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INTERVIEW/037: E-CARDstopp - Verwaltungs- und Wirtschaftsforschung ...    Wolfgang Linder im Gespräch (SB)


Raubbau in der Goldgrube des gigantischen Datenkörpers

Interview mit dem früheren Bremer Datenschutzbeauftragten Wolfgang Linder

Treffen der Aktion "Stoppt die e-Card!" am 10. April 2015 in Hamburg


In Zeiten dramatisch einbrechender Wertschöpfung im klassischen industriellen Sektor infolge der permanenten Überakkumulationskrise gleicht die Gesundheitswirtschaft in zunehmendem Maße einer Goldgrube, deren noch längst nicht ausgelotete Tiefen Profite in Aussicht stellen, wie sie anderswo immer seltener zu generieren sind. So wenig der Mensch beim Verkauf seiner Arbeitskraft kreative Entfaltung, existenzsichernde Einkünfte und ein Leben in Würde zu erwarten hat, so wenig beschert ihm die exzessive Inwertsetzung seiner schieren Leiblichkeit jene Genesung und Gesundung, die ihm als höchstes Daseinsgut vorgegaukelt wird, während er ihrer doch mehr denn je verlustig geht.

In diesem Kontext stellt die telematische Infrastruktur samt der elektronischen Gesundheitskarte ein zentrales Langzeitprojekt des Zugriffs auf Patientendaten dar, bei dem sich kommerzielles Gewinnstreben und administrative Verfügungskonzepte kreuzen. Wo sonst ließe sich der Mensch leichter persönliche Informationen entlocken und widerspruchsloser Kontrollmechanismen aufoktroyieren als im Stande manifesten Leidens oder perspektivischen Erkrankens mit finaler Prognose? Unter dem Druck der Bezichtigung, jegliche Beeinträchtigung seiner Physis durch eine verantwortungslose Lebensführung verschuldet zu haben, wird ihm die schrankenlose Selbst- und Fremdbemessung zur ersten Bürgerpflicht.

Was den sukzessiven Auf- und Ausbau der Telematikinfrastruktur so resistent gegen fundiert begründete Einwände macht, ist nicht zuletzt sein auf lange Sicht angelegter Entwurf. Er verkraftet befristete Konzessionen, die ihm die aktuelle Gesetzeslage abnötigt, ebenso wie katastrophal anmutende Pannen technologischer Art, weil er auf künftige Erträge abstellt, die größte finanzielle Aufwendungen wie auch fehlende Nachweise seiner aktuellen Nützlichkeit zu rechtfertigen scheinen. Es handelt sich um die Investition in eine Zukunft, die von den Betreibern in rosige Versprechen gekleidet wird, wo immer sie kritische Einwände aus dem Feld zu schlagen trachten.

Wer diesen Zug in die Sphäre des restlos verwertbaren und fleckenlos transparenten Patienten und Bürgers zum Stehen bringen will, braucht neben Streitbarkeit und Sachkompetenz folglich einen langen Atem. Den hat die Aktion "Stoppt die e-Card!" [1] seit ihrer Gründung im Jahr 2007 unter Beweis gestellt, indem sie dieses Großprojekt unermüdlich kritisiert, in seinen Dimensionen ausleuchtet und sich für die kommenden Herausforderungen rüstet.

Ein weiterer Schritt auf diesem Weg war das gut besuchte Aktionstreffen am 10. April 2015 im Hamburger Hotel Barceló, bei dem der Physiker und Informatiker Kai-Uwe Steffens als Moderator durch die Veranstaltung führte, der dem Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung und der Aktion "Stoppt die e-Card!" angehört. Nach einer Einführung von Manfred Lotze vom Orgateam ging Dr. Silke Lüder, Sprecherin der Aktion und Ärztin in Hamburg, auf das e-Health-Gesetz ein. Dr. Klaus Günterberg aus Berlin befaßte sich kritisch mit dem Notfalldatensatz auf der e-Card, worauf Wolfgang Linder, ehemaliger Datenschutzreferent der Stadt Bremen, über seine Recherche zur Nationalen Kohortenstudie berichtete. Der Informatiker Marcus H. erläuterte noch einmal die Kritik an der Telematikinfrastruktur, die Rolf Lenkewitz auf der Veranstaltung "Medizin statt Überwachung" Ende Oktober 2014 dargelegt hatte [2]. Gabi Thiess, Patientensprecherin der Aktion "Stoppt die e-Card!", und der Rechtsanwalt Johannes Pattet berichteten über den aktuellen Stand der juristischen Optionen. Abschließend diskutierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer verschiedene strategische Gesichtspunkte und berieten über die weitere Arbeit der Aktion.


