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STUDIE/073: Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie - wie Patienten sie erleben (Thieme)


Thieme Verlag / FZMedNews - Mittwoch, 28. Mai 2013

Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie - wie Patienten sie erleben



Stuttgart, Mai 2013 - Ohne Zwang geht es zuweilen nicht. Diese Erfahrung machen Ärzte und Pflegende in der Psychiatrie immer wieder. Wann und wie oft Zwangsmaßnahmen wie Isolation, Zwangsernährung, mechanische oder medikamentöse Ruhigstellung nötig sind - darüber entstehen regelmäßig fachinterne und auch öffentliche Diskussionen. "Bei den Debatten um die Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit von Zwangsmaßnahmen bleibt die Patientensicht jedoch häufig außen vor", sagt Dr. Ida Haußleiter vom LWL-Forschungsinstitut für Seelische Gesundheit in Bochum. In der Fachzeitschrift Psychiatrische Praxis (Georg Thieme Verlag, Stuttgart. 2013) stellt die Ärztin nun eine Studie vor, für die sie und ihre Kollegen unter der Leitung von Professor Georg Juckel 40 psychiatrische Patienten nach ihren Empfindungen während und nach der jeweiligen Zwangssituation gefragt haben.

Alle 40 Patienten waren durch richterlichen Beschluss in die Einrichtung aufgenommen worden. 15 von ihnen wurden mechanisch fixiert oder zwangsmediziert. Die Interviews für die Studie fanden im Durchschnitt drei Wochen nach der Zwangsmaßnahme statt.

Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, während des Zwangs Emotionen wie Wut und Ärger erlebt zu haben. "Besonders häufig waren diese bei Patienten, die zum Zeitpunkt des Interviews als weniger stark erkrankt eingestuft wurden", berichtet Ida Haußleiter. Diese stabileren Patienten empfanden die Zwangsmaßnahmen offenbar als ungerechtfertigt und fühlten sich in ihrer Autonomie stärker eingeschränkt. Bei ihnen dominierten auch zum Zeitpunkt der Befragung noch negative Gefühle wie Hass und Aggression.

Während der Zwangsmaßnahme durchlebten die Patienten nach eigenen Angaben jedoch auch Gefühle der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins, der Angst und der Schutzlosigkeit. "All dies sind Kennzeichen eines traumatischen Ereignisses", gibt Georg Juckel zu bedenken. Er verweist auf Untersuchungen, nach denen sich diese Erlebnisse negativ auf den weiteren Verlauf der psychiatrischen Grunderkrankung und der Behandlung auswirken können. Diese langfristigen Folgen können zahlenmäßig durchaus relevant sein - immerhin wird auf psychiatrischen Akutstationen in Deutschland bis zu ein Drittel der Patienten Zwangsmaßnahmen ausgesetzt.

Wie dieser Zwang erlebt wird, sollte nach Ansicht der Bochumer Psychiater ebenso systematisch erfasst werden wie seine Häufigkeit. Außerdem sollte die Patientensicht bei der Entwicklung neuer Behandlungskonzepte stärker berücksichtigt werden.

Interessant ist hier auch die Meinung der Patienten dazu, wie eine erneute Zwangsunterbringung vermieden werden könne. 60 Prozent der Patienten sah eine regelmäßige Medikamenteneinnahme als geeignete Maßnahme an. Mehr als die Hälfte nannten aber auch die Pflege sozialer Kontakte und eine ambulante Therapie als mögliche präventive Strategien.

Auch dazu, wie Fixierung oder Zwangsmedikation in der Klinik vorgebeugt werden könnte, äußerten sich die Patienten. Besonders wichtig schienen hier persönliche Kontakte zu sein: Ein Drittel der Befragten hätte sich Einzelgespräche mit dem Bezugstherapeuten gewünscht, rund 27 Prozent das Hinzuziehen einer anderen Vertrauensperson. Wie groß die Bedeutung des menschlichen Umgangs ist, zeigen auch andere Studien, auf die Haußleiter verweist. Demnach sind "weiche" Faktoren wie etwa die Atmosphäre bei der Aufnahme, das Verhalten des Behandlungsteams und die Einbeziehung des Patienten in therapeutische Entscheidungen wesentlich für die Behandlungszufriedenheit und den weiteren Verlauf der Erkrankung.

Immerhin äußerte rund ein Drittel der Patienten im Nachhinein Verständnis für die Unterbringung oder die erduldeten Zwangsmaßnahmen. Mehr als die Hälfte gab an, die Behandlung habe ihren individuellen Bedürfnissen entsprochen, und fast drei Viertel würde bei erneutem Behandlungsbedarf die Klinik wieder aufsuchen.


C. Armgart et al.:
Negative Emotionen und Verständnis - Zwangsmaßnahmen aus Patientensicht
Psychiatrische Praxis 2013; Online erschienen am 20.04.2013
DOI:10.1055/s-0033-1343159

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Quelle:
FZMedNews - Mittwoch, 28. Mai 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2013