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BERICHT/008: Ersatzteillager Mensch - Eltern am Abgrund (SB)


Gisela Meyer von der Initiative "Kritische Aufklärung über Organtransplantation"

Vortrag und Diskussion am 24. März 2012 in Essen-Steele



Auf der Tagung "Organspende - gesellschaftlich umstritten, öffentlich undurchschaubar, politisch gefördert" im Kulturzentrum GREND in Essen gab Gisela Meyer von der Elterninitiative "Kritische Aufklärung über Organtransplantation" [1] in einem Vortrag Einblick in die Situation von Eltern, die eingewilligt haben, daß ihrem Kind Organe entnommen werden. Auf Grundlage persönlicher Erfahrung schilderte sie eindrucksvoll ihre Erlebnisse, die niemanden unberührt lassen dürften, der sich diesem erschütternden Bericht vorbehaltlos öffnet. Wie die Referentin eingangs hervorhob, sei es für sie eine ungewöhnliche Situation, auf dieser Tagung vor einem wohlwollenden Publikum zu sprechen. In aller Regel werde sie auf Veranstaltungen als interessengeleitete Betroffene vorgeführt, die angeblich nur aus ihrer subjektiven Sicht eine einseitige Darstellung geben könne, weil sie den Tod ihres Kindes nicht verkraftet habe. Wenn sie hier die verschwiegene Seite der Transplantationsmedizin zur Sprache bringe, erhebe sie die Stimme für all jene, die sich kein Gehör verschaffen können: Die Sterbenden, denen man Organe entnommen hat, wie auch ihren Angehörigen, die darunter litten und verstummten. Bei alldem empfinde sie tiefes Mitgefühl für alle Menschen, die ein geschädigtes Organ haben und auf Transplantation hoffen, weil man sagt, es sei ihre einzige Chance. Ihre Kritik richte sich nicht gegen sie, sondern gegen eine Medizin, die das Leid zweier Menschengruppen in unseliger Weise miteinander verknüpft.

Gisela Meyer beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Gisela Meyer
Foto: © 2012 by Schattenblick

Um die Ausgrenzung der Elterninitiative seitens der Transplantationsmediziner zu dokumentieren, schilderte Gisela Meyer an verschiedenen Stellen ihres Vortrags aufschlußreiche Begegnungen. So habe sie jüngst auf dem Ärztetag in Frankfurt Professor B. [2] von der dortigen Uniklinik nach dessen Redebeitrag zum Thema "Die Praxis der Organtransplantation" angesprochen. Er hatte eine Erfolgsbilanz präsentiert und hervorgehoben, wie einfühlsam er Patienten auf das Notwendige vorbereite. Als sie zu bedenken gab, daß diese Medizin auch eine andere Seite habe, unterbrach er sie mit der barschen Frage, was sie ihm vorwerfe. Als sie ihn an die Herkunft der Organe erinnerte, durchbohrte er sie regelrecht mit seinem Blick. Sie ließ sich jedoch nicht einschüchtern, sondern fragte, warum er sie mit einem derart bösen Blick anschaue. Als sich daraufhin eine andere Frau einmischte und zu deeskalieren versuchte, verschwand er ohne ein weiteres Wort.

Nach dieser Einleitung trug die Referentin Passagen jener Ereignisse vor, die ihr Leben erschüttert und von Grund auf verändert hatten. Dabei kontrastierte sie die damaligen Geschehnisse mit späteren Erkenntnissen, so daß sich für ihre Zuhörer ein nachvollziehbares und konsistentes Bild ergab. Am 25. März 1991 verunglückte ihr 15jähriger Sohn Lorenz beim Skilaufen. Er stürzte, schlug mit dem Hinterkopf auf einen Stein auf und wurde bewußtlos ins Krankenhaus gebracht. Nach 18 Stunden wurde den Eltern mitgeteilt, daß er tot sei. Am 27. März fand eine Organentnahme statt. Die Angehörigen wurden von einem Moment auf den andern aus einem glücklichen Familienleben mit vier Kindern herauskatapultiert und ins Bodenlose gestürzt. Wie Gisela Meyer berichtete, wurden sie und ihr Mann unbarmherzig mit dem Thema Organspende überrollt. Geraume Zeit danach habe natürlich der Verlust ihres Sohnes im Vordergrund gestanden, während sie die Organentnahme nicht hochkommen ließ, da sie fürchtete, andernfalls verrückt zu werden. Auf Dauer drängten jedoch die Fragen immer mehr hervor: Was war mit Lorenz geschehen? Was hatten sie als Eltern zugelassen? Sie hatten sich nicht von ihm verabschiedet, waren regelrecht davongelaufen.