Big Data - Das Langzeitprojekt Nationale Kohortenstudie

Wolfgang Linder, der sich seit Ende seiner Tätigkeit als Datenschutzbeauftragter im Komitee für Grundrechte und Demokratie [3] engagiert, legte unter dem Stichwort "Big Data" die Problematik der Zusammenführung von großen Datensätzen am Beispiel der Nationalen Kohortenstudie dar. Wie er eingangs hervorhob, müsse man sich auf eine langwierige Auseinandersetzung einstellen. Im November 2014 fiel der Startschuß für dieses Langzeitprojekt, zu dem sich 18 Studienzentren zusammengeschlossen haben. Für das Vorhaben wurden zunächst 210 Mio. Euro bewilligt - 140 Mio. vom Bundesministerium und 70 Mio. von den Forschungsinstituten. Es wurden 400.000 Menschen zwischen 20 und 69 Jahren angeschrieben, von denen man 200.000 für die Teilnahme gewinnen will. Bei diesen werden zahlreiche Daten abgefragt und Bioproben entnommen. Im Rahmen des auf 20 bis 30 Jahre oder länger angelegten Projekts sollen 40.000 Probanden ein gründlicheres Untersuchungsprogramm durchlaufen.

Es handelt sich um eine riesige Bioproben- und Datenbank, zumal ergänzend sogenannte Sekundärdaten bei Gesundheitsämtern, der Krankenversicherung, den Sozialversicherungsträgern und Ärzten erhoben werden, wobei letztere seitens der Probanden von ihrer Schweigepflicht entbunden werden sollen. Das Projekt wird irreführend als Langzeitstudie ausgewiesen, die zur Bekämpfung der großen Volkskrankheiten dienen soll. Laut Nutzungskonzept sollen die Daten jedoch für gesundheitsbezogene Forschung aller Art zur Verfügung gestellt werden. Auch die zugesicherte Anonymisierung der Daten ist angesichts des riesigen Datenkörpers keinesfalls sicherzustellen, so der Referent.

Die Nationale Kohorte sei jedoch nicht nur aus datenschutzrechtlichen Gründen zu kritisieren, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht. So sollen aus den gespeicherten Daten Biomarker abgeleitet werden, aus denen individuelle Risikoprofile erstellt werden können, die sich kommerziell einsetzen lassen. Es geht nicht um die Heilung des einzelnen, sondern eine Identifizierung von Patienten anhand biologischer Meßdaten. Der Mensch wird nicht als krank oder gesund erfaßt, sondern einer Risikogruppe zugeordnet. Die Vorstellung einer durch Tests feststellbaren individuellen genetischen oder molekularen Verfaßtheit des einzelnen bestimmt, wie und wann jemand krank sei oder wird, und revitalisiert so einen längst überwunden geglaubten Determinismus, der die Komplexität von biologischen Systemen völlig außer acht läßt.

Der Referent schloß seinen Vortrag mit der Prognose, daß die auf zentralen Servern gespeicherten umfangreichen Datensätze, wie sie mit Hilfe der e-Card hervorgebracht werden sollen, künftig in Großprojekte wie die Nationale Kohorte einfließen könnten. Datensammlungen dieser Größenordnung riefen zwangsläufig mannigfaltige Verwertungsinteressen auf den Plan, weshalb die Nationale Kohorte ein Vorhaben sei, auf das die Aktion "Stoppt die e-Card!" ihr Augenmerk richten sollte.

Im Anschluß an das Aktionstreffen beantwortete Wolfgang Linder dem Schattenblick einige Fragen zu Gegenstrategien, zur Position der Datenschutzbeauftragten und insbesondere zur Nationalen Kohorte.


