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INTERVIEW/045: Am Lebensrand - der assistierte Suizid ...    Prof. Dr. Thomas Pollmächer im Gespräch (SB)


Der Fokus liegt auf der Verhinderung des Suizids

Gespräch mit dem Psychiater Prof. Dr. Thomas Pollmächer über den Gesetzgebungsprozess zum assistierten Suizid

Das Interview führte Christa Schaffmann - März 2022



Porträt von Prof. Dr. Thomas Pollmächer - Foto: © by Klinikum Ingolstadt

Prof. Dr. Thomas Pollmächer ist Direktor des Zentrums für psychische Gesundheit und Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Ingolstadt. Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).
Foto: © by Klinikum Ingolstadt

Schattenblick: Die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte enthält in Artikel 8 Absatz 1 eine Regelung zum Schutz des Privatlebens. In diesem sieht der Europäische Gerichtshof das Recht jeder Person verankert, selbst zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt ihr Leben enden soll. Mit seinem Urteil vom 26.2.2020 hat auch das Bundesverfassungsgericht diese Sicht verbindlich festgeschrieben. Da die Hilfe bei einer gesetzlich nicht strafbaren Handlung nicht unter Strafe gestellt werden kann, musste der § 217 im deutschen Strafgesetzbuch fallen. Der Gesetzgeber sah sich veranlasst, dennoch gesetzliche Regelungen für den assistierten Suizid zu schaffen. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) verfolgt und begleitet den Gesetzgebungsprozess. An welchem Punkt befinden wir uns?

Thomas Pollmächer: Es liegen mehrere Gesetzentwürfe vor. Sie bewegen sich im Spannungsfeld der vom Gericht vorgegebenen Freiheit des Einzelnen, sich selbstbestimmt das Leben zu nehmen, und der Forderung eines Schutzkonzepts für Menschen, deren Entschluss z.B. krankheitsbedingt nicht freiverantwortlich erfolgen kann. Der Gesetzentwurf mit den wenigsten Regularien ist der von Renate Kynast und Katja Koil. Dazwischen bewegt sich der von Katrin Helling-Plahr und Dr. Karl Lauterbach. Und der, der am stärksten darauf achtet, dass Menschen nicht durch die Maschen fallen, denen man anders helfen kann und muss als mit einem assistierten Suizid, ist der von Kirsten Kappert-Gonther und Lars Castellucci. Die DGPPN wird den Gesetzgebungsprozess weiterhin eng begleiten.

Schattenblick: Worauf kommt es Ihnen dabei besonders an?

Thomas Pollmächer: Eine gesetzliche Neuregelung muss in erster Linie denjenigen Hilfe und Schutz bieten, die sich aufgrund einer psychischen Erkrankung oder Krise, sozialen Drucks oder erlebter Ausweglosigkeit das Leben nehmen wollen und dabei nicht frei entscheiden können. Dabei sollte auch darüber gesprochen werden, wie wir unsere Gesellschaft und das Versorgungssystem so gestalten können, dass diese Menschen gar nicht erst suizidal werden.

Schattenblick: Für Sie geht es also bei den Gesetzentwürfen zum assistierten Suizid, über die wir hier sprechen, eigentlich um ein Suizid-Präventionsgesetz und nicht um ein Versorgungsgesetz, wie das seinerzeit beim Palliativversorgungsgesetz der Fall war?

Thomas Pollmächer: Das sehe ich so; Suizidprävention ist eine der Aufgaben des zu beschließenden Gesetzes. Das Bundesverfassungsgericht ruft den Gesetzgeber meines Erachtens ja nicht dazu auf, den assistierten Suizid zu ermöglichen. Dazu braucht es ja gar keine Gesetze. Im Moment haben wir eine Situation, in der der Paragraph 217 abgeschafft ist. Wir haben derzeit also keine Regelung. Dadurch ist eigentlich alles erlaubt. Wir sind für eine Regelung, die sicherstellt, dass Menschen, die z.B. durch eine psychische Erkrankung gar nicht zu einer freiverantwortlichen Entscheidung in der Lage sind, vor einem Suizid bewahrt werden und nicht von irgendjemandem ein Gläschen Natrium-Pentobarbital bekommen. Gleichzeitig erwarten wir von einer neuen Regelung, dass jeder, der sich mit einer Suizidabsicht trägt, auf Alternativen hingewiesen wird. Was wäre das für eine Gesellschaft, die eine solche Entscheidung kühl und desinteressiert hinnehmen würde?

Schattenblick: Hat denn die Phase, in der, wie Sie sagen, alles erlaubt ist, zu einer Suizidwelle geführt? Hat das Bundesverfassungsgericht mit der Aufhebung von § 217 eine Inflation von Selbsttötungen eingeleitet? Da Suizide statistisch erfasst werden, sollte das nachweisbar sein.

Thomas Pollmächer: Laut Statistischem Bundesamt sind 2019 an psychiatrischen Kliniken 796.076 vollstationäre Behandlungen und 170.725 teilstationäre Behandlungen durchgeführt worden; schätzungsweise 100.000 von ihnen nach einem Suizidversuch oder zumindest in einer Situation, in der sie suizidale Absichten oder Gedanken haben. Daten zu Suizidversuchen werden nicht systematisch erhoben. Nach Angaben der WHO entfallen zwischen 10 und 20 Suizidversuche auf einen Suizid.