Ihr sei es trotz einfühlsamer Begleitung durch eine Pfarrerin mehrere Jahre nicht möglich gewesen, darüber zu sprechen. Immer wieder habe sie einen starken Sog verspürt, ihr Leben zu beenden. Versagens- und Schuldgefühle wurden immer stärker, worauf sie nach zwei Jahren in der Furcht, das Unglück in der Familie noch zu vergrößern, therapeutische Hilfe suchte. Als Mutter von vier Kindern, ausgebildete Krankenschwester und Lehrerin für Krankenpflege sei sie weder psychisch labil gewesen, noch könne sie den Vorwurf gelten lassen, sie gönne anderen das Leben nicht. Ihr sei vielmehr immer klarer geworden, welche Ungeheuerlichkeit mit ihr und ihrem Kind geschehen war. Um die Tragweite dessen, was man ihr geraubt hatte, deutlich zu machen, erzählte sie, daß zwei Jahre zuvor ihr Bruder gestorben war, den sie sehr geliebt hatte. Er brachte den Wunsch zum Ausdruck, nicht alleingelassen zu werden, und so begleitete ihn die Familie und hatte genügend Zeit für den endgültigen Abschied. Das alles sei schwer genug gewesen, doch habe es sie in der Trauer getröstet und über den Verlust hinweggeholfen. Ehrfurcht, Fürsorge, Schutz, Behutsamkeit, Schmerzlinderung, liebevolle Begleitung, Zeit für den Abschied, das Begreifen des Totseins, das Wahrnehmen des Gesichtsausdrucks eines Toten, der eine Botschaft sein kann - all das habe in der Transplantationsmedizin überhaupt keinen Stellenwert. Im Gegenteil, es stört, es darf nicht sein.

In Vorträgen, die ihr Mann später hielt, sagte er, daß er über das Kind, den Unfall und den Tod gut sprechen konnte. Das habe ihm geholfen. Ganz anders verhielt es sich mit der Organentnahme. Die habe er verdrängt. Darüber hatte er jahrelang nicht einmal mit seiner Frau geredet. Er habe sich geschämt und schäme sich noch heute, daß er sich manipulieren und beim Sterben seines Kindes wegschicken ließ, statt bei ihm zu bleiben bis zuletzt. Er werfe sich vor, damals versagt und dem Druck nicht standgehalten zu haben.

Erst 1997, sechs Jahre nach dem Tod ihres Sohnes, waren die Eltern in der Lage, aus ihrer Ohnmacht herauszutreten und aktiv zu werden. Zuerst versuchten sie, an Unterlagen über das Geschehen zu kommen. Der erste Rechtsanwalt riet der Mutter, sie solle sich lieber in psychiatrische Behandlung begeben. Ein zweiter nahm sich dann doch der Sache an. Dies führte dazu, daß einige Dokumente und ein entlarvender Briefwechsel verfügbar gemacht werden konnten. Der älteste, 21 Jahre alte Sohn, der inzwischen selber Arzt geworden ist, fand in den Unterlagen seines verstorbenen Bruders ein Dokument, das die Familie sehr erschütterte. Es war ein neurologischer Befund vom 27. März 1991, bei dem der untersuchende Arzt zu dem Ergebnis kommt, daß kein Nullinien-EEG vorliegt und der Patient auf Schmerzreize reagiert. Am Mittag dieses Tages und damit nur kurze Zeit später wurde die Explantation vorgenommen. Die Eltern hatten die Bedeutung dieses Befunds damals nicht erkannt, da sie nichts über das Konstrukt Hirntod wußten. Arglosigkeit, Ausgeliefertsein und Traumatisierung kennzeichneten die Situation der Angehörigen auf der Spenderseite, und davon lebt die Transplantationsmedizin.

