Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → PSYCHIATRIE

VORTRAG/082: Zwangsbehandlung in der forensischen Psychiatrie (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 137 - Heft 3, Juli 2012
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Zwangsbehandlung in der forensischen Psychiatrie
Anforderungen der Praxis

Von Nahlah Saimeh



Im April 2012 veranstalteten das Institut für Konfliktforschung e.V., Köln, und der Verein Deutsche Strafverteidiger e.V., Frankfurt am Main, ihr 41. gemeinsames Symposium. Unter dem Motto »Heilung erzwingen? Medizinische und psychologische Behandlung in Unfreiheit« diskutierten Juristen und Psychiater zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen Zwangsmedikation. Ein Beitrag aus Sicht der forensischen Psychiatrie von Nahlah Saimeh.


Psychiatrie und Zwangsbehandlung sind unglücklicherweise als Begriffe genau so eng miteinander verknüpft wie sonntäglicher Kirchgang und Glockengeläut. Der Titel »Zwangsbehandlung in der forensischen Psychiatrie« erzeugt doppeltes Unbehagen, denn die forensische Psychiatrie selbst mit ihrem hermetisch geschlossenen Erscheinungsbild und der Besonderheit des zeitlich nicht befristeten Aufenthaltes in einer Psychiatrie ist gewissermaßen schon institutionalisierte Exemplifizierung des Zwangs. Insofern mag man mit Bruns (1986), der vom Zwang als »Konstituens psychiatrischen Vorgehens« spricht, die Frage stellen, ob der Titel nicht tautologisch gewählt ist. Zumindest aber darf man sich fragen, ob sich das Thema »Zwangsbehandlung in der forensischen Psychiatrie« von der »Zwangsbehandlung in der allgemeinen Psychiatrie« in psychiatrischer Hinsicht überhaupt unterscheidet, denn ein Teil derjenigen Krankheitsbilder, die in der allgemeinen Psychiatrie behandelt werden, finden sich auch in der forensischen Psychiatrie wieder. Wird also vom forensischen Psychiater eine Zwangsbehandlung herbeigesehnt, die der Allgemeinpsychiater nicht als indiziert ansehen würde? Darf sich der Sinn und Zweck einer medizinischen und damit wissenschaftlich begründeten Maßnahme unterscheiden in Abhängigkeit vom rechtlichen Status des Patienten? In der somatischen Medizin wäre es absurd, bei einem nicht vorbestraften, in Freiheit lebenden Bürger die Diagnose einer akuten Appendizitis (Blinddarmentzündung) mit entsprechender OP-Indikation zu stellen, dieselbe Diagnose mit derselben Therapieempfehlung aber einem wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilten Straftäter vorzuenthalten. Natürlich: Sowohl der eine als auch der andere können entscheiden, ob sie sich operieren lassen oder gegebenenfalls an einer eitrigen Bauchfellentzündung versterben möchten. Aber Diagnose und Therapiestandard wären unabhängig vom Freiheitsstatus des Patienten gleich. Was sollte also die Frage nach der Zwangsbehandlung in der forensischen Psychiatrie als Fragestellung an einen Psychiater für einen spezifischen Sinn ergeben?

Das Zitat von Haddenbrock (1972), demzufolge sich der psychisch Kranke »im Spannungsfeld zwischen seinem Subjektsein mit primären Grundrechten und seinem Objektsein« im Rahmen des fremdbestimmten Heilauftrages befindet, gilt für die forensische Psychiatrie mit ihren im Regelfall mehrjährigen ununterbrochenen stationären Aufenthalten ganz besonders. Und bekanntlich gibt es eine Reihe von Unterschieden zwischen Forensik und allgemeiner Psychiatrie:

