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KOMMENTAR/002: Die Entsorgungsgesellschaft - Alternativforschung ... (SB)



Kommentar zum Ergebnis der Abstimmung über die Widerspruchslösung im Deutschen Bundestag am 16. Januar 2020

Abstimmung zur Organspenderegelung eine Farce:
Doppelte Widerspruchslösung abgelehnt, Organspendekampagne dennoch erfolgreich

Große Erleichterung bei allen Menschen, die der Transplantationsmedizin kritisch gegenüberstehen: Organspenden bleiben in Deutschland auch zukünftig nur mit ausdrücklicher Zustimmung erlaubt.

Nach einer letzten, emotionsgeladenen Debatte wurde am 16. Januar 2020 im Bundestag abgestimmt und entschieden, daß niemand als Organspender gelten soll, nur weil er nicht widersprochen hat. Trotz der an das Mitleid und die Moral der Abgeordneten appellierenden Argumentation des Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU) und die auf die wirtschaftlichen und politischen Sachzwänge verweisende Rede des Gesundheitsexperten Karl Lauterbachs (SPD) ...

[...] Das Problem ist nicht die Organisation der Organspende. Die ist in Deutschland nicht schlechter als anderswo. Und es ist ja auch ganz klar, egal wie ich es organisiere - ich kann es gut machen oder schlecht - wenn ich das Organ nicht habe, macht die Organisation keinen Unterschied. [1]

... votierten 379 Abgeordnete gegen die von den beiden propagierte "Doppelte Widerspruchslösung", 292 Parlamentarier befürworteten diese und drei enthielten sich. Nach diesem nun abgelehnten Gesetzentwurf sollte künftig eine Organentnahme grundsätzlich zulässig sein, es sei denn, der Betroffene hätte zu Lebzeiten seinen Widerspruch erklärt. Ausnahmen sollten lediglich für Personen gelten, die außer Stande sind, Wesen, Bedeutung und Tragweite einer Organspende zu erkennen und ihren Willen danach auszurichten. Angehörigen sollte kein Entscheidungsrecht zukommen.

Von diesem Gesetzentwurf versprachen sich die Befürworter eine deutliche Erhöhung der Organspenden. Wie Karl Lauterbach in seiner Rede im Bundestag vor der Abstimmung am 16.1.2020 erläuterte, sei die Spendebereitschaft in Deutschland durchaus hoch: 85 Prozent der Menschen seien der Organspende positiv gegenüber eingestimmt. Jedoch hätten nur sehr wenige, weniger als ein Drittel, einen Organspenderausweis verfügbar. Dazu käme, daß in weniger als 20 Prozent aller Fälle dieser Ausweis im Ernstfall eine Rolle spiele, in 80 Prozent der Fälle sei die Entscheidung eine Angelegenheit der Ärzte und der Angehörigen. Und mehr als die Hälfte stimme dann nicht zu. [2]

Dieses große Potenzial sollte nach dem Willen des Gesundheitsministers mit der "Doppelten Widerspruchslösung" erschlossen werden. Laut einer Studie, so wurde behauptet, hätte sich die Anzahl der Organspenden in anderen Ländern, in denen die Widerspruchslösung bereits eingeführt worden sei, um 20 bis 30 Prozent erhöht. Daß dem nicht immer so ist, zeigt allerdings das Beispiel Bulgarien. Dort liegen die relativen Spendenzahlen trotz Einführung der Widerspruchslösung mit 7,3 Organspendern pro eine Millionen Einwohner noch immer um 2 Millionen niedriger als in Deutschland.

Die USA hingegen, also das Land mit der fünfthöchsten Organspendezahl weltweit (32 Spender pro eine Millionen Einwohner), weist, obwohl das dortige System der deutschen Zustimmungslösung ähnelt, höhere Spendenzahlen auf als Frankreich oder Österreich, wo die Widerspruchslösung gilt.

Im Vergleich mit Deutschland sind die Spenderzahlen der USA mehr als drei Mal so hoch. Wie kann das angehen? Wurde doch in der politischen Debatte immer wieder behauptet, daß sich mit einer Zustimmungslösung, also mit der Regelung, daß, wer Organspender werden will, dies zu Lebzeiten dokumentieren oder durch seine Angehörigen nach dem Tod entscheiden lassen muß, keine wesentliche Erhöhung der Spendebereitschaft bewirken läßt.

Ein möglicher Grund ist laut Wissenschaftlichem Dienst des Bundestages die einfache und wirkungsvolle Eintragung als Organspender/-in. Anders als in Deutschland kann man sich in den USA in einem Organspenderegister eintragen oder die Spendenbereitschaft im Führerschein vermerken lassen. Regelmäßige Aufklärungskampagnen von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie "Donate Life" wollen das Thema Organspende im Bewusstsein der Gesellschaft verankern - mit Erfolg. 58 Prozent der US-Amerikaner/-in haben sich als Organspender/-in registriert. Den Krankenhäusern wird nicht nur mehr Personal für Transplantationen zur Verfügung gestellt, sondern auch der durchaus kritisch zu sehende finanzielle Anreiz gegeben, eine Mindestzahl an Organtransplantationen durchzuführen: Unterschreiten sie diesen Wert oder begehen medizinische Fehler, zahlen die Krankenkassen weniger Geld. [...]

Entscheidend neben der Frage nach Zustimmung oder Widerspruch erscheinen somit gut funktionierende Strukturen im Organspende- und Transplantationssystem, die potentielle Organspender/-innen erkennen, entscheidende Informationen bereitstellen und es Menschen möglichst einfach machen, ihren Willen wirkungsvoll zu dokumentieren. [3]

Bleibt also nun nach der Entscheidung des Bundestags für die "Erweiterte Zustimmungslösung" alles beim Alten?