Schattenblick: Die von den Sterbehilfeorganisationen in Deutschland vorgelegten Zahlen deuten auf keine Steigerung hin.

Thomas Pollmächer: In den Niederlanden, wo die Gesetzgebung schon länger gelockert ist, haben assistierte Suizide und Tötungen auf Verlangen deutlich zugenommen. Nach mir vorliegenden Statistiken sind sie von 2003 bis 2008 von unter 2000 auf über 6000 Fälle gestiegen. Ich erwarte, dass sich die Befürworter des assistierten Suizids in Deutschland und alle, die ihn systematisch oder kommerziell anbieten, verstärkt bemühen werden, dieses Angebot in die Öffentlichkeit zu tragen. Schon allein durch die mediale Reaktion auf das Karlsruher Urteil sprechen viel mehr Menschen darüber, und in Krankenhäusern wird auch häufiger nach der Möglichkeit eines assistierten Suizids gefragt. Statistiken dazu gibt es aber bisher nicht. Es besteht die Gefahr, dass - nicht sofort, aber im Verlauf von Jahren oder Jahrzehnten - der geplante Suizid zu einer Art Standard-Procedere am Ende des Lebens wird.

Schattenblick: Aber ist das nicht in einem gewissen Grade normal, auch angesichts immer mehr technischer Möglichkeiten zur Verlängerung des Lebens? In den zurückliegenden Jahren haben doch bereits immer mehr Menschen auf die Weiterentwicklung der Medizin reagiert und Patientenverfügungen getroffen, die eine Lebensverlängerung um jeden Preis ausschließen.

Thomas Pollmächer: Die wachsenden technischen Möglichkeiten der Medizin bergen tatsächlich die Gefahr, dass nicht nur das Leben, sondern auch Leiden verlängert wird. Aber solange Patienten selbst entscheiden können, dürfen sie ja jede weitere Maßnahme ablehnen.

Schattenblick: Die vorliegenden Gesetzentwürfe sehen in ähnlicher Form fast ausnahmslos eine medizinische Untersuchung durch speziell ausgewählte Ärzte sowie ein ausführliches Gespräch mit dem Suizidenten über dessen Motivation vor. Kann das nicht der Hausarzt oder der behandelnde Arzt übernehmen, der den Suizidenten viel länger und besser kennt und dem der Betroffene auch mehr vertraut?

Thomas Pollmächer: Wenn der Hausarzt diese Untersuchung und das Gespräch im Sinne des Gesetzgebers durchführen würde, ja. Doch das würde m.E. in vielen Fällen nicht geschehen - aus ganz unterschiedlichen Gründen - und ist kein Vorwurf. Außerdem sehen die Gesetzentwürfe auch in diesem Punkt eine unterschiedliche Abfolge vor. Der Entwurf von Lauterbach stellt den Besuch einer nicht ärztlichen Beratungsstelle an den Anfang. Diese nicht ärztliche Beratungsstelle stellt eine Bescheinigung aus, sofern sich keine Bedenken gegen einen assistierten Suizid ergeben. Mit dieser Bescheinigung soll der Suizidwillige dann zum Arzt gehen, der noch einmal unabhängig klärt, ob das ein selbstbestimmter Entschluss ist. Wenn ja, verschreibt er dem Suizidenten das Medikament. Beim Entwurf von Kappert-Gonther und Lars Castellucci steht die ärztliche Untersuchung am Anfang. Eine zweite folgt im Abstand von drei Monaten. Das ist also ein ganz aufwendiger Prozess, der nur für Menschen gedacht ist, die einen solchen Schritt langfristig planen und auch kein Problem damit haben, den Suizid hinauszuschieben. Das ist für viele Betroffene sicher nicht akzeptabel, weshalb es m.E. ein differenziertes, dem konkreten Fall angepasstes Vorgehen geben muss. Kappert-Gonther hat für die Gruppe schwer Erkrankter, die nicht mehr warten wollen auf den absehbar eintretenden Tod, eine Ausnahmeregelung vorgesehen.

Schattenblick: Denken Sie, dass für Suizidenten ein spezielles Beratungsnetz geschaffen werden muss, oder würde eine personell bessere Ausstattung bestehender Einrichtungen bereits ausreichen? Schließlich gibt es bereits viele Träger, die Beratung auch zu diesem Thema durchführen.

Thomas Pollmächer: Ich halte eine spezielle Beratung für unerlässlich, bei der der Fokus auf der Verhinderung des Suizids liegt. Ob dafür ein ganzes Netz neu geschaffen werden muss bzw. geschaffen werden kann, mag ich nicht entscheiden; in jedem Fall müsste die Beratungsstelle über speziell dafür geschultes Personal verfügen, vom Staat autorisiert sein und damit der Idee eines Präventionsgesetzes entsprechen.


Über die Autorin:

Christa Schaffmann ist Diplomjournalistin und arbeitet seit zehn Jahren als freie Autorin und PR-Beraterin, nachdem sie zehn Jahre Chefredakteurin von Report Psychologie, der Fach- und Verbandszeitschrift des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen, war.


Ein einleitender Text zum Sachstand sowie weitere Beiträge der Autorin zum Thema "Assistierter Suizid" in Form von Gesprächen mit Expert*Innen verschiedener Berufs- und Interessengruppen sind im Schattenblick unter dem kategorischen Titel "Am Lebensrand - der assistierte Suizid ..." zu finden unter:

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veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 174 vom 21. Mai 2022


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