  • »Eintrittskarte« in die Forensik ist nicht allein eine schwere psychische Krankheit oder Störung, sondern eine aus ihr resultierende gravierende Straftat.
  • Eintrittskarte ist ferner nicht nur die aus der Erkrankung resultierende Straftat, sondern die infolge der Erkrankung weiterhin bestehende Gefährlichkeit für die Allgemeinheit.
  • Die Gefährlichkeit wird zur zentralen Behandlungsindikation, die psychische Stabilisierung ist - im Hinblick auf die Rehabilitation und Entlassbarkeit - nur Mittel zur Erreichung der Reduktion von Gefährlichkeit. (Dennoch muss dem Arzt die gesundheitliche Besserung des Patienten am Herzen liegen, auch dann, wenn sie womöglich nicht zu einer durchgreifenden Reduktion von Gefährlichkeit führt.)
  • Die Behandlungsdauer liegt im Durchschnitt bei sieben Jahren, für Psychosepatienten zwar weit darunter, aber immer noch zwischen zwei und vier Jahren.
  • Weder über Zuweisung noch über Entlassung entscheiden Arzt und Patient in einem »informed consent«, sondern ein Gericht.
  • Über die Entlassung entscheidet nicht der reine Gesundheitszustand, sondern die Risikobeurteilung entlang kriminologischer Fakten.
  • Kostenträger der Behandlung ist der Steuerzahler, nicht die Krankenkasse.
  • Von daher gibt es eine gesellschaftliche Erwartung an die therapeutische Institution, nämlich den Schutz vor Rückfallstraftaten (nicht die Erwartung, dass Menschen in dem Krankenhaus wirklich geholfen würde).
  • Die forensische Psychiatrie ist noch weit mehr als die Allgemeinpsychiatrie mit ihren Hilfe- und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke eine Sicherheitsinstitution.
  • Das Diagnosespektrum der Forensik ist, wenn man es ein wenig vereinfacht, etwas eingeschränkt: Vornehmlich finden sich schizophrene Menschen, intelligenzgeminderte Menschen oder Menschen mit schweren Impulskontroll- oder Persönlichkeitsstörungen bzw. sexuellen Paraphilien in der Forensik. Patienten mit Zwangsstörungen, Angststörungen, psychosomatischen Störungen, Depressionen, Anpassungsstörungen etc. finden sich im Regelfall nicht.

Das Zwangsdilemma

Dass ausgerechnet die Psychiatrie so eng verknüpft ist mit Zwangsmaßnahmen, ist die große Tragik dieser Disziplin. Es besteht ein Zwangsdilemma, denn die Psychiatrie befasst sich - wiederum mehr als jede andere medizinische Disziplin - mit dem spezifischen Menschsein, mit der Individualität seiner Person und den in dieser Person angelegten Freiheiten der Weltaneignung. Psychisch krank zu sein bedeutet, in seinem individuellen Maß der Aneignung von Welt weit stärker eingeschränkt zu sein, als es die eigenen prämorbiden Möglichkeiten zulassen. Das von einer tiefen Menschlichkeit genährte Anliegen des Psychiaters ist es, dem Menschen wieder zu seiner individuellen freiheitlichen Auseinandersetzung mit der Welt zu verhelfen. Der Kernauftrag der Psychiatrie muss sich also auf die Freiheit des Menschen beziehen und nicht auf den Zwang. Egal ob forensischer Psychiater oder nicht forensischer Psychiater: Wer die dramatischen Krankheitsbilder akut gequälter schizophrener Patienten kennt mit ihrem Zerfall der Denkprozesse, ihrem bedrohlichen Erleben der eigenen Auflösung, der wird Augenzeuge einer der schwersten Bedrohungen menschlicher Freiheit. Gleiches gilt für die sich quälenden wahnhaft oder nihilistisch Depressiven, die in ihrem sinnlich-affektiven Erleben durch eine innere Wand von ihrer Lebendigkeit getrennt sind. Schwere psychische Krankheiten, jene, die in der kommunikativen Schnittmenge zwischen Strafrecht und Psychiatrie krankhafte seelische Störung genannt werden, sind menschliche Qualen, die Freiheit nehmen. Wer da nicht handeln möchte, hat keine Mitmenschlichkeit. Von daher muss für den forensischen Psychiater, gerade wenn er sich dem Subjektsein seines Patienten verpflichtet fühlt, die Gefahrenabwehr, die die Gesellschaft fordert, zwingend verknüpft sein mit der Wiedererlangung der Freiheit seines Patienten. Die erhebliche Verminderung von Gefährlichkeit bedeutet für den Patienten ein Zugewinn an Freiheit und letztlich die Wiedererlangung der Freiheit in einem möglichst selbstbestimmten Leben. Insofern ist die Besonderheit der forensischen Psychiatrie, dass ein Patient, der der Behandlung bedarf, aber nicht behandelt wird, nicht nur seiner inneren Freiheit verlustig geht, sondern auch auf sehr lange Zeit mitunter der äußeren.

