase bereits vor ihrem 18. Lebensjahr, Mediziner sprechen dann von early onset (englisch für »früher Beginn«). Zwölf Jahre oder jünger, so wie Lena, ist nur einer von 300 Patienten (meistens als very early onset oder »sehr früher Beginn« bezeichnet).


Schleichende Entwicklung

»Wir haben pro Jahr höchstens ein Kind unter 14 Jahren wegen einer Schizophrenie in Behandlung «, bestätigt Katja Becker, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie in Marburg. »Und wir sehen wahrscheinlich mehr Fälle als viele andere Kliniken.«

Denn nach Marburg kommen die jungen Patienten von weit her, Lena etwa stammt aus der Nähe von Koblenz.

Die Krankheit kommt nicht aus heiterem Himmel. Sie schleicht sich langsam in das Leben der Betroffenen und ihrer Familien. So auch bei Lena. »Sie war immer ein bisschen anhänglicher und kindlicher als ihre Altersgenossen«, erinnert sich Weiden. »Bei den üblichen Routineuntersuchungen fand das aber niemand beunruhigend, weil Kinder sich nun mal unterschiedlich schnell entwickeln.« Später fiel den Kindergärtnerinnen auf, dass Lena sich sehr schlecht konzentrieren konnte. Manchmal setzte sie sich einfach neben einen Stuhl.

»Und als ich in die Schule kam, fing alles an«, erzählt Lena mit einem verlegenen Lächeln. »Na ja«, sagt ihre Mutter, »die wirklichen Probleme kamen erst später.« Lena habe sich in der Grundschule extrem unter Druck gesetzt und ihre schulischen Leistungen ständig mit denen ihres älteren Bruders oder der Freundinnen verglichen. »Ich habe versucht, ihr klarzumachen, dass gute Noten nicht das Wichtigste sind«, sagt Weiden. »Schließlich hat jeder seine eigenen Talente.«

An Lena aber nagte das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Der Schock kam, als die Lehrer am Ende der vierten Klasse ihre Empfehlungen für die weiterführenden Schulen aussprachen: Lenas Freundinnen sollten künftig das Gymnasium besuchen - sie selbst die Hauptschule. »Das war schlimm«, erinnert sich das Mädchen. »Die anderen wollten gar nichts mehr mit mir zu tun haben.« Lena sei ab diesem Zeitpunkt regelrecht gemobbt worden, bestätigt ihre Mutter.

Zwar knüpfte sie in der neuen Schule anfangs schnell Kontakte, doch bald zog sich das Mädchen zurück. »Sie war nicht mehr wiederzuerkennen und hatte das Interesse an eigentlich allem verloren, was ihr vorher Spaß gemacht hatte«, erzählt Weiden. Gleichzeitig habe sie sich extrem an die Mutter geklammert, wollte nirgendwo mehr allein hingehen, war ängstlich, machte nachts ins Bett. »Und ich habe ihr noch gesagt, sie soll sich nicht so anstellen«, sagt die Mutter. Sie habe ihr Kind nicht verstanden, das seltsame Benehmen nicht ernst genug genommen. Bis zu jenem Tag, an dem Lena sich ihre Finger mit einer Rasierklinge verletzte.


Je früher, desto schwerwiegender

Für die Kinder- und Jugendpsychiaterin Becker ist dies ein typischer Fall. Wenn ein Kind sich stark in seinem Wesen verändert, wenn es die Freude am Spielen verliert oder sich von Gleichaltrigen zurückzieht, können dies Vorboten einer Schizophrenie sein. »Auch wenn die Gedanken durcheinandergehen oder mitten im Satz abreißen, wenn das Kind hilflos wirkt oder unangemessene Gefühlsreaktionen zeigt, kann dies auf ein so genanntes Prodrom hindeuten, also ein Vorstadium für eine psychotische Episode «, so Becker. Doch gerade bei Kindern seien diese Warnzeichen oft sehr unspezifisch. Daher falle es selbst Fachleuten schwer, mögliche Anzeichen einer Schizophrenie in diesem Alter richtig zu deuten. Für Eltern ist es nahezu unmöglich.