Im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Wolfgang Linder
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Linder, wir haben auf dem heutigen Treffen über verschiedene Strategien diskutiert, nicht nur die e-Card zu verhindern, sondern darüber hinaus auch die gesamte telematische Infrastruktur. Um Patientinnen und Patienten in diese Kampagne einzubinden, bot sich bislang nur die Verweigerung des Fotos an. In welchem Maße ist es bisher gelungen, den Widerstand über den Kreis der Fachleute hinaus auf breitere Füße zu stellen?

Wolfgang Linder (WL): Noch sieht die gesetzliche Regelung im Sozialgesetzbuch (SGB) V vor, daß die Anwendungen der elektronischen Gesundheitskarte, mittels der medizinische Daten der Patienten gespeichert werden sollen, freiwillig sind. Wir haben auf dem heutigen Treffen intensiv über den Notfalldatensatz diskutiert, der die erste dieser Anwendungen ist. Es gibt noch eine Reihe weiterer Anwendungen, deren Installierung hoffentlich noch in weiter Ferne liegt, darunter vor allem die elektronische Patientenakte. Diese sieht vor, daß die gesamten Diagnosen und Therapien aller Ärzte, Krankenhäuser und anderen Therapeuten, die einen Versicherten behandelt haben, in einer elektronischen Patientenakte übersichtlich formatiert auf zentralen Servern gespeichert werden. Es war immer unsere Auffassung, daß sich dieser finanzielle Aufwand erst dann auszahlt, wenn die freiwilligen Anwendungen installiert sind und die Versicherten, beraten durch ihre Ärzte, in ihrer weit überwiegenden Zahl damit einverstanden sind.

Eine kleine Einschränkung: Ich befürchte, daß im Falle einer weitverbreiteten Ablehnung ganz schnell der Ruf nach dem Gesetzgeber laut würde, das Gesetz zu ändern und die Freiwilligkeit zu streichen. Es ist die Aufgabe der Aktion "Stoppt die e-Card!" und anderer Ärzte- oder Patientenverbände, des Komitees für Grundrechte und Demokratie, in dem ich mitarbeite, wie auch kritischer Medien, dann eine öffentliche Debatte darüber herbeizuführen. Ich bin überzeugt davon, daß zu diesem Zeitpunkt die öffentliche Diskussion sehr viel heftiger und präsenter im Vordergrund des politischen Streits in Deutschland geführt wird. Das wird wohl nicht morgen passieren und kann sich noch lange hinziehen, so daß man eher von einer Zukunftsprognose sprechen muß.

SB: Auf diesem Gebiet sind viele Gesetzesänderungen mehr oder minder verstohlen auf den Weg gebracht worden, so daß sie, von Experten abgesehen, kaum jemand wahrgenommen hat. Steht nicht zu befürchten, daß die Möglichkeit, auf gesetzgeberischem Wege immer neue Fakten zu schaffen, den Kritikerinnen und Kritikern den Rang ablaufen könnte?

WL: Meines Erachtens handelt es sich bei der Abschaffung der Freiwilligkeit um eine politische Frage, die an die Kernsubstanz des Datenschutzes geht, so daß sich dann die Datenschutzbeauftragten von Bund und Ländern angeregt fühlen müßten, sich zu Wort zu melden. In dem Referentenentwurf aus dem Haus von Herrn Gröhe zum e-Health-Gesetz ist bereits ein diesbezüglicher Ansatzpunkt enthalten. Eine neue freiwillige Anwendung der e-Card soll der Medikationsplan sein. Ich will mich an dieser Stelle nicht inhaltlich dazu äußern, ob er sinnvoll ist. Es steht jedoch ganz unauffällig drin, daß der Versicherte darauf verzichten kann, die Zugriffe jeweils autorisieren zu müssen. Das ist meines Erachtens ein Einfallstor dafür, die Freiwilligkeit zu unterlaufen und letztlich abzuschaffen.