»Der Kernauftrag der Psychiatrie muss sich also auf die Freiheit des Menschen beziehen und nicht auf den Zwang«

Ich will mich im Folgenden ganz prägnant auf die Behandlung akuter und chronisch florider Psychosen beschränken, auch wenn das Thema Zwangsbehandlung eine Rolle spielt bei der Behandlung schwerer Essstörungen oder anderer schwerst selbstschädigender Verhaltensweisen im Rahmen von Persönlichkeits- oder Impulskontrollstörungen. Bei den in der Forensik untergebrachten Frauen finden wir dieses ansonsten der Forensik eher ferne Problem nicht sehr selten. Was ist also mit Zwangsbehandlung bei Anorexien, bei schwersten Selbstverstümmelungen? Ich will nur die Frage stellen, hier aber den Fokus auf die Psychosen richten, weil daran - so denke ich - das eigentliche Thema der Zwangsbehandlung klar wird.

Mit dem Freiheitsziel der Psychiatrie ist das Paradoxon verknüpft, dass das Fach gerade mit Personen zu tun hat, die infolge psychischer Krankheiten in ihrer Urteilsfähigkeit und in ihren Handlungsentwürfen unfrei geworden sind und infolge der Erkrankung selbst diesen Verlust der Freiheit nicht wahrnehmen können, deren Bezugskoordinaten des Denkens und der Handlungsmotive so weit aus der Realität herausgeschoben sind, dass ein weitgehender existenzieller Desintegrationszustand vorliegt. Aus diesem existenziellen Desintegrationszustand heraus werden auch die Straftaten begangen und begriffen, denen sich die forensische Psychiatrie gegenübergestellt sieht.

Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie - und das gilt für die forensische Psychiatrie wie für die allgemeine Psychiatrie gleichermaßen - müssen stets die absolute Ultima Ratio bleiben. Darin sind sich auch der Landesbeauftragte für den Maßregelvollzug Nordrhein-Westfalen (NRW) und die Direktoren der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe völlig einig. Sie haben die Möglichkeiten der Zwangsbehandlung in der forensischen Psychiatrie für das Land NRW schriftlich ausgeführt, und ich komme später noch einmal darauf zurück.


Warum Zwangsbehandlung aus psychiatrischer Sicht notwendig werden kann

Warum das Problem der Zwangsbehandlung so eng mit schizophrenen Psychosen verknüpft ist, lässt sich mit den Beschreibungen von Scharfetter (1986) gut veranschaulichen.

»Der Mensch«, so Scharfetter, »hat ein ihn begleitendes Wissen um sich selbst und seine Welt. Insofern er bewusst ist, kommt ihm die Endlichkeit und Unendlichkeit seiner Welt, seine Partizipationsmöglichkeiten daran und seine Partikularität darin als Einsicht zu und verweist ihn auf die seine individuelle Person weit überschreitende Dimensionalität des Geschehens, in dem er steht.« Im Tages-Wach-Bewusstsein, das vom Unterbewusstsein und vom Überbewusstsein (z.B. meditatives Bewusstsein, mystische Erfahrung) abgegrenzt ist, spielen Ich-Bewusstsein, Erfahrungsbewusstsein und Realitätsbewusstsein sowie die persönlichkeitsstrukturellen Eigenschaften eine Rolle. Die Psychopathologie, mit der sich der klinische Psychiater befasst, bezieht sich auf dieses Tages-Wach-Bewusstsein, und der so genannte »informed consent«, den ein Patient in eine medizinische Heilbehandlung geben kann, basiert auf jenen Bewusstseinsleistungen in diesem Tages-Wach-Bewusstsein.