Dabei wäre eine Früherkennung gerade bei psychotischen Störungen segensreich. Denn je früher die Betroffenen behandelt werden, desto größer sind die Chancen, die Symptome in den Griff zu bekommen und Rückfälle oder den Übergang in eine chronische Erkrankung zu verhindern. Bei jungen Patienten sind Ärzte und Psychiater jedoch vorsichtig: »Wir wissen, dass manche Kinder über einen gewissen Zeitraum mehrere dieser Auffälligkeiten zeigen, sich dann aber ganz normal weiterentwickeln, ohne krank zu werden«, sagt Becker. »Und wir können nicht einfach auf Verdacht Neuroleptika verabreichen - dafür sind die Nebenwirkungen zu gravierend.«

Doch je früher sich eine Schizophrenie manifestiert, desto schwerwiegender ist in der Regel der Krankheitsverlauf. Erst 2010 veröffentlichten Yu-Chen Kao und Yia-Ping Liu vom National Defense Medical Center in Taipeh (Taiwan) eine Studie, bei der sie 52 Schizophreniepatienten unterschiedlichen Alters befragten. Dabei stellte sich heraus, dass die kognitiven Defizite, aber auch andere Auffälligkeiten wie eine erhöhte Impulsivität umso ausgeprägter waren, je früher die Patienten ihre erste psychotische Episode erlebt hatten.

»Kinder haben eine schlechtere Prognose«, bestätigt Becker. Auch sonst treffe sie die Krankheit noch härter als Erwachsene: Eine Schizophrenie im Teenager-Alter sei ein schwer wiegender Einschnitt in die Biografie - zu einer Zeit, in der die Jugendlichen eine wichtige Entwicklungsphase durchlaufen. Die jungen Patienten fehlen in der Schule, es mangelt ihnen an beruflicher Orientierung und an Gelegenheiten, Freundschaften zu knüpfen.

Weil die frühe Erkrankung eine besonders schwere Variante der Schizophrenie darstellt, erregt sie auch zunehmend das Interesse von Forschern aus aller Welt. Die Patienten, so die Hoffnung, können dabei helfen, das Rätsel um die Entstehung der Erkrankung zu lösen. Bislang gilt als sicher, dass Schizophrenie zu einem großen Teil genetisch bedingt ist, doch auch belastende Erfahrungen und Umwelteinflüsse tragen zum Ausbruch der Störung bei (siehe Kasten unten). Viele der Erbfaktoren, die im Verdacht stehen, das Schizophrenierisiko zu erhöhen, sind an der Reifung des Gehirns beteiligt. Wissenschaftler gehen daher mittlerweile davon aus, dass Schizophrenie die Folge einer gestörten neurobiologischen Entwicklung ist.


Neuronale Dissonanzen

Das wird auch bei einem Blick in den Kopf der Patienten deutlich: In mehreren Hirnregionen haben sie weniger graue und weiße Substanz als Gesunde. Erstere bezeichnet Gebiete, in denen viele Neuronenkerne liegen, letztere die Verbindungsstränge zwischen ihnen. Genauere Untersuchungen des Hirngewebes ergaben, dass auch die neuronale Architektur gestört ist, so etwa in der Regio entorhinalis. Dieses Areal gehört zum limbischen System und spielt eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung von Sinnesreizen. Statt schön geordnet sind die Nervenzellen dort bei Schizophreniepatienten durcheinandergewürfelt - ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich diese Hirnregion fehlerhaft entwickelt hat.