SB: Wir haben in der vorangegangenen Diskussion darüber gesprochen, daß man die Frage nach einer erfolgversprechenden Strategie nicht ohne weiteres beantworten kann. Beispielsweise könne man aus dem Scheitern der bislang geführten Klagen nicht schließen, daß dieser Weg deswegen sinnlos sei.

WL: Ich bin immer der Auffassung gewesen, daß es sich bei der Einsendung des Fotos um den ersten Punkt handelte, an dem überhaupt eine kritische Mitwirkung der Versicherten an der Kampagne gegen die e-Card möglich war. Deshalb war es auch sinnvoll, sie im Rahmen des Möglichen zu mobilisieren und zu motivieren, sich dagegen zu wehren. Man hatte zudem ohnehin keinen Einfluß darauf, ob Versicherte mit oder ohne Anwalt vor dem Sozialgericht dagegen klagen. Wir haben es mit einem langfristigen Prozeß zu tun, in dem sich immer wieder neue Situationen ergeben, gerade was die Frage freiwilliger Speicherung medizinischer Daten betrifft - dann wird es noch wesentlich interessanter.

SB: Welche Position nehmen die deutschen Datenschützer gegenüber der elektronischen Gesundheitskarte und der telematischen Infrastruktur als solcher ein?

WL: Sie haben keine klare Position dagegen bezogen. Sie sind in Stellungnahmen eingebunden, die sie gegenüber der Betreibergesellschaft Gematik abgeben dürfen. Sie nehmen an Arbeitsgruppen teil, und der schleswig-holsteinische Datenschutzbeauftragte war am Testverfahren beteiligt - leider gibt es also keine eindeutigen Stellungnahmen gegen die e-Card und die Telematikinfrastruktur im Kreis der Datenschützer.


Wolfgang Linder stehend beim Vortrag - Foto: © 2015 by Schattenblick

Datenspeicher für Begehrlichkeiten aller Art ...
Foto: © 2015 by Schattenblick

SB: Sie haben sich in Ihrem heutigen Vortrag mit der Nationalen Kohorte auseinandergesetzt, bei der es sich um ein umfassendes und langfristig angelegtes Projekt handelt. Offenbar können es die Teilnehmenden weder überblicken noch im Laufe der Jahre vorgenommene Änderungen erkennen. Droht dabei die informationelle Selbstbestimmung auf der Strecke zu bleiben?

WL: Als ich noch beamteter Datenschützer war, hatte ich sehr viel mit Forschungsprojekten zu tun, die mir zu Bewertung vorgelegt wurden. Ich habe beraten, mich mit den Forschungsinstituten gestritten, und wir sind zu Lösungen gekommen. Das war eine ganz andere Situation, weil es sich um konkrete Forschungsvorhaben handelte, für die Daten erhoben wurden, und deren Finanzierung zeitlich auf vier oder fünf Jahre begrenzt war. Danach wurde ein Ergebnis abgeliefert, worauf die Daten vereinbarungsgemäß gelöscht oder anonymisiert werden mußten. Die Gruppe der Probanden war begrenzt, und die Daten betrafen nur einen bestimmten Forschungszusammenhang.

Bei der Nationalen Kohorte handelt es sich um etwas völlig anderes. Sie stellt eine Art Vorratsdatenspeicherung dar, da ein Datenvorrat für eine sehr breite Palette von Forschungsvorhaben angelegt wird. In dem aktualisierten Datenschutzkonzept wird das ausdrücklich angesprochen: Es soll ein möglichst breites Forschungsfeld offengehalten werden, da es unmöglich sei, alle zukünftigen medizinisch-biologischen Forschungsfragen vorherzusehen. Die potentiellen Teilnehmer, die vorher aus den Melderegistern möglichst repräsentativ den Projektträgern genannt werden, informiert man darüber, daß das Forschungsvorhaben eine Studie sei, die der Bekämpfung der großen Volkskrankheiten dient. Interessant ist dabei auch, daß im Laufe der Entwicklung der Grundlagenpapiere die Zahl der genannten Volkskrankheiten wesentlich gestiegen ist. Bei der jüngsten Aufzählung drängte sich geradezu die Frage auf, ob es überhaupt noch andere Krankheiten gibt.