Um aber als Patient vernünftig in eine ärztliche Heilbehandlung einwilligen zu können oder aber mich auch ebenso begründet unter Gewichtung anderer, persönlicher Gesichtspunkte gegen die Maßnahme zu entscheiden, muss ich über ein intaktes Ich-Bewusstsein verfügen. Mit Bezug auf Scharfetter (1986) besteht dies aus den »fünf Grunddimensionen Ich-Vitalität, Ich-Aktivität, Ich-Konsistenz, Ich-Demarkation und Ich-Identität«. Ein intaktes Ich-Bewusstsein bildet die Grundlage für das in der individuellen Persönlichkeitsausprägung entwickelte Selbstbild und die daraus resultierenden Eigenschaften wie »Besonnenheit, relative Freiheit und Autonomie« (Scharfetter 1986). Genau diese Grunddimensionen des Ich-Bewusstseins sind aber in einer akuten (und auch mitunter chronifizierten) Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis tief greifend gestört.

Typische Symptome wie Gedankenlautwerden, Stimmenhören in Form von kommentierenden oder adressierenden Stimmen, Leibhalluzinationen, Depersonalisations- oder Derealisationserleben, Gefühle des Gelenktwerdens, der Gedankenbeeinflussung, Gedankenausbreitung oder Gedankeneingebung sowie wahnhafte Denkinhalte verhindern bei dem Erkrankten, dass er eine Entscheidung treffen kann - ob für oder gegen eine Behandlung oder für oder gegen Teile der Behandlung sei da ganz einerlei.

Solche Zustände sind nicht freie Wahl, sondern der Verlust von Fähigkeiten durch eine nicht autokurativ verlaufende Krankheit. Der betroffene Patient kann in dem Zustand nicht entscheiden, ob er Behandlung braucht und ob er eine Behandlung will. Er kann nicht einmal erkennen, dass er eine Behandlung benötigt, weil er krank ist. Es ist ein Gebot ethischen Handelns, diesem Patienten, der sein Recht auf Behandlung nicht einfordern kann, die Behandlung angedeihen zu lassen. Eine solche Behandlung kann im Einzelfall auch zu dem Ergebnis führen, dass sich der Patient dann später gegen ihre Fortsetzung entscheidet.

Der Mensch hat ein Anrecht darauf, unvernünftige Entscheidungen zu treffen. Das gilt für schizophren und nicht schizophren Erkrankte, es gilt für Psychiater und andere Menschen. Schizophrene Psychosen haben erhebliche psychosoziale Konsequenzen für die Betroffenen, mit denen sie krankheitsbedingt und unverschuldet - also eben nicht aus freier Wahl heraus - konfrontiert sind. Neben den mitunter sehr quälenden, Angst auslösenden Positivsymptomen kommen die Negativsymptome mit Affektverflachung, Anhedonie, Interessenverlust, Verflachung des motivationalen Spannungsbogens und konsekutiv soziale Folgen wie Abbruch des Bildungs- und Ausbildungsweges, Arbeitsplatzverlust, Herausfallen aus dem beruflichen Bezugssystem, familiäre Probleme, Obdachlosigkeit, sekundäre Suchterkrankungen und erhöhtes Suizidrisiko hinzu. Anders als bei der Orientierung an einem kriminellen Lebenskonzept, das arm an Verpflichtungen und Verbindlichkeiten ist, dafür aber reich an hedonistischer Augenblicksverhaftung, handelt es sich bei den negativen sozialen Folgen für schizophrene Menschen um Auswirkungen einer Krankheit und nicht um alternative Lebenskonzepte, die man mehr oder weniger gutheißen mag. Eine schwere psychische Krankheit ist eben kein Label. Es ist ein Zerfallsprozess. Wenn man Fotografien von chronisch schizophrenen Menschen über die Jahrzehnte betrachtet und ihre physiognomische Veränderung dokumentiert, wird deutlich, dass hier etwas stattfindet, das nicht dem Motto »Älter werden wir alle« folgt, sondern dass ein Raubbau an einer Persönlichkeit stattfindet. Bei schweren Demenzen begreifen die meisten Menschen, dass der Zerfall eine Krankheit ist und nicht ein Konzept anarchischen Seniorentums. Warum tun wir uns bei den Psychosen so schwer, das einzusehen?