Gisela Meyer beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Streitbar gegen ärztlichen Hochmut
Foto: © 2012 by Schattenblick

Als die Eltern ihren Sohn damals im Krankenhaus sahen, waren sie sehr erleichtert, ihn ohne offensichtliche Verletzungen vorzufinden. Keine Schramme war zu sehen, die Augen waren geschlossen, das Beatmungsgerät war das einzig Bedrohliche. Man begriff nicht die Aussichtslosigkeit seines Zustands, verstand nur, daß er lebt, behandelt wird und die Augen wieder aufmachen wird. Das hoffte die Mutter, während sie in der Nacht von Montag auf Dienstag bei ihm wachte und seine warme Hand hielt. Nach etwa 18 Stunden, während derer sich kein Arzt sehen ließ, erschien der Chefarzt der Intensivstation mit einem weiteren Arzt, worauf die Eltern das Zimmer verlassen mußten. Als die Ärzte kurz darauf wieder herauskamen, teilte der Chefarzt der Mutter mit, daß ihr Sohn leider tot sei. Am nächsten Morgen würden die Apparate abgestellt, und bis dahin möchten die Eltern überlegen, ob Organe gespendet werden können und wenn ja welche, worauf er sie einzeln aufzählte.

Wie die Referentin an dieser Stelle anmerkte, erklären die Transplantationsmediziner heute, daß seither alles viel besser geworden sei. Natürlich hätten sie dazugelernt und seien, so Gisela Meyer, noch infamer geworden. Heute setzten sie Einfühlsamkeit ein und ließen sich mehr Zeit, aber immer mit dem Ziel, an die Organe zu kommen. Dafür werden die sogenannten Koordinatoren eigens geschult. Nach der Todesmitteilung wurde der Sohn damals weiter gepflegt, er bewegte auf äußere Berührung hin sein Bein, bekam einen Hautausschlag auf der Brust, der wieder verschwand. Erst viel später realisierte die Mutter, daß die sogenannte Spenderkonditionierung zu diesem Zeitpunkt schon begonnen hatte - eine Behandlung, die nicht mehr ihrem Sohn, sondern einem fernen Dritten galt. Das alles geschah ohne Erlaubnis der Angehörigen. Es wurden Laborversuche eingeleitet, wozu ein später dazu befragter Arzt erklärte, daß man auf diese Weise Zeit gewinne, falls die Eltern der Organentnahme zustimmen.

Die Ärzte hatten Lorenz bereits das Menschsein abgesprochen, er war für sie zum Restkörper, zum Material geworden, das sie zur Weiterverarbeitung brauchten. Wie ist eine solche Blickveränderung möglich? Vor einigen Jahren hatte Gisela Meyer bei einem Vortrag zur Transplantation einen anwesenden Arzt gefragt, ob er das denn mit seinen eigenen Kindern machen würde, worauf er dies entschieden verneinte. Das käme für seine Kinder nicht in Betracht. In der einschlägigen Literatur werden ähnliche Beispiele von Ärzten geschildert, die erklärten, für sie und ihre Verwandte käme dieses Ausschlachten nicht in Frage. Diese Einstellung sei privat, irrational und nicht näher erläuterbar. Die Referentin fügte als weiteres Beispiel eine Veranstaltung hinzu, die im Februar 2012 in einem Tübinger Gymnasium stattfand. Auf dem Podium saßen drei Transplantationsärzte und ein Herztransplantierter sowie ein ärztlicher Kritiker und Gisela Meyer, wobei sie als einzige kein Mikrophon vor sich stehen hatte. Die gut besuchte Aula jubelte den Befürwortern der Transplantation zu, während man Gisela Meyer vorhielt, sie habe eine veraltete Vorstellung vom Sterben. Sie ging nach der Veranstaltung auf Professor F. [2] aus Berlin zu und fragte ihn direkt, ob er einer Organentnahme bei seinem Kind zustimmen würde. Auf zweites Nachfragen erwiderte er, das sei "problematisch".