In der Nutzungsordnung für die Nationale Kohorte, die das Verfahren bestimmt, nach dem die Daten Forschern zur Verfügung gestellt werden, steht hingegen etwas ganz anderes. Wie es dort heißt, können die Daten und Bioproben für alle Arten gesundheitsbezogener Forschung zur Verfügung gestellt werden. In den anderen Papieren, in denen von einer Begrenzung auf die großen Volkskrankheiten die Rede ist, wird weiter hinten auf diese Nutzungsordnung verwiesen - das ist sozusagen das Kleingedruckte, das kein Mensch liest. Gesundheitsbezogene Forschung kann beispielsweise auch gesundheitspolitische Forschung sein, in der man sich damit beschäftigt, bestimmte Leistungen aus finanziellen Gründen abzubauen. Dieser Begriff ist also wesentlich weiter gefaßt, so daß die Einwilligung der Teilnehmenden im Grunde schon dadurch in Frage gestellt ist. Der sogenannte Proband kann sich gar nicht im klaren darüber sein, wofür seine Daten und seine Bioproben wie Blut oder Gewebe genutzt werden. Es heißt ja ausdrücklich, daß man noch nicht weiß, welche Fragestellungen sich künftig ergeben werden.

Der Kampf dagegen spielt sich derzeit auf europäischer Ebene ab. Das EU-Parlament hat im vergangenen Jahr mit übergroßer Mehrheit - das ist das Verdienst des Grünen-Abgeordneten Jan Philipp Albrecht, der Berichterstatter des Parlaments war - endlich den Entwurf einer Datenschutzgrundverordnung beschlossen. Darin ist ganz klar und eindeutig formuliert, daß sich die Einwilligung in die Nutzung von Gesundheitsdaten zu Forschungszwecken auf ein oder mehrere spezifische Forschungsvorhaben beziehen muß. Was mit der Nationalen Kohorte konzipiert und auch schon umgesetzt wird, geht weit über diese Einschränkung hinaus. Die Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF), der alle relevanten Forschungsinstitute angehören, die auch die Nationale Kohorte finanzieren und tragen, hat eine intensive Lobbyarbeit gegen die genannte Formulierung betrieben. Wie die TMF argumentierte, sei man in Deutschland doch schon viel weiter und habe das Prinzip des Informed consent überwunden, da hier schon der Broad consent gelte - was überhaupt nicht der Fall ist. Im Bundesdatenschutzgesetz steht etwas ganz anderes. Ich habe jedoch den Eindruck, daß sich zumindest die Bundesdatenschutzbeauftragte Andrea Voßhoff nicht veranlaßt fühlt, auf die Einhaltung des Gesetzes zu achten.

SB: Stehen hinter der Nationalen Kohorte vor allem kommerzielle Interessen oder sind auch wesentliche politische Erwägungen dabei am Werk?

WL: Das kann man heutzutage kaum noch unterscheiden, weil die Politik Forschungsförderung auch als Wirtschaftsförderung sieht. Da besteht überhaupt kein Unterschied mehr. In einer Zeit, in der die deutschen Universitäten und wissenschaftlichen Institute zum großen Teil drittmittelfinanziert sind und die Drittmittel von der Industrie kommen, ist keine saubere Unterscheidung mehr möglich. Ich habe vor zwei oder drei Jahren an einer Veranstaltung der grünen Bundestagsfraktion über Telemedizin und elektronische Gesundheitskarte teilgenommen, deren Einführungsreferat ein Professor der TU Berlin gehalten hat, dessen Lehrstuhl von der Telekom finanziert war. Das hat er auch auf seiner Webseite bekanntgegeben. Ich bin darauf zu sprechen gekommen, daß die Telekom eines jener Industrieunternehmen ist, die wesentlich an der Entwicklung der Telematikinfrastruktur im Gesundheitswesen beteiligt sind und telemedizinische Projekte vorantreiben. Das sind dann auch die Berater der Politiker.

SB: Ist in den jetzt vorgelegten Referentenentwurf des Bundesgesundheitsministeriums bereits das Konzept der Nationalen Kohorte eingeflossen?

