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KOMMENTAR/001: Die Entsorgungsgesellschaft - Transplantationslogik ... (SB)



Kommentar zur anstehenden Abstimmung über die Widerspruchslösung im Deutschen Bundestag am 16. Januar 2020

Die Zahl der Organspenden in Deutschland muß erhöht werden!

Diese Forderung geistert seit November 2018 durch Politik und Medien. Die Frage ist: Warum eigentlich?

Aus humanen Gründen? Weil bundesweit etwa 9400 registrierte Patienten auf ein lebensrettendes Organ warten und im Jahr 2018 nur 955 Menschen Organe gespendet haben, obwohl das schon 20 Prozent mehr Spender waren als im Jahr zuvor?

Aus Gründen der Konkurrenz? Weil Deutschland, was die Organspendebereitschaft der Bevölkerung angeht, im Verhältnis zu anderen europäischen Ländern vergleichsweise schlecht abschneidet und nur 10 Menschen auf 1 Mio. Einwohner spendewillig sind? In Spanien sind es immerhin 47.

Oder vielleicht doch aus pekuniären Gründen? Weil der Markt, der sich aus den Organspenden sowie den technischen Erfordernissen und Voraussetzungen für eine florierende Transplantationsmedizin ergibt, milliardenschwer zu werden verspricht, wenn er es nicht schon ist? Viele andere Länder, darunter auch China, sind da meilenweit voraus.

Was also tun, Deutschland?

Der Blick über die Grenzen nach Spanien und eine Analyse der dortigen Verhältnisse und Regelungen fördert drei wesentliche Gründe für seine Vorreiterrolle in Europa zu Tage:

Grund Nr. 1
Die Struktur der Krankenhäuser ist in Spanien eine andere. Die Organspenden sind auf wenige Kliniken konzentriert, die dafür besonders gut ausgestattet sind. Ärzte und Pflegende auf den Intensivstationen arbeiten eng mit Mitarbeitern der für die Organspende zuständigen Organisationen zusammen. Dazu kommt, daß es in spanischen Krankenhäusern zur Routine gehört, bei sterbenden Patienten an die Möglichkeit einer Organspende zu denken.

Was diesen Punkt angeht, wurde in Deutschland ohne große mediale Öffentlichkeit bereits mit dem am 1. April 2019 in Kraft getretenen "Zweiten Gesetz zur Änderung des Transplantationsgesetzes - Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende" (GZSO) Abhilfe geschaffen. Diese Gesetzesänderung, mit der die organisatorischen, strukturellen und logistischen Voraussetzungen für ein optimiertes und beschleunigtes Transplantationsverfahren auf den Weg gebracht wurden, ist für die gesetzliche Krankenversicherung mit einem zusätzlichen jährlichen Kostenaufwand in Höhe von rund 1,5 Millionen Euro verbunden.

Unter anderem sieht das Gesetz vor, einen neurochirurgischen und neurologischen konsiliarärztlichen Rufbereitschaftsdienst einzurichten, damit gewährleistet ist, daß regional und flächendeckend in jedem Entnahmekrankenhaus jederzeit qualifizierte Ärzte für die Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Hirntods zur Verfügung stehen. Und die Entnahmekrankenhäuser sind angehalten, eng mit den Transplantationsbeauftragten zusammenzuarbeiten, denen freier Zugang zu den Intensivstationen und den Patientenakten gewährt wird. So kann ggf. schon bevor jemand stirbt, dafür gesorgt werden, daß die medizinischen Voraussetzungen für eine Transplantation gegeben sind, d.h. der potentielle Organspender wird noch zu Lebzeiten intensivmedizinisch so betreut und behandelt, daß er letztlich als Hirntoter mit einem künstlich am Leben erhaltenen Körper endet.

Grund Nr. 2
Bezüglich der Organ- und Gewebespenden gilt in Spanien ebenso wie in genannten 22 weiteren europäischen Ländern die Widerspruchslösung, die besagt, daß Organe zur Transplantation entnommen werden dürfen, sofern die verstorbene Person einer Organspende zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen hat.