Normalerweise geht man mit einem Schwerverletzten oder Sterbenden behutsam um, weil man nicht weiß, was dieser Mensch trotz seines tiefen Komas noch alles empfindet. Im Falle Lorenz Meyers hingegen drängte man die Eltern, sich zu entscheiden, und setzte ihnen eine Frist. Wie die Referentin schilderte, habe sie sich damals wie in einem Schraubstock gefühlt, der sich immer enger um sie schloß. Sie wollte nicht schuldig werden am Tod anderer, wenn sie nicht in die Organentnahme einwilligte, und war unfähig, die Situation zu begreifen. Unter diesem ungeheuren seelischen Druck gaben die Eltern schließlich die Nieren frei.

Heute sei es ihr Anliegen aufzuzeigen, was mit den Angehörigen in ihrem schwächsten Moment geschieht und welche Fallen ihnen gestellt werden. Diese Quälerei unter Ausnutzung einer Schocksituation solle von der Öffentlichkeit in ihrer ganzen Tragweite erkannt werden. Für gewöhnlich gehe man davon aus, daß Menschen in einer Schocksituation besonderer Betreuung bedürfen und keinesfalls zu Entscheidungen gedrängt werden sollten. Hier war es hingegen so, daß ein Seelsorger mithalf, die Eltern zu manipulieren. Später zur Rede gestellt, erklärte er, er habe gar nicht verstanden, warum die Eltern so lange gezögert hätten. Es sei doch gut, Organe zu spenden. Er stand den Eltern nicht bei, sondern diente den Ärzten und unbekannten Dritten. Scheinheilig werde mit Nächstenliebe argumentiert, obgleich die Nächsten der Schwerverletzte und seine Angehörigen sind, die mißbraucht werden. Hätte ihr Sohn sprechen können, hätte er bestimmt gerufen: Laßt mich nicht allein! Er mußte die Folter der Organentnahme bei lebendigem Leib ohne jedes Schmerz- und Narkosemittel erleiden.

Man teilte den Eltern mit, daß sie nicht bei ihrem Sohn bleiben könnten, und bot ihnen auf ihr Drängen hin schließlich an, das Kind nach der Organentnahme auf Station aufzubahren, damit sie Zeit zum Abschied hätten. Man rechnete jedoch offenbar nicht damit, daß die Eltern wiederkommen würden, denn als sie am Abend zurückkehrten, wußte niemand, was sie wollten. Sie mußten eineinhalb Stunden warten, bis endlich eine Krankenschwester mit ihnen in den Leichenkeller ging und sie dort aufforderte, sich zu beeilen. Laut Nierenprotokoll war die Entnahme bereits um 12.00 Uhr mittags erfolgt. Warum mußten die Eltern dennoch solange warten? Beim Anblick ihres Sohnes glaubte die Mutter zunächst an einen Irrtum, da sie ihn nicht wiedererkannte. Dabei hatte sie privat und beruflich zuvor schon häufig in das Gesicht von Toten geschaut. Ihr zweiter Impuls war: Er hat ja Schmerzen gehabt! Das Gesicht war ganz klein geworden, die Lippen zusammengepreßt, die Haare naß, die Augen großflächig kreuzweise verklebt. Hatten sie ihm doch die Augen genommen, obwohl die Eltern dies ausdrücklich abgelehnt hatten? Die Mutter begann, die Pflaster zu lösen, als sie ihr Mann in Panik wegzog, worauf die beiden stumm davonliefen, ohne Abschied zu nehmen oder sich über ihre Gefühle auszusprechen.

In einem Briefwechsel hieß es Jahre später zum Verkleben der Augen, man habe ein Austrocknen während des Eingriffs verhindern wollen. Das läßt eigentlich nur den Schluß zu, daß die Hornhaut entnommen werden sollte. In den Unterlagen heißt es an anderer Stelle: Herbeiführung des Herzstillstandes durch kalte Perfusion. Damit ist eine vier Grad kühle Flüssigkeit gemeint, mit der die zur Entnahme präparierten Organe durchspült werden, zuletzt das Herz. Daher liegt der Verdacht nahe, daß auch das Herz ohne Zustimmung entnommen wurde.