WL: Derzeit steht noch im bereits erwähnten SGB V im für die Gesundheitskarte einschlägigen § 291a, Absatz 8 eine glasklare Formulierung. Danach ist es sogar rechtswidrig, mit einem Versicherten zu vereinbaren, daß seine mittels der e-Card gespeicherten Gesundheitsdaten für andere Zwecke genutzt werden als für seine medizinische Versorgung und die Abrechnung. Untersagt ist also die Nutzung für Forschungszwecke. Dieser Absatz 8 ist auch nicht geändert worden, er taucht im Referentenentwurf von Herrn Gröhe nicht auf. An zwei Stellen findet man jedoch mir etwas rätselhafte Formulierungen: Die Schnittstellen der Telematikinfrastruktur können für andere Nutzungen geöffnet werden, und in ein sogenanntes Interoperabilitätsverzeichnis sollen andere Institutionen aufgenommen werden, unter anderem eben auch wissenschaftliche Institute. Ob mit dieser Formulierung ein Einfallstor intendiert ist, weiß ich nicht. Ich stelle mir das jedoch ganz einfach so vor: Sobald die elektronische Patientenakte technisch installiert ist und sich so viele Patienten mit der dortigen Speicherung ihrer Daten einverstanden erklärt haben, daß es interessant für Forschungsvorhaben wird, dürfte die Forschungs- und Wirtschaftslobby erheblichen Druck ausüben, die elektronischen Patientenakten für Forschungszwecke zu öffnen.

Ich habe in meinem Vortrag das Projekt Electronical Health Records for Clinical Research (EHR4CR) angeführt, bei dem durch EU-Mittel finanziert eine Plattform entwickelt wird, mittels derer elektronische Patientenakten nahtlos für medizinische Forschung genutzt werden. Ich kann natürlich als Datenschützer nicht sagen, daß Forschung schlecht sei. Erstens ist dieser Satz falsch, und zweitens bin ich als Jurist auch nicht befugt, so eine Wertung zu treffen. Allerdings handelt es sich um eine Art medizinischer Forschung, die auf einen "gigantischen Datenkörper" angewiesen ist, wie es der Vorsitzende des Vereins Nationale Kohorte e.V., Prof. Jöckel, ausgedrückt hat. Diese medizinische Forschung will mittels Biomarkern wie auch genetischen und molekularen Eigenschaften einer großen Menge von untersuchten Personen individuelle Risikoprofile erstellen. Es geht um die Identifizierung von Patientengruppen entlang biologischer Meßdaten, woraus Medikamente entwickelt werden sollen. Dabei werden nicht Krankheitsursachen und Heilmethoden konkret erforscht, sondern Risikoprofile erstellt, wozu diese großen Datenmengen erforderlich sind. Diese Art medizinischer Forschung wird auch von kritischen Medizinjournalisten und Publizisten in Zweifel gezogen.

SB: Während sich der einzelne davon die Heilung seiner Krankheit verspricht, geht es demnach um etwas ganz anderes, nämlich die kommerzielle Verwertung?

WL: Es gibt bereits viele derartige Datenbanken, die fest installiert sind. Die Nationale Kohorte hat jedoch eine völlig neue Dimension, weil die gesammelten Daten aufgrund der Vernetzung für ein breites Spektrum von Forschungsvorhaben zur Verfügung gestellt werden. Diese Vernetzung ist international und für die Betroffenen nicht überschaubar, die nicht wissen, wofür ihre Daten genutzt werden. Auch wird durch die Fülle der Daten die Anonymisierung in Frage gestellt. In diesem Zusammenhang sind so viele Fragen offen, und eine öffentliche Debatte über diese Problematik ist bislang völlig ausgeblieben.

SB: Wie schätzen Sie in diesem Zusammenhang die Möglichkeiten und Grenzen des Datenschutzes ein? Besteht nicht die Gefahr, daß über einen veränderten Gesundheitsbegriff eine gesellschaftliche Kontrolle des einzelnen vorangetrieben wird, die weit über Krankheitsfragen im engeren Sinn hinausgeht?

