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DIAGNOSE/161: Persönlichkeitsstörungen - "Entscheidend ist, wie gut der Patient zurechtkommt" (Gehirn&Geist)


GEHIRN&GEIST 4/2013
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Persönlichkeitsstörungen
»Entscheidend ist, wie gut der Patient zurechtkommt«

Interview mit Professor Sabine Herpertz



Ob Narzissmus, Borderline oder Paranoia: Seit Jahrzehnten diskutieren Psychiater, wie sich die Störungen der Persönlichkeit am besten ordnen lassen. Die gültigen Diagnosekategorien bereiten viele Probleme - und doch bleibt bis auf Weiteres alles beim Alten. Denn für die bevorstehende Revision des Diagnosehandbuchs DSM-5 sind alle geplanten Änderungen vom Tisch. Sabine Herpertz vom Heidelberger Universitätsklinikum erläutert die Hintergründe.


KURZ ERKLÄRT

Persönlichkeitsstörungen zählen zu den umstrittensten psychischen Erkrankungen. Ihr zentrales Merkmal: Das Erleben und Verhalten der Betroffenen weicht merklich von den kulturtypischen Erwartungen ab. Dies betrifft so unterschiedliche Bereiche wie die emotionalen Reaktionen und ihre Kontrolle, die Wahrnehmung und Interpretation der Umwelt sowie die zwischenmenschlichen Beziehungen.


Frau Professor Herpertz, mit der neuen Ausgabe des Diagnosehandbuchs für psychische Störungen, dem DSM-5, sollte die Diagnostik der Persönlichkeitsstörungen reformiert werden. Welche Änderungen waren geplant?

Man wollte ursprünglich ein »kategorial-dimensionales Hybrid« schaffen - kompliziertes Wort! Fünf der bislang zehn Persönlichkeitsstörungen wären demnach erhalten geblieben, die übrigen wären weggefallen. Dazu wollte man alle Patienten, auch wenn sie nicht in eine der fünf Diagnosekategorien passen, anhand von bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen beschreiben - also anhand von Dimensionen an Stelle von Kategorien (siehe KASTEN unten). Damit wäre man den Betroffenen besser gerecht geworden, denn Persönlichkeitsmerkmale können mehr oder weniger stark ausgeprägt sein. Manche sind in schwächeren Ausprägungen unproblematisch oder sogar vorteilhaft, und erst ab einer gewissen Stärke bereiten sie Probleme.

KASTEN
Dimensionen der Persönlichkeitsstörung
Als mögliche »Domänen« einer pathologischen Persönlichkeit gelten:
1. Negative Affekte
(emotionale Labilität, Ängstlichkeit, Depressivität)
2. Antagonismus
(Feindseligkeit, Dominanzstreben, Arglist)
3. Impulsivität und Risikosuche
(Gegenpol: Zwanghaftigkeit)
4. Psychotizismus
(exzentrische und bizarre Überzeugungen oder Erfahrungen)
5. Introversion und Distanziertheit


Wie hätte so eine dimensionale Diagnose ausgesehen? Patient X ist zu 80 Prozent zwanghaft, zu 60 Prozent distanziert?

Ja, so ungefähr kann man sich das vorstellen. Es war aber noch nicht bis ins letzte Detail festgelegt. Lange war ein so genanntes Prototypenmodell geplant: Der Kliniker hätte dann einschätzen müssen, inwieweit der Patient mit dem Prototyp eines zu 100 Prozent zwanghaften Menschen übereinstimmt.

Was sprach für die geplanten Änderungen?

Viel! Zum Beispiel stehen Forscher häufig vor dem Problem, dass sehr unterschiedliche Patienten dieselbe Diagnose erhalten, weil sie alle einen Teil der geforderten Kriterien erfüllen - nur eben nicht dieselben! Zwei Patienten mit derselben Diagnose können also unter ganz unterschiedlichen Symptomen leiden. Es gibt aber noch weitere Gründe: Zum Beispiel wird einfach zu vielen Menschen eine Persönlichkeitsstörung attestiert. Wenn jemand aber nur ein paar Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen hat, sollte er keine psychiatrische Diagnose bekommen. Entscheidend ist vielmehr, wie gut der Patient mit sich und der Welt zurechtkommt. Empirische Befunde zeigen, dass dieser so genannte Schweregrad der Funktionsbeeinträchtigung diagnostisch wertvoller ist als einzelne spezifische Persönlichkeitsmerkmale.

Inwiefern?

In zwei internationalen Längsschnittstudien fand man heraus, dass mit den geltenden Kriterien knapp zehn Jahre nach einer solchen Diagnose über 90 Prozent der Patienten für geheilt erklärt werden müssten, weil sie die diagnostische Schwelle nicht mehr überschreiten. Zunächst war man begeistert, weil man dachte, die Störungen hätten wohl doch keine so negative Prognose wie befürchtet. Doch zwei von drei Patienten schafften es trotzdem nicht, ganztags zu arbeiten, und auch in ihrem privaten Alltag gab es noch viele Konflikte. Damit war klar, dass die bisherigen Diagnosekriterien die Schwierigkeiten nicht richtig erfassten, denn die Betroffenen litten ja weiterhin unter Problemen, die mit ihrer Persönlichkeit zusammenhingen.