Ärzte sind nicht dazu da, patriarchal über die Lebensgeschicke anderer Menschen zu entscheiden. Dazu waren sie nie da, und es ist gut, dass diese missbräuchlich autoritätsvolle Berufsattitüde immer mehr der Vergangenheit angehört. Jeder Mensch hat auch das Recht, sich für oder gegen Behandlungen und für oder gegen Heilungschancen zu entscheiden.

Ärzte haben kein Anrecht darauf, sich, nur weil sie im Besitz eines sehr spezifischen Fachwissens sind, darüber hinwegzusetzen. Psychiater sind aber zumindest dazu da, Menschen, die aufgrund jener desintegrierten Zustände in eine völlige Hilf- und Ratlosigkeit verfallen sind, daraus zu befreien, so gut dies eben möglich ist. Nutzt der Patient seine wiedergewonnene Urteilskraft dazu, sich gegen die Hilfe zu entscheiden, so muss dies respektiert werden. Zunächst einmal ist das Ziel das »shared decision making« (Lambert et al. 2011). Dabei wird die mangelnde Krankheitseinsicht zu Beginn der Behandlung mit 40 bis 60 Prozent angegeben (Lambert et al. 2011). Im Grunde muss man sie als gewissermaßen fast natürlichen Bestandteil der Akutsymptomatik begreifen.

Dabei ist bekannt, dass eine möglichst kurze Zeit der unbehandelten Symptomatik ein Ansprechen auf antipsychotische Behandlung verbessert. Unbehandelte Psychosen haben hingegen ein deutlich höheres Risiko für unvollständige Remission bzw. Therapieresistenz.

Enthält man dem Patienten also eine Behandlung medizinisch-fahrlässiger Weise länger vor, so sinken seine Genesungschancen deutlich. Für schizophrene Patienten in der forensischen Psychiatrie stellt sich die Situation noch weitreichender dar. Sie sind neben Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen und Menschen mit Intelligenzminderung oder organischen Störungen die dritte große Patientengruppe der forensischen Psychiatrie, und sie entwickeln sich zur Hauptzielgruppe forensifizierter Patienten. Gerade für sie gilt, dass sie zumeist in die forensische Psychiatrie gekommen sind, weil sie im Vorfeld nur unzureichend in ein stabiles therapeutisches Bündnis eingebunden waren. Sie sind also in allererster Linie nicht nur selbst Täter, sondern sie sind gleichermaßen Opfer ihrer Erkrankung und der bis zur ihrer Straffälligkeit nicht konsequent abgewendeten sozialen Negativfolgen. Wenn man es böse zugespitzt formuliert, sind sie zuweilen Opfer einer fahrlässigen Unterlassung von Zwangsbehandlung.

Man muss sich sogar fragen, ob die Zustimmung zur Behandlung eines akuten Psychotikers womöglich auch dann gar nicht wirklich gegeben ist, wenn er »einwilligt«. Es ist ein wenig seltsam, als Arzt zu behaupten, wenn der Patient meiner Meinung ist, dann ist er noch nicht so krank, aber wenn er sich sperrt, dann bedarf er der Korrektur. Wer Stimmen hört und sich beeinflusst fühlt und dies für Gewissheit hält, also keine Teil-Distanzierung von dem Erleben mehr möglich ist, ist letztlich nur noch fraglich einwilligungsfähig.

Gerade die schizophrenen Patienten der Forensik vereinen klassische Risikofaktoren für ungünstige Behandlungsverläufe auf sich (vgl. Zahlen bei Piontek/Kutscher 2010):

  • lange unbehandelte Erkrankungsdauer;
  • ungünstiges soziales Funktionsniveau vor der Zuweisung;
  • Suchterkrankung als Sekundärdiagnose (drei- bis sechsfach erhöht für Alkohol respektive Drogen);
  • Behandlungsabbrüche in der Vorgeschichte, ungünstige Pharmakotherapie-Compliance (Forensikpatienten 26,8 Prozent versus Allgemeinpsychiatrie-Patienten 45 Prozent compliant);
  • schwieriges therapeutisches Bündnis (86,8 Prozent versus 56,2 Prozent);
  • frühes Ersterkrankungsalter mit Risiko der sekundär dissozial-randständigen Fehlentwicklung;
  • mehr Vorstrafen vor Einweisung in die Forensik, vor allem Körperverletzungsdelikte.