»Die neuroanatomischen Befunde passen gut zu den kognitiven Störungen, die wir bei Patienten mit Schizophrenie beobachten«, sagt Franz Resch, Kinder- und Jugendpsychiater an der Universitätsklinik Heidelberg. »Die Verbindungen zwischen Neuronen und zwischen verschiedenen Hirnarealen sind gestört. Die Signale der Nervenzellen laufen daher chaotisch durcheinander - wie bei einem Orchester ohne Dirigent.«

Vergleicht man die Gehirne von Kindern, die an Schizophrenie leiden, mit denen von Patienten, die erst im Erwachsenenalter erkrankt sind, so entdeckt man deutliche Unterschiede: Während bei den jungen Patienten vor allem Regionen im Scheitellappen, aber auch im Kleinhirn weniger Substanz aufweisen, ist bei spätem Krankheitsbeginn vor allem der Frontallappen verändert. Die »hinteren« Hirnbereiche sind bei diesen Menschen dagegen normal entwickelt.

Dem Grund dafür gingen Wissenschaftler um Sophia Frangou vom King´s College London in den letzten Jahren nach. 2008 untersuchten sie die Gehirne von Schizophreniepatienten mit Hilfe der Diffusions-Tensor-Bildgebung. Dabei handelt es sich um eine Weiterentwicklung der Magnetresonanztomografie, die es ermöglicht, Neuronenbahnen detailliert darzustellen. Die Methode beruht darauf, dass die normalerweise zufällige Bewegung von Wassermolekülen im Hirngewebe eine bevorzugte Richtung annimmt - nämlich entlang der Neuronenfortsätze, der Axone, aus denen die weiße Masse besteht. Ist die Architektur des Gehirns gestört, weil beispielsweise die Verbindungen zwischen den Nervenzellen unterbrochen sind, macht sich dies auf den Aufnahmen bemerkbar.

Die Ergebnisse der Londoner Forscher passen in das Bild früherer Studien: Die Nervenverbindungen waren bei schizophreniekranken Kindern vor allem im Bereich des Scheitellappens beeinträchtigt, bei Patienten mit spätem Krankheitsbeginn dagegen im Frontallappen. Erst wenn die kranken Kinder ins Erwachsenenalter kommen, verändert sich auch bei ihnen die Hirnsubstanz im Frontallappen.

Das unterstreicht laut Medizinern, dass der Schizophrenie tatsächlich eine Entwicklungsstörung des Gehirns zu Grunde liegt. Denn unser Denkorgan reift sozusagen von hinten nach vorne: Im Alter von sechs bis zwölf Jahren legt zunächst der Scheitellappen an Masse zu, in der Pubertät ziehen dann die Areale im frontalen Kortex nach. Daher entwickelten Patienten mit frühem Krankheitsbeginn später zwar auch Auffälligkeiten im Frontallappen - Personen, die erst im Erwachsenenalter erkranken, erleiden umgekehrt jedoch keinen Substanzverlust in den hinteren Hirnbereichen.


Langwierige Therapie

Lena helfen diese neurobiologischen Details ihrer Erkrankung allerdings kaum weiter. Ab dem Tag, an dem sich ihre Krankheit auf so drastische Weise offenbarte, ging es ihr immer schlechter. Erst eine Therapie an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Marburg brachte eine Verbesserung. Neun Monate behandelten die Ärzte ihre Psychose, unter anderem medikamentös - mit Erfolg. Doch geheilt ist Lena nicht. Seit gut einem Jahr lebt sie in der Leppermühle, einem Kinder- und Jugendwohnheim in der Nähe von Gießen, in dem junge Psychiatriepatienten im Anschluss an ihre klinische Behandlung betreut werden. In ihrer Wohngruppe leben noch sieben weitere Jugendliche, sechs davon leiden ebenfalls an Schizophrenie.

Lena ist heute 15 Jahre alt. Das »Männchen« in ihrem Kopf ist verschwunden. Doch wer das Mädchen zum ersten Mal trifft, merkt schnell, dass er es nicht mit einer durchschnittlichen Jugendlichen zu tun hat. Sie wirkt jünger, als sie ist, eher würde man sie vielleicht auf zwölf Jahre schätzen. Während die Mutter über ihr Leben mit der Tochter berichtet, kichert Lena verlegen, einmal beginnt sie unvermittelt zu weinen. Wenn sie selbst erzählt, rutscht sie auf dem Stuhl hin und her, sie zappelt dabei oder knetet ihre Hände. Und immer wieder wandern ihre Blicke unsicher zur Mutter oder zur Therapeutin - als suche das Mädchen Bestätigung dafür, dass seine Erinnerung und seine Wahrnehmung der Realität entsprechen.