Nun ändert sich an der bisherigen Praxis doch nichts. Warum?

Gescheitert ist die Revision letztlich an den Bedenken, ob sich die neue Klassifikation praktisch umsetzen lässt, denn sie bedeutet einen viel höheren Aufwand für die Kollegen in Kliniken und Praxen. Damit drohte die Gefahr, dass die Persönlichkeit von Patienten künftig diagnostisch und damit auch in der Therapie weniger beachtet wird. Noch dazu hätte man die Störung nicht mehr nach dem klassischen kategorialen Krankheitsmodell beschrieben. Würden die Krankenkassen den Krankheitswert dann überhaupt noch anerkennen und die Behandlung bezahlen? Solche Fragen will man zunächst klären und deshalb die ursprünglichen Pläne als Forschungsgrundlage in den Anhang des DSM-5 stecken.

Könnte sich diese Diskussion eines Tages erübrigen, weil wir eindeutige biologische Marker wie Genvarianten, Hirnanomalien oder Hirnfunktionsstörungen für verschiedene psychiatrische Diagnosen finden?

Grundsätzlich kann ich mir das schon vorstellen, aber es wird noch lange dauern, bis biologische Befunde so verlässlich und reproduzierbar sind, dass sie in die Diagnose eingehen können. Vorsicht ist auch geboten, um die Komplexität der Persönlichkeitsstörungen nicht auf einzelne Befunde aus der Hirnforschung zu reduzieren.

Unter Fachleuten kam es bei der Diskussion um den Verbleib einzelner Persönlichkeitsstörungen im DSM-5 zu vielen Kontroversen. Besonders heftig stritten Forscher über die narzisstische Persönlichkeit. Was kennzeichnet die betroffenen Patienten?

Sie halten sich selbst für etwas ganz Besonderes, erwarten meist eine Sonderbehandlung und benutzen andere bewusst für eigene Ziele, für die eigene Selbstwertregulation. Von außen betrachtet wirken sie oft arrogant. Sie kompensieren mit ihrem Verhalten aber ein brüchiges Selbstwertgefühl und erhebliche Selbstzweifel. Oft wurden sie für ihre Leistung oder für besondere Talente anerkannt, sind jedoch unsicher, ob man sie auch als Mensch unabhängig von ihren Leistungen wertschätzt.

Und warum entzünden sich gerade an ihnen so viele Diskussionen?

Grundsätzlich geht es darum, ob man hier überhaupt von einer psychischen Störung sprechen kann. Die Betroffenen sind möglicherweise im Beruf sehr erfolgreich und kommen auch im Privatleben gut zurecht. Ihre Persönlichkeit verschafft ihnen vielleicht sogar Vorteile. Darf man ihre Eigenarten trotzdem für krank erklären und »wegtherapieren«? Ich erlebe im klinischen Alltag, dass auch das Geschlecht der Patienten bei der Bewertung ihres Verhaltens eine Rolle spielt. Bei Frauen wird eine narzisstische Persönlichkeit deutlich seltener diagnostiziert - und Männern bescheinigen Ärzte umgekehrt nicht so oft eine histrionische Persönlichkeit, also ein extrem kontaktfreudiges, theatralisches oder verführerisches Auftreten. Feldstudien zeigen aber, dass diese Störungen bei beiden Geschlechtern gleich häufig auftreten! Wir nehmen dieselben Merkmale bei Frauen nur eher als Zeichen einer histrionischen, bei Männern als die einer narzisstischen Persönlichkeit wahr.

Inwiefern ähneln sich diese Patientengruppen im therapeutischen Umgang?

Sowohl narzisstische als auch histrionische Persönlichkeiten sehen die Ursache ihrer Probleme meist in der Umwelt. Sie spüren zunächst nicht, dass andere ihr Verhalten als schwierig oder unangenehm empfinden. Sie erleben ihre Symptome in der Regel als Teil ihrer Persönlichkeit und weniger als Störelement. Das erschwert die Behandlung, denn es braucht einen langen Prozess, um sie dafür empfänglich zu machen, dass das Problem in ihrem eigenen Interaktionsstil liegt. Die antisozialen Persönlichkeiten erkennen hingegen, dass sie anders sind als die meisten Menschen, finden das aber gut so. Ganz anders denken zum Beispiel ängstlich-vermeidende Persönlichkeiten. Sie bemerken: Durch meine Schüchternheit oder spröde Art komme ich bei meiner Umwelt nicht gut an; sie leiden darunter und wollen sich ändern.