Und auch hier soll nun in Deutschland nachgebessert werden. Daher wird morgen im Bundestag darüber abgestimmt, ob in Zukunft weiterhin eine "Entscheidungslösung", nach der Organe und Gewebe nach dem Tod nur dann entnommen werden dürfen, wenn die verstorbene Person dem zu Lebzeiten zugestimmt hat, jedoch mit einer erweiterten Informationspflicht gelten soll oder aber die "Doppelte Widerspruchslösung".

Letztere sieht vor, ein Register zu erstellen, in das Bürger ihre Erklärung zur Organ- oder Gewebespende eintragen lassen können. Wer sich nicht registrieren läßt, gilt automatisch als potentieller Spender. Der für die Entnahme verantwortliche Arzt wird dazu verpflichtet, durch eine Anfrage beim Register festzustellen, ob dort eine Erklärung hinterlegt wurde. Darüber hinaus muß der Arzt den nächsten Angehörigen darüber befragen, ob ihm ein schriftlicher Widerspruch oder ein der Organentnahme entgegenstehender Wille des möglichen Spenders bekannt ist. Die Verantwortung, ggf. einer Organentnahme zuzustimmen oder aber sie abzulehnen, wird den Angehörigen abgenommen, denn ein Mitsprache- oder Vetorecht haben sie bei dieser Regelung dann nicht mehr. [1]


Da beide Gesetzesentwürfe, über die nun abgestimmt wird, mit der Einrichtung eines zentralen Registers, in das jeder selbst eintragen kann, ob er mit einer Organentnahme einverstanden ist oder nicht, einhergehen, wird mit dieser Gesetzesänderung ganz unabhängig vom Ergebnis der Abstimmung eine weitere wesentliche Voraussetzung für ein unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten optimiertes Organspende- und Transplantationsverfahren etabliert.

Eine echte, seriöse Alternative, wie beispielsweise BioSkop e.V. sie fordert, steht nicht auf der Agenda:

Notwendig ist eine gesetzliche Regelung, die eine persönliche Zustimmung vor jeder Organentnahme zwingend voraussetzt - und zwar ohne jede Ausnahme. Dies würde endlich auch stellvertretende Explantations-Entscheidungen von Angehörigen hirntoter Menschen kategorisch ausschließen, die ja bisher in den meisten Fällen getroffen werden. "So wäre zwar die Transplantationsrate nicht zu erhöhen, aber dem zweckrationalen Umgang mit Sterbenden, der aus allen derzeit politisch verhandelten Vorschlägen spricht, Einhalt geboten", kommentiert Erika Feyerabend vom BioSkop e.V. die aktuellen politischen Initiativen im Bundestag. [2]

Herztoddiagnostik - die Aufholjagd Deutschlands ist noch nicht zu Ende ...

Grund Nr. 3
Bleibt noch der dritte wesentliche Grund für die große Anzahl der Organspenden in Spanien: Entscheidende Voraussetzung für eine Organspende ist nicht, daß zwei Ärzte unabhängig voneinander den Hirntod feststellen, sondern für die Freigabe der Organe reicht ein mehrminütiger Herzstillstand. Diese Maßnahme beschert Spanien etwa ein Viertel seiner Organspenden.

Beim Herztod darf nach einer gewissen Wartezeit nach dem Herzstillstand eine Organentnahme vorgenommen werden, auch wenn der Patient noch reanimiert werden könnte und das Gehirn noch funktioniert. Dieses Todeskriterium gilt z.B. in Spanien, Italien, Frankreich, Belgien oder der Schweiz. Somit kann ein Patient in einem Land schon legal für tot erklärt werden, während er woanders noch als Lebender mit allen Grundrechten gilt. [3]

Man kann gespannt sein, wann Deutschland auch hier nachbessert, denn schon jetzt erheben sich erste Stimmen, die für eine Herztoddiagnostik plädieren. So will der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU), Prof. Paolo Fornara, der auch Mitglied der Ständigen Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer ist, "einen Tabubruch wagen" und forderte bereits im Februar 2018 ...