Lena hat sich in der Leppermühle langsam wieder an den Schulunterricht herangetastet. Zunächst gewöhnte sie sich in einer Gruppe mit nur drei Klassenkameraden an das Lernen. Jetzt besucht sie die Schule der Einrichtung, in einer berufsorientierenden Klasse. »Wir kochen zum Beispiel und machen sogar Catering«, erzählt sie stolz. In ihrer Freizeit unternimmt Lena alle möglichen Aktivitäten, unter anderem Aerobic und Reiten - und freitags fährt sie mit den anderen Jugendlichen zum Bummeln nach Gießen.

»Wir unterstützen die Kinder dabei, Schritt für Schritt wieder ins Leben zurückzufinden«, erklärt die Psychotherapeutin Catrin Fiebich, die Lenas Wohngruppe betreut. Im Vordergrund stehe dabei, Ressourcen zu aktivieren, indem man beispielsweise an frühere Interessen anknüpft, also an das, was die Kinder können und was ihnen Spaß macht. Manchmal müssen die Betreuer auch erst wieder Lust darauf wecken, überhaupt irgendetwas zu tun.

»Lena ist bei allem sehr begeistert dabei und sehr zielstrebig, das ist ihr großes Potenzial«, sagt die Therapeutin. »Wenn sie sich etwas vorgenommen hat, arbeitet sie hart dafür. So erlangt sie Schritt für Schritt mehr Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit.«

Zurzeit will Lena ihr Übergewicht loswerden, das sie den Neuroleptika verdankt. Sie will endlich lernen einzuschlafen, ohne dass das Licht eingeschaltet bleiben muss. Und sie übt Zugfahren, um am Wochenende allein nach Hause zu ihrer Familie fahren zu können. »Und noch ein Ziel habe ich«, sagt Lena. »Ich will auf keinen Fall von Hartz IV leben müssen, sondern mein eigenes Geld verdienen!«

Doch noch ist vieles schwer für sie. Die räumliche Trennung von der Familie zum Beispiel. Oder wenn sie selbst kleine Rückschritte bemerkt: So muss sie im Moment immer zuerst den linken Schuh anziehen, aus Angst, dass sonst etwas Schlimmes passiert, ihr etwa das Heimfahrwochenende aus unerfindlichen Gründen gestrichen wird. »Daran merkt man, dass Lenas Zustand sich zwar gebessert hat, aber noch instabil ist«, sagt Fiebich.

Experten der Weltgesundheitsorganisation WHO schätzen, dass Schizophrenie die Betroffenen ähnlich stark beeinträchtigt wie Blindheit. Es schockiere sie immer noch, wenn sie höre, ihre Tochter sei nun mal ein sehr krankes Kind, sagt Merle Weiden. »Ich sehe vor allem, was für enorme Fortschritte sie gemacht hat, seit sie hier in der Leppermühle ist.« Trotzdem bleibt die Mutter realistisch. Sie weiß, dass Lena es immer schwerer haben wird als ihre gesunden Altersgenossen. Vielleicht wird sie nie in der Lage sein, ein völlig eigenständiges Leben zu führen.

Doch darauf kommt es Merle Weiden nicht an. Wenn jemand aus dem Familien- oder Bekanntenkreis sie wieder einmal fragt, »was denn aus dem Kind nur werden soll«, sagt sie: ein glücklicher Mensch, der lachen kann. Und alles andere wird sich irgendwie fügen.


Anmerkung:

(*) Name der Mutter und der Patientin geändert


Stefanie Reinberger ist promovierte Biologin und freie Journalistin in Köln.