Neun Jahre nach dem Tod ihres Sohnes hatte Gisela Meyer einen Alptraum, in dem ihr Sohn aus dem Koma aufwachte. Sie springt auf vor Freude, doch dann kommt wie ein Donnerkeil die Erkenntnis, daß man ihm die Organe entnommen hat und er daran sterben muß. Alle liebenden Eltern wollen ihr Kind bestmöglich vor Schaden und Schmerzen bewahren. Das nicht getan zu haben, habe die Trauer enorm erschwert. Sie seien um dem Trost gebracht worden, ihrem Kind die Treue gehalten und es auf seinem letzten Weg nicht im Stich gelassen zu haben. Kein Mensch würde bei klarem Verstand einen Angehörigen einer derart barbarischen Operation wie einer Organentnahme ausliefern, bei der am Ende der Tod aktiv herbeigeführt wird. Kein Leid eines Dritten rechtfertige diesen grausamen Umgang mit Menschen in ihrem anfälligsten Moment.

Gisela Meyer beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Persönliches Zeugnis von Überzeugungskraft
Foto: © 2012 by Schattenblick

Wenn es heißt, daß zwei unabhängige Diagnostiker den Hirntod feststellen, drängt sich die Frage auf, wer die angebliche Unabhängigkeit kontrolliert. Zudem müßten zwei Protokolle vorliegen, die Eltern verfügen jedoch nur über eines. Wer kontrolliert, welche Organe entnommen werden? Die Ärzte können sicher sein, daß Angehörige in der Regel traumatisiert und für lange Zeit handlungsunfähig sind.

1997‍ ‍schrieben die Eltern anläßlich der Gesetzgebung zur Organspende einen Brief an alle Abgeordneten des Bundestages. Dann folgte ein Erlebnis auf dem Kirchentag in Leipzig 1997 - damals war Seehofer Gesundheitsminister und warb an einem Stand für die Organspende. Jemand sagte zu Gisela Meyer, wie schön es sei, daß da vorn ein Mensch stehe, der ein neues Organ bekommen habe. Sie empfand jedoch, daß es das Herz ihres Kindes sein könnte und das Ganze etwas Kannibalisches hatte. Da man dieses Feld nicht den Befürwortern überlassen wollte, rief das Ehepaar Meyer die Initiative KAO (Kritische Aufklärung zur Organspende) ins Leben und bewarb sich für den nächsten Kirchentag in Stuttgart. Auf dem Forum "Markt der Möglichkeiten" können sich verschiedene Gruppen und Initiativen darstellen. Da das Interesse groß war, bewarb sich KAO später um ein großes Forum, was 2005 in Hannover gelang. Die Podiumsveranstaltung war so überfüllt, das sie nach draußen übertragen wurde. Dieser Erfolg verhinderte jedoch, daß man jemals wieder ein Podium auf dem Kirchentag bekam. Professor N. [2], jetzt Transplantationsmediziner in Essen, sitzt schon seit Jahren im Präsidium des Kirchentags und war einmal dessen Präsident. Von einem Bekannten im 20köpfigen Präsidium hörte man, daß N. nichts unversucht lasse, KAO eine zweite große Veranstaltung zu versagen.

Die Transplantationsmedizin hat das Leben der Eltern schwer belastet. Gisela Meyer hat ihre Krebserkrankung überstanden, ihr Mann ist seiner 2009 erlegen. Aus ihren Erfahrungen sage sie: Diese Medizin kann nur existieren, weil sie Menschen, die sich nicht mehr wehren können, schamlos mißbraucht. Sie nutzt die Wehrlosigkeit der für hirntot Erklärten aus: Neun von zehn explantierten Menschen haben keinen Spenderausweis. Sie nutzt zudem den Schockzustand der Angehörigen aus, was einen Verlust des Selbstwertgefühls und tiefe Schuldgefühle zur Folge hat. Sie bürdet den Angehörigen subtil die Schuld am Tod anderer auf. Sie fördert den Fluchtreflex, indem sie vermittelt, man könne die schreckliche Situation beenden und diesem sinnlosen Tod durch eine heldenhafte Tat einen Sinn geben. Und sie mißbraucht die Mitmenschlichkeit, Leid abwenden zu wollen. Kann der Zweck die Mittel heiligen? Wie schon Martin Buber hervorhob, könne man nicht heilige Zwecke mit unheiligen Mitteln verwirklichen. Gisela Meyer hat bis zu ihrem 65. Lebensjahr bei der Hospizbewegung in der Ausbildung mitgearbeitet und ist froh darüber, daß diese Bewegung und damit auch die Sensibilität für Sterben und Tod als Bestandteil des Lebens wächst.