»Die Arbeitsgruppe der WHO plädiert für einen radikalen Schnitt: die Kategorie der Persönlichkeitsstörungen vollständig aufzulösen und sie anderen Störungen zuzuordnen. Aber wissenschaftlich gesehen ist das nicht schlüssig«

Vorerst bleiben nun alle zehn Persönlichkeitsstörungen im DSM-5 erhalten. Aber die Diagnoseleitlinien der Weltgesundheitsorganisation, ICD genannt, werden ebenfalls gerade überarbeitet. Ist denn dort mit Änderungen zu rechnen?

Die Arbeitsgruppe für Persönlichkeitsstörungen bei der WHO plädiert für einen radikalen Schnitt: die Kategorie der Persönlichkeitsstörungen vollständig aufzulösen und sie anderen Störungen zuzuordnen. Aber wissenschaftlich gesehen ist das nicht schlüssig. Zwar passt etwa die ängstlich-vermeidende Persönlichkeit gut in die Kategorie der Angststörungen, aber es ist unklar, ob zum Beispiel die Zwangsstörung mit einer zwanghaften Persönlichkeit zusammenhängt. Noch dazu ist zu befürchten, dass die Betroffenen nicht mehr angemessen behandelt würden, wenn die als therapieerschwerend geltende Diagnose der Persönlichkeitsstörung wegfiele. Diese Betroffenen brauchen in der Regel eine längere Behandlung.

Angenommen, die Entscheidung läge ganz allein in Ihren Händen. Wie würden Sie das Kapitel zu Persönlichkeitsstörungen in den Diagnosehandbüchern umschreiben?

Wir würden ab sofort den Schweregrad der Funktionsbeeinträchtigung miterheben - unter anderem, um den Therapieerfolg daran zu messen, also verstärkt dafür zu sorgen, dass die Patienten in ihrem privaten und beruflichen Alltag wieder zurechtkommen. Langfristig würde ich außerdem die Persönlichkeitskategorien durch Dimensionen ersetzen. In der Therapie erklären wir unseren Patienten ihre Probleme ohnehin schon auf diese Weise: Es gibt keinen grundsätzlichen, sondern nur einen graduellen Unterschied zwischen einer gesunden und einer gestörten Persönlichkeit.


Die Fragen stellten GuG-Redakteurin Christiane Gelitz und GuG-Praktikantin Liesa Klotzbücher.


Sabine Herpertz wurde 1960 in Oberhausen geboren. Sie studierte Humanmedizin an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und promovierte an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Sie arbeitete zunächst an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der RWTH Aachen und war von 2003 bis 2009 Direktorin der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Rostock. Seit 2009 leitet sie die Abteilung für Allgemeine Psychiatrie am Universitätsklinikum Heidelberg.

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Die zehn Persönlichkeitsstörungen im DSM-5

Die nächste Ausgabe des Diagnosehandbuchs für psychische Störungen, das DSM-5, unterscheidet wie ihr Vorgänger weiterhin zehn Kategorien, die jeweils eine Reihe von diagnostischen Kriterien enthalten. Die folgende Liste nennt beispielhaft einige dieser Merkmale:

1. paranoide Persönlichkeitsstörung
argwöhnisch, reserviert, nachtragend
2. schizoide Persönlichkeitsstörung
einzelgängerisch, distanziert, emotionslos
3. schizotypische Persönlichkeitsstörung
exzentrisch, misstrauisch, abergläubisch, sozial unbeholfen, ängstlich oder zurückgezogen
4. antisoziale Persönlichkeitsstörung
impulsiv, reizbar, hinterhältig, verantwortungslos
5. Borderline-Persönlichkeitsstörung
instabil in Gefühlen, Selbstbild und Beziehungen, impulsiv, selbstschädigend oder suizidal
6. histrionische Persönlichkeitsstörung
theatralisch, beeinflussbar, kokett, provokant, aufmerksamkeitsheischend
7. narzisstische Persönlichkeitsstörung
überheblich, anspruchsvoll, empathielos
8. selbstunsichere Persönlichkeitsstörung
sozial gehemmt und ängstlich, überempfindlich
9. dependente Persönlichkeitsstörung
schutzbedürftig, unterwürfig, anklammernd
10. zwanghafte Persönlichkeitsstörung
perfektionistisch, gewissenhaft, rigide, kontroll- und regelorientiert

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Quellen
Herpertz, S.: Was bringt das DSM-5 Neues zur Klassifikation der Persönlichkeitsstörungen? In: Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie 59, S. 261-266, 2011
Tyrer, P. et al.: The Rationale for the Reclassification of Personality Disorder in the 11th Revision of the International Classification of Diseases (ICD-11). In: Personality and Mental Health 5, Special Issue: The Revision of ICD, S. 246-259, 2011

Mehr zum Thema
In GuG 6/2012 berichteten wir über die Pläne für das neue DSM-5:
»Die Neuordnung der Seelenleiden« S. 36
»Wie viel Störung darf es sein?« S. 42
»Risiko: Psychose« S. 48


© 2013 Christiane Gelitz / Liesa Klotzbücher, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
GEHIRN&GEIST 4/2013, Seite 66 - 69
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. April 2013