Quellen

Kao, Y.-C., Liu, Y.-P.: Effects of Age of Onset on Clinical Characteristics in Schizophrenia Spectrum Disorders. In: BMC Psychiatry 10, Artikel 63, 2010

Kyriakopoulos, M. et al.: A Diffusion Tensor Imaging Study of White Matter in Early-Onset Schizophrenia. In: Biological Psychiatry 63, S. 519 - 523, 2008

Resch, F.: Schizophrenie. In: Herpertz-Dahlmann, B. et al. (Hg.): Entwicklungspsychiatrie. Schattauer, Stuttgart 2008


Weblinks

www.kompetenznetzschizophrenie.de
Ausführliche Informationen sowie Diskussionsforum für Betroffene und ihre Angehörigen

www.leppermuehle.de
Das Kinder- und Jugendwohnheim in der Nähe von Gießen nimmt junge Menschen mit psychischen Erkrankungen auf.


Zusatzinformationen

Schizophrenie in Zahlen
Jährlich erkranken in Deutschland rund 10.000 bis 15.000 Menschen neu an Schizophrenie - einer von 100 Deutschen erlebt wenigstens einmal im Leben eine psychotische Episode. Männer und Frauen sind etwa gleich häufig betroffen. Manche Patienten können nach einer Psychose ihr Leben normal weiterführen, bei anderen wird die Krankheit chronisch: Sie neigen immer wieder zu Wahnideen und Denkstörungen.

Kein Schwund durch Medikamente
Patienten mit Schizophrenie verfügen im Schnitt über weniger Hirnmasse als Gesunde. Psychiatriekritiker behaupten, der Schwund an Neuronen sei eine Folge der Therapie mit Neuroleptika. 2010 verglich daher ein Team um den Heidelberger Psychiater Franz Resch die Gehirne von 13 schizophrenen Jugendlichen mit denen von gesunden Gleichaltrigen. »Keiner der Patienten hatte vorher Medikamente bekommen, aber alle zeigten ein Defizit an grauer Hirnmasse«, so Resch. Der Substanzverlust sei somit Teil der Krankheit und keine Folge der Behandlung.


Kästen:

Vorboten des Wahns

Eine sich anbahnende Psychose rechtzeitig zu erkennen, ist für Außenstehende schwierig. Meist zeigen die Betroffenen zwar schon in der frühen Kindheit Auffälligkeiten, die lassen sich aber oft erst rückblickend als Vorboten der Erkrankung deuten: So entwickeln sich in den ersten Lebensjahren etwa die Sprache und die motorischen Fähigkeiten langsamer als normal. Im Kindergarten fallen spätere Psychotiker durch mangelnde Konzentrationsfähigkeit und Tagträumereien auf; manche sind extrem anhänglich, andere hyperaktiv und impulsiv. In der Grundschule machen sie logische Denkfehler und zeigen unangemessene Gefühlsreaktionen.
Vor der ersten psychotischen Episode treten dann über einen Zeitraum von einigen Wochen bis zu mehreren Monaten hinweg häufig folgende Symptome auf:
- Leistungseinbruch in Schule oder Beruf
- schlechtes Konzentrationsvermögen / Unaufmerksamkeit
- wenig Antrieb
- Schlafstörungen
- Angst und Misstrauen
- sozialer Rückzug
- erhöhte Reizbarkeit


Eine Störung mit vielen Gesichtern

Die Symptome, die im Rahmen einer Schizophrenie auftreten, können äußerst vielfältig sein. Grob unterscheidet man Betroffene mit überwiegend »positiven« oder »negativen« Symptomen. Erstere umfassen vor allem Wahnvorstellungen, Ich-Störungen und Halluzinationen, die alle Sinne betreffen können. Patienten, bei denen hingegen die Negativsymptomatik vorherrscht, isolieren sich zunehmend von anderen, können sich sprachlich schlecht ausdrücken, sind apathisch und emotional unbeteiligt. Häufig treten jedoch - gerade bei Kindern und Jugendlichen - sowohl Positiv- als auch Negativsymptome auf.