Fruchtbare Diskussion in zugewandter Atmosphäre

In der anschließenden Diskussion, die ebenso angeregt wie inhaltlich gehaltvoll war, brachten Teilnehmer zunächst zum Ausdruck, daß man sich der Schilderung der Referentin allenfalls dann entziehen könne, wenn man auf die eine oder andere Weise Aktien in der Transplantationsmedizin habe. Daher könne man sich gut vorstellen, daß einflußreiche Interessen verhindern wollen, daß Kritiker öffentlich in Erscheinung treten. Das persönliche Zeugnis betroffener Eltern sei ein überzeugendes Argument, zumal Angehörige der Pflegeberufe oftmals aus beruflichen Gründen vorsichtig mit ihren Stellungnahmen sein müßten.

Wie Gisela Meyer dazu berichtete, seien in einem Fall betroffene Eltern bei "Beckmann" eingeladen gewesen, das Vorgespräch war geführt worden, doch kurz vor der Sendung hätten sie eine Absage erhalten. Der Leiter der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) weigerte sich zu kommen, wenn dieses Ehepaar anwesend wäre. Eine Teilnehmerin, die den Vorbereitungsgruppen der Kirchentage Hannover und Bremen angehört hatte, wußte zu berichten, daß im zweiten Fall eine Organempfängerin präsent war, die offenbar den Auftrag hatte, starken moralischen Druck zu entfalten, um eine erneute Veranstaltung der Kritiker zu verhindern.

Erika Feyerabend verwies auf eine Sendung, an der auch Martina Keller, Professor N. [2], ein Transplantierter sowie eine Mutter, die ihr Kind zur Entnahme freigegeben hatte, teilnahmen. Letztere empfand den Tod ihrer neunjährigen Tochter insofern als sinnvoll, als diese einmal geäußert habe, daß sie ihre Organe hergeben würde. Einerseits herrsche ein starker moralischer Druck, es könne andererseits aber auch eine Verarbeitungsform sein, der Einwilligung in die Organentnahme etwas Gutes abzugewinnen. Eine teilnehmende Krankenschwester berichtete von zwei Fällen, in denen das Gefühl der Eltern, Nächstenliebe geübt zu haben, offenbar so weit getragen hatte, daß sie sogar den Empfänger kennenlernen wollten. Gisela Meyer erwiderte darauf, sie könne diese Menschen gut verstehen. Man fühle sich in einer solchen Situation so schlecht, daß die Vorstellung verlockend sei, etwas Gutes getan zu haben. Man ergreife diesen Strohhalm und habe es hinterher einfacher, weil man überall willkommen geheißen werde. Aufgrund ihrer persönlichen Erfahrung wie auch der anderer Eltern bezweifle sie jedoch, daß das auf Dauer trägt.

Erika Feyerabend äußerte ein ungutes Gefühl in Hinblick auf Talkshows und ähnliche Sendungen. Betroffene Eltern würden entweder als Befürworter hofiert oder als Kritiker psychiatrisiert. Diese Inszenierung vertiefe die Problematik möglicherweise noch, indem sie individuelle Lösungen propagiere. Gisela Meyer sprach in diesem Zusammenhang von einem Totschlagargument, da sich natürlich niemand der Rettung Schwerkranker verweigern wolle. Doch welches Menschenbild stehe dahinter, welche Gesamtsicht von Leben und Sterben, wenn man akzeptiert, daß Organe über ganz Europa verteilt werden. Wenn sie das öffentlich vortrage, werde sie sofort mundtot gemacht.