Die Forensifizierung schizophrener Patienten ist die wohl nachhaltigste soziale Negativkonsequenz der Erkrankung selbst. An einem erhöhten Risiko für Gewalttaten infolge einer Schizophrenie gibt es keinen Zweifel. Das relative Risiko für die Begehung von Tötungsdelikten liegt bei Schizophrenen ohne Suchtmittelmissbrauch bei 7 bis 10,1 (Schanda 2011; Nedopil 2007), bei jenen mit Substanzkonsum bei 28,8 und damit vergleichbar hoch mit Persönlichkeitsstörungen (Nedopil 2007; Schanda 2011). Das Risiko für Gewalttätigkeit steigt bei schizophrenen Frauen mit Suchtmittelkonsum noch stärker als bei Männern. Hier wiederum überwiegen genau jene Patienten, die sich im Vorfeld eben besonders schlecht in eine integrierte Behandlung aus ambulanten und stationären Hilfen haben einbetten lassen.

»Die Forensifizierung schizophrener Patienten ist die wohl nachhaltigste soziale Negativkonsequenz der Erkrankung selbst«

Bei den Taten handelt es sich häufig um schwerwiegende Körperverletzungsdelikte und vor allem auch um Tötungsdelikte zum Nachteil entweder naher Verwandten (nicht selten eines Elternteils) oder auch um wahnhaft besetzte Zufallsopfer. Typisch sind raptusartige, impulsive Handlungen mit einem Übermaß an Gewalttätigkeit gemäß dem Threat/Control-Override-Konzept oder aber geplante Delikte vor dem Hintergrund eines systematisierten Wahnsystems (vgl. Kalus 2011, Nedopil 2007). Mitunter eher sozial lästig erscheinende Taten, die durchaus die Frage aufwerfen lassen, ob hier die Erheblichkeitsschwelle zur Einweisung in die Forensik nicht verfehlt wurde, werden im Zuge der sozialen Verwahrlosung und Entdifferenzierung der Persönlichkeit begangen. Oftmals sind dies dann einfache Körperverletzungsdelikte, Beleidigungen und aggressiv-unheimlich anmutende Pöbeleien und nicht zuletzt eine manchmal beträchtliche Zahl an Ladendiebstählen.

Anders als Menschen mit Persönlichkeitsstörungen jedoch zeigen behandelte schizophrene Menschen die geringste Rückfallrate bei Gewalttaten, profitieren also sowohl psychopathologisch als auch sozial am meisten und am nachhaltigsten von der forensischen Psychiatrie. Sie nicht zu behandeln bedeutet, sie um ihre Zukunftschancen als Bürger in Freiheit zu bringen. Umso schwerer wiegt, dass genau jene insgesamt gut zu behandelnde Patientengruppe seit Jahren zunehmend forensifiziert wird. Schanda (2011) weist auf ein komplexes Gemenge von Ursachen hin und verweigert eine monokausale Begründung. Sicher ist aber, dass die Reaktionen der allgemeinen Psychiatrie auf gefährliches oder auch bedrohliches Verhalten akut Schizophrener - um es neutral zu sagen - sensibler geworden sind und die Forensik offenbar zum Spezialisten wird für sozial auffälliges, Angst erzeugendes Verhalten und Krankheit.


Wann Zwangsbehandlung?

Der Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 23.3. 2011 (2 BvR 882/09), demzufolge die Zwangsbehandlung mit Antipsychotika bei behandlungsunwilligen, krankheitsuneinsichtigen Patienten im psychiatrischen Maßregelvollzug als schwerwiegender Eingriff in das Grundrecht aus Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) angesehen wird, ist auch aus psychiatrischer Sicht zu begrüßen. Besonders wird auch auf das Freiheitsinteresse des Untergebrachten abgezielt, zu dessen Erreichung der Einsichtsfähigkeit vorübergehend eine Zwangsbehandlung erforderlich sein kann.

