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INTERVIEW/014: Ersatzteillager Mensch - Jerome über Euthanasie in den Niederlanden (SB)


Prekäre Liberalisierung der ärztlichen Sterbehilfe

Interview mit Jerome am 24. März 2012 in Essen-Steele



Jerome lebt in den Niederlanden und engagiert sich dort für einen kritischen Umgang mit biopolitischen Entwicklungen. Zum Abschluß der Konferenz "Organspende - gesellschaftlich umstritten, öffentlich undurchschaubar, politisch gefördert", die am 23./24. März 2012 im Kulturzentrum Grend in Essen-Steele stattfand, beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.

Im Interview - Foto: © 2012 by Schattenblick

Jerome
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Jerome, warum bist du zu dieser Konferenz gekommen und warum übst du Kritik an der Transplantationsmedizin?

J: Ich kam 1995 durch Bioskop in Berührung mit dem Thema. Während dieser Zeit stellte ich fest, daß die Organtransplantation eine Art Vorreiterrolle in vielen sogenannten ethischen Diskussionen einnimmt. Üblicherweise sind die Menschen für die Organtransplantation, während die Frage, was daran kritikwürdig ist, kaum diskutiert wird. Insbesondere über die Transplantationsindustrie wird nicht gesprochen, obwohl sie in der Praxis eine große Rolle spielt. Das macht mich zornig und daher möchte ich mich darüber aussprechen.

SB: Wie denkt man in den Niederlanden über die Transplantationsmedizin?

J: In der Öffentlichkeit wird sie positiv gesehen. Es gibt immer einen Ruf nach mehr Organen in den Medien, es werden Menschen gezeigt, die ein Organ brauchen oder eine Transplantation hatten. Dagegen wird die Transplantationsmedizin in den Medien nur selten kritisiert, und wer das tut, muß eine Alternative präsentieren. Man wird gefragt, welche Lösung man für die Menschen, die ein Organ benötigen, denn habe, wenn man die Hirntodkonzeption kritisiert.

SB: Wie ist die Frage der Spendebereitschaft in den Niederlanden gelöst?

J: Jeder der 18 Jahre alt wird, bekommt einen Brief von der Regierung, in dem er gefragt wird, ob er Spender sein möchte oder nicht. Man kann die Entscheidung auch seinen Eltern überlassen oder gar nicht antworten. Letzteres ist bei zwei Drittel der Menschen, die einen solchen Brief erhalten, der Fall. Hin und wieder gibt es Vorschläge für neue Gesetze wie die Widerspruchslösung. Dabei gilt man als Spender, so lange man keinen Einspruch erhebt. Das wurde bereits zweimal im Parlament diskutiert, aber nicht durchgesetzt, weil einzeln abgestimmt wurde und einige Sozialdemokraten gegen diese Zwangslösung waren.

SB: In Deutschland hat insbesondere die in den Niederlanden praktizierte ärztlichen Sterbehilfe viel Beachtung gefunden. Was ist deine Einschätzung zur Akzeptanz dieser Praxis in der Gesellschaft und was hältst du persönlich davon?

J: In der Bevölkerung wird die Euthanasie allgemein akzeptiert, weil sie diese starke Idee der Selbstbestimmung über den eigenen Tod unterstützt. Das ist die Kraft der Idee. Aber die Gesetze werden in den letzten 30, 40 Jahren immer weiter ausgedehnt. Jetzt gibt es eine neue Initiative, die aus zumeist älteren Leuten besteht, viele aus der 68er Generation und aus der Linken wie auch aus den Reihen der Rechtsliberalen. Sie finden eine gemeinsame Basis in der Forderung, daß man das Recht haben sollte, sich töten zu lassen, wenn man nicht mehr leben möchte. Das Euthanasie-Gesetz macht viele Bedingungen geltend, bevor die Sterbehilfe durchgeführt werden kann. Man muß sehr krank sein, zwei Ärzte müssen es bestätigen. Es scheint genug Menschen zu geben, die ihres Lebens müde sind und sterben wollen, auch ohne richtig krank zu sein.

SB: Es sollen bereits Menschen im Rahmen der ärztlichen Sterbehilfe getötet werden, die nicht in der Lage sind, eine bewußte Entscheidung zu treffen wie beispielsweise geistig Behinderte. Weißt du etwas darüber?