Der anwesende Pfarrer Siegfried Soth aus Essen schilderte den Fall einer Frau, die binnen weniger Jahre von einer außergewöhnlichen Reihe schwerer Schicksalsschläge heimgesucht worden war, da mehrere engste Angehörige gestorben waren. Sie wurde nach dem Unfall eines ihrer Kinder ohne jedes Mitgefühl bedrängt, einer Organentnahme zuzustimmen. Selbst wenn dem Mediziner die Vorgeschichte dieser Frau nicht bekannt gewesen sein sollte, möchte man doch ein Mindestmaß an Empathie und Menschlichkeit erwarten. Vorgetragen wurde auch eine buddhistische Sichtweise, wonach ein Mensch zwei Grundtendenzen habe: Er möchte Leid nicht spüren und mehr vom Positiven haben. Kämen Transplantationsmediziner in Kontakt mit dem Leid, könnten sie ihre Position nicht mehr aufrechterhalten. Ihre Rationalisierung, die sie vor Mitgefühl mit anderen abschottet, wäre dann nicht mehr möglich.

Ärzte hatten früher andere moralische Schranken und manche waren durchaus der Auffassung, daß Transplantation im Grunde mit dem ärztlichen Ethos unvereinbar sei, so Erika Feyerabend. Heute herrschten ganz andere Auffassungen vor, die solche Bedenken längst nicht mehr teilten. Handelte es sich dabei lediglich um eine arglistige Täuschung seitens der Transplanteure, wäre das Problem vergleichsweise überschaubar. Das sei jedoch nicht der Fall, da die Veränderung der Werte nicht nur für die Medizin, sondern die Gesellschaft insgesamt gelte.

Erika Feyerabend moderiert stehend - Foto: © 2012 by Schattenblick

Erika Feyerabend leitet souverän die Diskussion
Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Sigrid Graumann, die am Fachbereich Heilpädagogik der Evangelischen Fachhochschule in Bochum lehrt, wies in diesem Zusammenhang auf den heute geradezu selbstverständlichen Anspruch auf den Körper des anderen hin. Sie berichtete von einem Fall, in dem Eltern per Organhandel ihrem Kind eine Transplantation ermöglichten. Sie vertrete die Position, daß man eine klare Haltung dagegen einnehmen müsse. Es könne nicht ein Leben auf Kosten des anderen gerettet werden. Eltern gingen mitunter buchstäblich über alle Grenzen, um ihr Kind zu retten, doch nähmen sie dabei in Kauf, daß das erforderliche Organ notfalls auf dunklen Kanälen beschafft werden muß. Die Anspruchshaltung, alles ersetzen zu können, kritisierte eine teilnehmende Hebamme aus einem anderen Blickwinkel. Man vergesse darüber, daß es so etwas wie Schicksal und eine bestimmte Lebensspanne gebe. Ärzte wetteiferten um Forschungsgelder, die Pharmaindustrie mache Milliardengeschäfte. Aus eigenem Antrieb werde dieser Komplex die Organentnahme niemals aufgeben.

Zur Sprache kam auch jene programmatische Dissoziation, die Menschen in zunehmendem Maße abverlangt wird, wie etwa im Namen des Friedens Kriege zu führen. Daher gelte es über die persönliche Betroffenheit hinaus in dieser Debatte noch eine Reihe weiterer Felder zu eröffnen und Verbindungen zu anderen Themen herzustellen. Diskutiert wurde unter anderem darüber, daß Transplantation für alle womöglich auf Dauer gar nicht vorgesehen sei und sich eine Scheidung in Spender und Empfänger nach der gesellschaftlichen Zugehörigkeit durchsetze. Beispielsweise gebe es in Israel aus Glaubensgründen so gut wie keine Spender, wohl aber viele Empfänger, die zu diesem Zweck meist ins Ausland reisten. Für diese Entwicklung spreche auch, daß sich in Umfragen zwar 80 Prozent für Organspende aussprechen, weil sie selbst davon profitieren könnten, doch die tatsächliche Spendebereitschaft sehr viel geringer sei.