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) hat die Stärkung des Patientenwillens und der Patientenautonomie ausdrücklich begrüßt. Ich denke vielmehr, dass sogar die Institution forensische Psychiatrie, die den schlechten Ruf der Zwangsbehandlungsanstalt genießt, letztlich sogar in ihrem Ansehen und Auftrag geschützt wird. Dass allerdings der Schutz Dritter vor gefährlichen Straftaten durch die Unterbringung selbst abgewendet werden kann, greift etwas kurz, denn auch Kliniken selbst können Tatorte werden. Personal kann von Patienten angegriffen und geschädigt werden. Unbehandelte Patienten können somit unverschuldet einer längeren, nicht eben menschenwürdigeren Isolation in so genannten besonders gesicherten Unterbringungsräumen unterzogen werden. Auch eine Fixierung stellt eine sehr eingreifende und potenziell durchaus als entwürdigend zu empfindende Maßnahme dar, die vor allem die Krankheit als Ursache der aktuellen Krisensituation nicht kuriert. Die DGPPN weist ausdrücklich darauf hin, dass die meisten schizophrenen Patienten die von ihnen ausgehende Gewalttätigkeit zu einem späteren Zeitpunkt durch die Behandlung als wesensfremd, als ihnen nicht gemäß, beurteilt und erkennen kann. In der Akutphase selbst kann der Patient die ihm zustehende Hilfe nicht einfordern. Wird ihm die Hilfe nur in der Akutphase zuteil und verschlechtert der Zustand sich nach Abklingen der Akutmedikation wieder, gibt es eine fachlich unsinnige Schiffschaukelbewegung medizinischer Maßnahmen, in der letztlich dem Patienten eine Heilbehandlung vorenthalten wird. Es ist völlig unverständlich, dass die Zwangsbehandlung als schwerer Eingriff in das Grundrecht aus Artikel 2 GG gesehen wird, die Fixierung oder die Isolation aber als alternative Mittel favorisiert werden. Bei allem Respekt: Wer das so sieht, hat keine Ahnung. Es wäre so, als ob man mit einem eitrigen Zahn zum Zahnarzt ginge und der einen auf dem Behandlungsstuhl festschnallt und dann nach Hause geht. Der behandelnde Arzt muss medizinischer Anwalt des Patienten sein dürfen, solange der Patient nicht selbst entscheiden kann. Scharf kritisiert die DGPPN, dass Ärzte gegebenenfalls somit zur unterlassenen Hilfeleistung gezwungen werden könnten.

Das Urteil des BVerfG hat auf das Maßregelvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen (MRVG NW) keine Auswirkungen. Es besteht unverändert die Möglichkeit, bei akuter Fremd- und Eigengefährdung notfallmäßig auch gegen den Willen des Patienten zu medizieren. Es hat aber in Nordrhein-Westfalen nie die Möglichkeit bestanden, chronisch kranke Schizophrene gegen ihren Willen zwangsweise zu behandeln, um damit zum Beispiel dem Zweck der Maßregel der Wiedereingliederung in die Gesellschaft nachkommen zu können.

Mir ist wichtig, dass wir in der forensischen Psychiatrie beim Thema Zwang nur über zwei Aspekte reden können: Der Landesbeauftragte für den Maßregelvollzug hat zusammen mit den Direktoren der beiden Landschaftsverbände ausgeführt, wann Ärzte in der forensischen Psychiatrie zwangsweise behandeln dürfen. Als Tatbestände, die eine Zwangsbehandlung nach dem § 17 Abs. 3, 5 MRVG NW rechtfertigen, gelten nur jene, die bei Lebensgefahr, schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des Patienten oder für die Gesundheit anderer Personen vorgenommen werden.