J: Ja, es gab mindestens zwei große Studien, in denen Ärzte anonym befragt wurden, wie ihre Erfahrungen mit der ärztlichen Sterbehilfe aussehen. In einer dieser Studien fand man heraus, daß 900 Menschen getötet wurden, die nichteinwilligungsfähig waren. Diese Nachricht war nicht sehr willkommen, man sagte zwar, es waren Babys, die in ihrer ersten Woche gestorben sind, oder Menschen mit Alzheimer, aber mit der Realität, wie gefährlich diese Praxis sein kann, kann die Allgemeinheit und die biopolitische Elite nur schwer umgehen. Kritiker der Euthanasie finden sich besonders unter Christen. Ich komme aus der Linken, und auch dort gibt es Gegner der Selbstbestimmungsideologie. So wird in der Sozialistischen Partei darüber diskutiert, daß keine Euthanasie durchgeführt werden sollte, wenn der Gesundheitsschutz der Krankenversicherungen abnimmt.

SB: Diese Menschen haben zumindest einen Begriff vom Verhältnis zwischen sozialer Frage und Bioethik. Bei denjenigen, die eine Vorstellung davon haben, was passieren kann, wenn sich die Systeme der sozialen Sicherung zurückbilden und sich das selbstbestimmte Sterben gegen Menschen richtet, die nicht genug Einkommen oder keine Versicherung haben, scheint es sich aber um eine kleine Minderheit zu handeln?

J: Der neue Vorschlag der Linken und Rechtsliberalen, von dem ich sprach, wurde dem Parlament vorgelegt, doch das Parlament stimmte nicht darüber ab, weil man die christliche Rechte brauchte, um die Regierung zu bestätigen. Doch damit ist die weitere Liberalisierung der Euthanasie nicht vom Tisch. In der öffentlichen Diskusion wird manchmal eine Verbindung zu den Gründen hergestellt, warum die Menschen nicht mehr leben wollen. Das tritt auch in der Debatte über die Reduzierung der Krankenversicherungskosten auf. Noch wird dieser prekäre Zusammenhang nicht recht ernstgenommen, doch das Bewußtsein über die Gefahr wächst.

SB: Wie ist die Partei von Geert Wilders in der Debatte über die Liberalisierung der Euthanasie positioniert?

J: Das ist eine sehr interessante Frage, die ich leider nicht wirklich beantworten kann, da ich die Details nicht kenne. Doch wenn Wilders sagt, wir stimmen für oder gegen etwas, dann richten sich alle Fraktionsmitglieder danach.

SB: Hast Du eine Erklärung dafür, woher diese Dominanz der liberalen Idee in der niederländischen Gesellschaft stammt?

J: Es ist eine Reaktion auf die Hegemonie des Christentums. Ende der 1960er Jahre hatten die Leute genug davon und wendeten sich immer mehr gegen die christlichen Kirchen, die ihnen vorschreiben wollten, was sie zu tun hätten. In diesem Rahmen kam auch der Widerstand gegen ein Gesundheitswesen auf, dem man unterstellte, daß es die Menschen unterdrücke, indem es sie unter allen Umständen am Leben halte. Man konnte alles diskutieren, auch diese Idee. Ich denke, es ist ein Teil der niederländischen Kultur. Euthanasie sollte jedoch nicht zur Identität der Holländer gehören.

SB: Ist man in den Niederlanden stolz auf diesen liberalen Geist?

J: Ja, man ist stolz darauf, einen offenen Umgang mit diesen Fragen zu pflegen: 'Während es in anderen Ländern im Verborgenen passiert, sind wir in der Lage es zu diskutieren. Darum haben wir keine Skandale, wir können die Gesellschaft offen verwalten und darum gerät sie nicht aus der Bahn.' Diese Ansicht entspricht zwar zum Teil der Realität, aber die Holländer sind so stolz auf dieses Selbstbild, daß sie mit Menschen, die es kritisieren, nicht reden möchten. Vielleicht ändert sich das einmal. So gibt es einen liberalen Minister, der als einer der ersten dem Euthanasie-Gesetz zustimmte. Jahre später hat er zugegeben, daß man mehr für die Hospize hätte tun müssen, während man mit der Liberalisierung der Euthanasie gar nicht erst hätte anfangen dürfen. Aber jetzt gibt es das Gesetz und keinen Weg zurück.

SB: Gestern haben wir in einem Vortrag über die Entwicklung der Euthanasie in Belgien gehört. Dort wurde Menschen, die ärztliche Sterbehilfe in Anspruch nahmen, Organe entnommen. Siehst du in dieser Verbindung zwischen Euthanasie und Organtransplantation auch eine Gefahr für die Niederlande?

J: Natürlich sehe ich darin eine Gefahr, aber ich habe noch nicht gehört, daß es in den Niederlanden passiert ist. Es hat aber eine gewisse ökonomische Logik. Warum sollte man diese Organe verschwenden? Deshalb ist es auch eine Gefahr die Niederlande.

SB: Jerome, vielen Dank für das Gespräch.

14.‍ ‍Mai 2012