Grundsätzlich gelte es die Frage zu stellen, welche Interessen die Transplantationsmedizin verfolgt. Offensichtlich gehe es ihr nicht wirklich um die vielzitierten Patienten auf den Wartelisten. Demgegenüber stehe beispielsweise der Umstand, daß jedes Jahr um die 20.000 Menschen an Krankenhausinfektionen sterben, ohne daß dagegen eine schlagkräftige Initiative ins Feld geführt werde. Gisela Meyer verwies dazu auf Recherchen bei Kliniken und Krankenkassen, die immense Umsätze auf dem Gebiet der Transplantationsmedizin nachweisen konnten. Was als Ausnahmemedizin konzipiert war und mit fünf Transplantationszentren in Deutschland ausgekommen wäre, ist heute auf 50‍ ‍solcher Einrichtungen angewachsen, so daß man es mit einem entuferten und etablierten System zu tun habe. Lösungen innerhalb dieses Systems auf dem Wege wissenschaftlichen Fortschritts zog Gisela Meyer in Zweifel. So sprächen sich Transplanteure wie Professor N. [2] dafür aus, daß Angehörige im Idealfall die Hand des Spenders halten oder zumindest an seinem Kopfende sitzen sollten. Dies ändere nichts am Verfahren der Organentnahme, sondern feile lediglich an deren Akzeptanz, so Gisela Meyer. Aufklärung hänge natürlich von der jeweiligen Interessenlage ab - DSO oder Empfänger argumentierten ganz anders als Kritiker. Damit die Menschen über diese kontroversen Positionen nachdenken könnten, bräuchten sie Informationen auch von kritischer Seite. Von angemessener Aufklärung könne bislang keine Rede sein.

Dr. Mona Motakef vom Institut für Soziologie der Universität Duisburg-Essen wies darauf hin, daß der Anteil der Lebendspende wächst, wobei mehr Frauen als Männer spenden. Geworben werde dafür wenig, weil das Subsidiaritätsprinzip gelte, doch könnten sich Angehörige de facto aus moralischen Gründen kaum verweigern. Was eine absolute Ausnahme sein sollte, werde vor allem für Frauen als Selbstverständlichkeit dargestellt. Dazu merkte Gisela Meyer an, daß Mediziner die Lebendspende 1997 noch abgelehnt hätten, weil sie damals einen Boom von Organen erwarteten. Heute stelle sich das ganz anders dar. Auch ein Teilnehmer aus den Niederlanden sah einen Trend zur Lebendspende, da die für hirntot Erklärten keinesfalls ausreichen, um die Patienten auf der Warteliste abzudecken. Auch wenn Werbekampagnen keinen unmittelbaren Erfolg zu verzeichnen scheinen, bereiten sie doch den Boden für die Akzeptanz und Durchsetzbarkeit künftiger Veränderungen. So werde in den Niederlanden bereits eine öffentliche Debatte um Organkauf im Ausland geführt.

Eine Teilnehmerin formulierte hinsichtlich der hinter der Transplantation stehenden Interessen den Verdacht, daß diese in Zusammenhang mit Embryonenforschung, Genmanipulation und anderen biomedizinischen Vorstößen zu sehen sei. Die Menschheit stehe angesichts des Klimawandels und der verheerenden Folgen ihrer technologischen Entwicklung wie etwa der Kernkraft am Abgrund. Nicht die Heilung von Krankheiten mache sich die Medizin zur Aufgabe, sondern die Rekrutierung von Spendern und Beschaffung organischer Ersatzteile, um bestimmte Teile der Menschheit auf diesem Wege zu reparieren und gewissermaßen neu zu erschaffen.

Gisela Meyer wies zum Abschluß der intensiven und aufschlußreichen Diskussion auf die Masterarbeit des Arztes Dr. med. Christoph von Winterfeldt hin, der viele Eltern therapeutisch begleitet hat. Er beschreibt unter anderem Wesensveränderungen bei Organempfängern, für die es in der Psychiatrie längst einen eigenen Bereich gibt. Auch auf dieser Seite der Problematik werde sehr viel verschwiegen, das zur Sprache gebracht werden müßte.

Fußnoten:

[1]‍ ‍http://www.initiative-kao.de/g-meyers-report.html

[2]‍ ‍Name der SB-Redaktion bekannt

(wird fortgesetzt)

Kuturzentrum GREND in Essen-Steele - Foto: © 2012 by Schattenblick

Zusammenkunft an freundlichem Ort
Foto: © 2012 by Schattenblick

13.‍ ‍April 2012