Als Beispiele für Lebensgefahr gelten jene Störungen, durch die der Tod unmittelbar eintreten kann oder aber durch die eine Schädigung mit potenziell tödlicher Wirkung gesetzt wird, also im Wesentlichen suizidale Krisen. Ferner besteht eine Erlaubnis zur Zwangsbehandlung bei schwerwiegender anderer gesundheitlicher Schädigung mit bleibenden Schäden. So erinnere ich mich an einen Patienten, der sich im Rahmen seiner Psychose mit der Hand ein Auge enukleiert hatte und dies am anderen Auge auch versuchte. Schwere aggressive Übergriffe gegen Dritte können ebenfalls als Anlass zur Zwangsmedikation gewertet werden.


Wann muss die Zwangsbehandlung ein Ende haben?

Wenn ein Patient infolge der Medikation in einen Zustand der Reflexionsfähigkeit gelangt, in dem er selbst eine Entscheidung treffen kann für oder gegen ein Leben in der akuten Krankheit, dann muss diese Entscheidung des Patienten auch vom Psychiater respektiert werden, sofern der Patient nicht dadurch in eine Situation kommt, in der er krankheitsbedingt - und nicht bilanzierungsbedingt - sich oder andere schädigt. Im konkreten Fall würde dies für die forensische Psychiatrie auch bedeuten, ihren Auftrag der Rehabilitation zurückstellen zu müssen.

Entscheidend sind die selbst- oder fremdschädigenden Verhaltensweisen infolge eines psychopathologischen Krankheitsbildes, das eben genau jene freiheitliche Willensbildung verunmöglicht. Es würde jetzt zu weit führen, die Diskussion auf die verzerrten Körperschemata von Anorektikerinnen auszudehnen, aber auch sie haben ab einer gewissen Schwere der Erkrankung keine mentale Überstiegsfähigkeit mehr. Auch sie können gewissermaßen intellektuell nicht mehr auf das andere Ufer der Meinungsbildung schwimmen.

Würde man in der Forensik auf jede Form der Zwangsbehandlung schizophrener Menschen verzichten, würde die Forensik zur reinen Verwahrpsychiatrie des 18. Jahrhunderts verkommen. Ethisch ist das nicht. Für die Menschenwürde bedeutet es ein Hohn.

Faktisch hat die Zwangsbehandlung in unserer Klinik kaum eine Bedeutung. In den letzten fünf Jahren gab es einen einzigen Patienten in der Abteilung II - Klinische Psychiatrie - am LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt, der zwangsmediziert worden ist. Im Regelfall gelingt es mit sehr viel Geduld, die Patienten dann doch dazu zu bewegen, die Medikation zu akzeptieren, und nicht selten erkennen die Patienten dann später, dass sie gut daran getan haben, sich auf die Behandlung einzulassen und dem Arzt einen gewissen Vertrauensvorschuss zu geben.

Dennoch: Wer sich als Patient im psychopathologischen Zustand des »informed decision making« gegen eine Weiterbehandlung entscheidet, der hat ein Anrecht auf das Absetzen der Medikation. Einschränkend muss für die Forensik gelten: Die Zunahme von Gefährlichkeit, die zu einer dauerhaften Isolation führen würde, muss ein Grund für die Medikation sein.

Ich frage mich gegenwärtig, ob man nicht auch eine Patientenverfügung zur Sicherstellung einer Zwangsbehandlung aufsetzen könnte und dies für einige Patienten im Ernstfall wirklich segensreich wäre. Patientenverfügungen dienen ja nicht nur dazu, sich vor Ärzten zu schützen, sondern sie könnten auch dazu dienen, sich im Falle eines Falles gegen eigene, krankheitsbedingte Unsinnigkeiten abzusichern.


Dr. med. Nahlah Saimeh, Psychiaterin, ist Chefärztin am LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt. Bei dem Beitrag handelt es sich um eine bearbeitete Fassung ihres Referats auf oben genannter Veranstaltung. E-Mail-Kontakt: Nahlah.Saimeh@wkp-lwl.org

Literatur bei der Verfasserin.

Hinweis: Zur Dokumentation des Symposiums siehe
www.konfliktforscher.de

*

Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 137 - Heft 3, Juli 2012, Seite 13 - 17
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der
Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.psychiatrie.de/dgsp
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Juli 2012