Über die Ursachen der Störung streiten Experten bis heute. Eine wichtige Rolle bei ihrer Entstehung spielen die Gene - aktuelle Studien beziffern ihren Anteil mit bis zu 80 Prozent. Es gibt jedoch kein einzelnes Schizophrenie-Gen, sondern eine ganze Reihe von Kandidaten, denen ein Einfluss auf die Krankheitsentstehung zugeschrieben wird (siehe G&G 4/2010, S. 52).

Auch Schädigungen des Ungeborenen im Mutterleib können zum Entstehen einer Schizophrenie beitragen, beispielsweise durch einen Schwangerschaftsdiabetes oder eine Grippeinfektion. Aus neuropsychiatrischer Sicht sind solche Einflussfaktoren insbesondere im zweiten Schwangerschaftsdrittel gefährlich, wenn das Gehirn des Fötus entscheidende Entwicklungsprozesse durchläuft.

Nach der Geburt erhöhen verschiedene Einflüsse das Risiko: traumatische Erfahrungen während der Kindheit etwa, die Zugehörigkeit zu einer sozialen Minderheit, Aufwachsen in einer Großstadt oder Cannabismissbrauch. Sie können zu Auslösern werden, wenn bereits andere Risikofaktoren im Erbgut oder Entwicklungsschäden während der Schwangerschaft vorliegen.


Schizophrenie im Kindesalter - was tun?

In vorsichtiger Dosierung sind Neuroleptika auch bei Kindern und Jugendlichen ein wichtiges Mittel zur Behandlung akuter Psychosen. Die Präparate helfen zudem, Rückfälle zu verhindern. Doch medikamentöse Therapie ist nur die halbe Miete. »Die Kinder sind auch nach Besserung der akuten Symptome noch nicht belastbar«, erklärt Katja Becker, Leiterin der Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie in Marburg. »Sie können sich beispielsweise kaum konzentrieren, so dass der Trubel in ihrer normalen Schule sie oft überfordert.« Eine Rückkehr in den Alltag gestaltet sich daher schwierig.

Wichtig ist zunächst, den Zustand der Betroffenen zu stabilisieren, um anschließend ihr Selbstbewusstsein und ihre Selbstständigkeit zu stärken. Dabei helfen verschiedene Behandlungen wie Ergo-, Tier- oder Bewegungstherapie. Individuelle Psychotherapie und Verhaltenstherapie sind besonders dazu geeignet, die konkreten Probleme und Ziele des einzelnen Kindes anzugehen.

Auch Eltern benötigen oft Unterstützung, wenn ihr Kind auf einmal Wahnideen offenbart oder sich von seinen Freunden zurückzieht. Daher beraten die Therapeuten immer auch die engen Bezugspersonen der Patienten. »Allgemeine Empfehlungen lassen sich jedoch nicht aussprechen«, sagt Becker. Eher ängstliche und überfürsorgliche Eltern müssten lernen, dem Kind mehr zuzutrauen, und es ermuntern, unter Menschen zu gehen. »Andere glauben, dass das Kind nach der ersten Therapie weiterleben kann wie bisher, dass es wieder die alte Schule besucht und wie geplant seinen Abschluss macht«, so Becker. »In diesen Fällen muss man deutlich machen, dass das wahrscheinlich nicht funktioniert.«


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Bei der Sache bleiben
Wenn Jugendliche an Schizophrenie erkranken, leidet auch die Schulleistung darunter. Damit sie den Anschluss nicht verpassen, werden Patienten wie Lena in der Leppermühle bei Gießen allmählich wieder auf den Lernalltag vorbereitet.

Geregeltes WG-Leben
In der Leppermühle kochen die Jugendlichen nicht nur für sich selbst. Wer will, kann sich auch beim hauseigenen Cateringservice engagieren.

Heilsamer Kontakt
Die Reittherapie gehört für die meisten Jugendlichen zu ihrem Aufenthalt in der Leppermühle dazu. Dabei lernen sie unter anderem, Verantwortung für die Tiere zu tragen.


© 2011 Stefanie Reinberger, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
GEHIRN&GEIST 3/2011, Seite 47-52
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
Redaktion und Verlag:
Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. April 2011