[...] eine seriöse Diskussion zur Herztoddiagnostik. In Deutschland ist eine Organentnahme nur erlaubt, wenn zwei Ärzte unabhängig voneinander den Hirntod eines Patienten festgestellt haben. Bei herztoten Menschen wäre das nach deutschem Transplantationsgesetz illegal. Bei den Nachbarn in Österreich, der Schweiz, Belgien und den Niederlanden, aber auch in Spanien und weiteren Ländern ist die Diagnose des Herztods dagegen als Bedingung für die Organentnahme seit Jahren akzeptiert. Wenn dort nach allen Reanimationsversuchen das EKG zehn Minuten lang nur eine Nulllinie anzeigt, gilt der Patient als tot. "Selbst wenn es zwischen diesen Ländern und Deutschland tatsächlich fundamentale medizinische, ethische oder rechtliche Unterschiede geben sollte, dann dürfen wir die Herztoddiagnostik pauschal nicht einfach ablehnen, sondern müssen konstruktiv darüber diskutieren", so der Direktor der Universitätsklinik und Poliklinik für Urologie Halle. [4]


Trotz der nun seit Jahren in Deutschland geführten Debatte um die Freiwilligkeit einer Organspende und die neuen Gesetzesentwürfe blieben wesentliche Fragen unberücksichtigt. Als Beispiele seien hier die berechtigten Zweifel an der Zulässigkeit des "Hirntod"-Konzepts, die Zuteilung von Organen, fremdbestimmte Organentnahmen, intransparente Strukturen im Transplantationswesen, Probleme bei der "Lebendorganspende" sowie Regelverstöße und ihre Ursachen genannt.

Im Übrigen und vielleicht im Wesentlichen bleibt in einer themengerechten und gültigen Diskussion gerade angesichts notwendiger pharmakologischer und allgemein medizinischer Begleit- und Dauerversorgung der Eindruck nicht aus, daß es sich bei der Transplantationsmedizin eher um ein berufsdifferenzierendes und institutionsentuferndes Verfahren als um eine Therapieforschung handelt, die den Ansprüchen humanistisch rationaler Zielsetzungen und Ergebnisanforderungen gerecht werden könnte.

Eine absehbare Zukunft, die unter anderem ernährungs- und gesundheitstechnisch ebenso wie kulturell von nachlassendem Fleisch- und Giftekonsum bestimmt sein sollte, und die deshalb dem Menschen zu einem Mehr an geistigem und seelischem Entfaltungsraum und Wohlbefinden verhelfen könnte, würde unseren Artgenossen dann auch gewiß eine medizinwissenschaftliche Fortschreibung frankensteinscher Prägung ersparen.


Fußnoten:

[1] Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → REDAKTION
BEITRAG/002: Die Entsorgungsgesellschaft - vor dem Grabe auf die Waage ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/redakt/mzrb0002.html

[2] BioSkop-Pressemitteilung vom 14.01.2020
http://www.bioskop-forum.de

[3] Medizin-Aspekte: "Organspende-Regelungen in Europa: Vorsicht bei Urlaubsreisen"
https://medizin-aspekte.de/organspende-regelungen-in-europa-vorsicht-bei-urlaubsreisen_52038-44017/

[4] Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) vom 26.02.2018: "Im Namen unserer Patienten!" - DGU-Präsident Prof. Fornara fordert Systemkorrekturen bei der Organspende
https://www.urologenportal.de/pressebereich/pressemitteilungen/presse-aktuell/presse-archiv/pressemitteilungen-aus-dem-jahr-2018/im-namen-unserer-patienten-dgu-praesident-prof-fornara-fordert-systemkorrekturen-bei-der-organspende-26022018.html


15. Januar 2020


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