Mitnichten. Der Schein trügt, denn die wesentlichen Ziele dieser langfristig und strategisch angelegten Kampagne zur Förderung der Organspende in Deutschland konnten durchgesetzt werden. Da dienten die heftig diskutierten Gesetzentwürfe und die medienwirksam platzierte Abstimmung im Bundestag lediglich als Mittel zum Zweck.

  • Der von Jens Spahn geforderten Einführung einer "Kultur der Organspende" in Deutschland wurde der Weg geebnet. Eineinhalb Jahre öffentliche Diskussion und mediale Aufmerksamkeit haben dazu geführt, daß das Thema Organspende den Bürger erreicht hat, und eine Reihe weiterer Maßnahmen wird, ähnlich wie in den USA, fortan dafür sorgen, daß das auch so bleibt. Die Abgabe einer Erklärung zur Organ- und Gewebespende wird auch in den Ausweisstellen möglich sein, die zudem die Aufgabe erhalten, die Bürger künftig auf das Register und die Möglichkeit der Entscheidung hinzuweisen. Ferner werden Hausärzte in die Beratung zur Organ- und Gewebespende mit einbezogen. Vorgesehen ist, daß sie ihre Patienten bei Bedarf aktiv alle zwei Jahre ergebnisoffen über die Organ- und Gewebespenden beraten und sie zur Eintragung in das Register ermutigen sollen. Zudem wurde beschlossen, die Organ- und Gewebespende in der ärztlichen Ausbildung verstärkt zu thematisieren und die Aufklärungsunterlagen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zur Organ- und Gewebespende alle vier Jahre zu evaluieren. [4]
  • Die Infrastruktur für eine optimierte Organisation der Organspende wurde im Zuge der Kampagne mit dem am 1. April 2019 ohne große mediale Aufmerksamkeit in Kraft getretenen "Zweiten Gesetz zur Änderung des Transplantationsgesetzes - Verbesserung der Zusammenarbeit und der Strukturen bei der Organspende" (GZSO) installiert und die entsprechenden Gelder freigesetzt.
  • Und zudem wurde, da diese Maßnahme Bestandteil beider Gesetzesentwürfe war, die Einrichtung eines bundesweiten Onlineregisters beschlossen. In dieses sollen die Menschen selbst eintragen, ob sie sich als Organspender zur Verfügung stellen - mit der Möglichkeit, ihre Entscheidung ohne Weiteres zu ändern. Die Einführung dieser Registrierungsmöglichkeit, die für die Bürgerinnen und Bürger einfach und sicher erreichbar ist und gleichzeitig den Krankenhäusern im Bedarfsfall einen schnellen Zugriff gewährt, stand also niemals wirklich zur Debatte.

Und so erklärt sich auch die allgemeine fraktionsübergreifende Zufriedenheit mit dem Ergebnis der Abstimmung, obwohl die doppelte Widerspruchslösung abgelehnt wurde und sich die bisher bereits in Deutschland gültige, nun aber um die oben genannten Maßnahmen erweiterte Zustimmungslösung mit einer deutschlichen Mehrheit von 432 Ja-Stimmen zu 200 Gegenstimmen und 37 Enthaltungen durchgesetzt hat. Denn das vorläufige Etappenziel der großangelegten Organspendekampagne zur Förderung der Spenderzahlen wurde erreicht.

Die Euronews melden am 16.1.2020:

Spahn nahm seine Niederlage gelassen. "Dass wir so einen großen Konsens im deutschen Bundestag, auch einen gesellschaftlichen Konsens pro Organspende haben, das ist nicht selbstverständlich", so Spahn nach der Abstimmung. [5]

Mit Blick auf die seit Jahren konsequent und nachhaltig politisch wie wirtschaftlich beförderte "Kultur der Organspende" in Deutschland, sollte allerdings folgende Frage erlaubt sein:

Wäre es in Anbetracht der zumeist unerwähnt und unbewertet gebliebenen Tatsache, daß Transplantationsempfänger in den meisten Fällen bei fortgesetzter Funktionserhaltung der transplantierten Organe und Gewebe durch pharmakologische und klinische Mittel unabsehbar dauerhaft begleitet werden müssen, nicht naheliegend, den Fokus auf die Finanzierung entsprechender Körperreparaturforschung ohne Transplantationsanwendungen zu legen, und darüber hinaus andere Heilverfahren nachhaltiger zu verfolgen, die alternativ in Betracht kämen?


Fußnoten:

[1] Rede von Karl Lauterbach (SPD) vor der Abstimmung über die doppelte Widerspruchslösung in der fraktionsoffenen Aussprache im Bundestag zu den Gesetzentwürfen über die Organspende am 16.1.2020.

[2] Phoenix: "Karl Lauterbach zur Organspende am 16.01.20"
https://www.youtube.com/watch?v=V2CaRTq_2jU

[3] Bundeszentrale für politische Bildung: "Organspenderegelungen in Europa"
https://www.bpb.de/dialog/netzdebatte/285361/organspenderegelungen-in-europa

[4] Schattenblick -> INFOPOOL -> PARLAMENT -> FAKTEN -> BUNDESTAG/8578
http://www.schattenblick.de/infopool/parl/fakten/pafb8578.html

[5] Zitat Euronews vom 16.1.2020
https://de.euronews.com/2020/01/16/sind-wir-bald-alle-automatisch-organspender?utm_source=newsletter&utm_medium=de&utm_content=sind-wir-bald-alle-automatisch-organspender&_ope=eyJndWlkIjoiOWQ4OTk0Y2M5NzY3MTVlYWZjYzBjZTE5N2VhYmFmOWYifQ%3D%3D

17. Januar 2020


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