WL: Das ist durchaus möglich, weil über die riesigen Datenmengen auch Kontrolle möglich wird. Ich möchte die Betreiber und forschenden Nutzer der Nationalen Kohorte jedoch nicht unter einen Generalverdacht stellen, da bin ich vorsichtig. Ich bin simpler Jurist und Datenschützer im Ruhestand. Insofern habe ich eine gewisse Fertigkeit im Lesen juristisch relevanter Texte, die mir dabei zustatten kam. Ich habe die Texte gelesen, die der Nationalen Kohorte zugrunde liegen, nämlich das Datenschutzkonzept, den Ethikkodex, die Nutzungsordnung, die Einwilligungserklärung, die Teilnehmerinformation, das Treuhandstellenkonzept sowie Äußerungen von interessierter Seite. Darüber hinaus habe ich versucht, bei den Datenschutzbeauftragten von Bund und Ländern fündig zu werden, was sie zum Datenschutz in Wissenschaft und Forschung geschrieben haben. Ich habe das Bundesdatenschutzgesetz und auch die Entwicklung der EU-Datenschutzgrundverordnung, die noch nicht in Kraft getreten ist und derzeit zwischen den Organen der EU verhandelt wird, und nicht zuletzt die Deklaration von Helsinki gelesen. Diese wird im neuen Datenschutzkonzept der Nationalen Kohorte zitiert, wo der Begriff "Informed consent" ausdrücklich genannt wird, den die Betreiber aushebeln wollen. Ich habe all diese Texte gelesen, sie in eine Beziehung zueinander gesetzt und eine juristische Bewertung daraus gezogen. Mehr traue ich mir fachlich auch nicht zu. Aber ich glaube, daß ich dabei doch fündig geworden bin, und habe das mit Uta Wagenmann vom Gen-etischen Netzwerk in Berlin und Klaus-Peter Görlitzer von BioSkop diskutiert, so daß ich auch an inhaltliche Kritiker angedockt bin. Aber ich mache mir nicht anheischig, als Wolfgang Linder diese Kritik zu üben.

SB: Konnten Sie darüber auch einen Austausch unter Datenschutzkollegen herbeiführen?

WL: Wir haben Kontakt mit Alexander Dix, dem Berliner Datenschutzbeauftragten. In dessen Jahresbericht für 2013 war ein kritischer Passus zur Nationalen Kohorte. Er hat ebenfalls kritisiert, daß hierbei eine Datenbank installiert wird, die für eine sehr weitgehende und unterschiedliche Nutzung offensteht, und die Betroffenen keinen Einfluß darauf haben, für welche Forschungsvorhaben die Daten genutzt werden. Er hat Transparenz schon bei Einwilligung und später ein Beteiligungsverfahren, wenn die Daten zur Verfügung gestellt werden, gefordert. Die anderen Datenschutzbeauftragten haben folgende Stellungnahme abgegeben: Alle übrigen Landesdatenschutzbeauftragten haben sich auf unser Anschreiben hin für nicht zuständig erklärt und auf die Bundesbeauftragte verwiesen. Die Bundesbeauftragte hat wie folgt geantwortet: Man habe sich noch nicht vollständig abgestimmt, aber da im November 2014 der Startschuß für die Nationale Kohorte gegeben worden sei und die offenen Punkte nicht so schwerwiegend gewesen seien, daß man habe stören wollen, sei noch etwas Geduld erforderlich. Man habe derzeit andere Gesetzgebungsvorhaben, werde uns aber noch vor Jahresende 2014 eine Stellungnahme zuschicken. Wir haben jedoch bis heute keine Stellungnahme erhalten. Der Vorsitzende des Vereins Nationale Kohorte e.V. hat uns angeboten, wir sollten ihm doch einen Gesprächstermin nennen. Er hat jedoch keine schriftliche Stellungnahme abgegeben. Wir haben uns einverstanden erklärt und darauf hingewiesen, daß wir das Gespräch gerne mitschneiden würden. Seither haben wir nichts mehr von ihm gehört.

SB: Herr Linder, vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch.


Fußnoten:


[1] http://www.stoppt-die-e-card.de/

[2] Siehe dazu:
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0rb0021.html
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0ri0034.html

[3] http://www.grundrechtekomitee.de/


14. Mai 2015


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