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INITIATIVE/113: Flüchtlinge - Erste Hilfen für tiefe Wunden (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 7-8/2018

Flüchtlinge
Erste Hilfen für tiefe Wunden

von Dr. Peter Delius / Stine Nielandt


Mehr als 50 ärztliche und psychologische Fachleute engagieren sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe in Lübeck.


Seit 2014 beschäftigt sich der Lübecker Verein ePunkt mit dem Thema Engagement für Geflüchtete. Der Verein versteht sich als Bürgerkraftwerk und Freiwilligenagentur, er hat seit 2009 eine Reihe von Projekten aus den Bereichen Bildung, Inklusion, Flüchtlingsengagement und Nachbarschaft entwickelt.

2015, mit dem Beginn der Flüchtlingswelle, entstand die Idee zu dem Projekt "Erste Hilfen für tiefe Wunden", das seit 2017 von der Lübecker Possehl-Stiftung unterstützt wird und 2018 eine weitere Förderung erhielt.

Worum geht es bei dem Projekt?

In Lübeck lebende Migranten aus Flucht-Herkunftsstaaten werden in einer einjährigen Qualifizierung zu kultursensiblen Behandlungsbegleitern (KSBB) für Geflüchtete ausgebildet. Mit "Kümmern, Informieren, Übersetzen" sollen sie eine Lücke in der psychosozialen Versorgung, vor allem bei Menschen mit Traumafolgestörungen, schließen.

Das Besondere: Die einjährige Qualifizierung erfolgt vollständig ehrenamtlich durch ein Netzwerk von Ärzten, Sozialarbeitern und Psychologen.

Und das ganz Besondere: Zunächst wurde von der ehrenamtlichen Beteiligung von 20-30 Fachleuten ausgegangen, inzwischen sind über 60 Fachleute beteiligt, darunter ca. 50 Ärzte und Psychologen. Das Interesse am ersten Qualifizierungsdurchlauf war so groß, dass eine zweite Qualifizierung schon fest eingeplant ist.

Warum dieses Projekt?

Asylbewerber und Geflüchtete leiden sehr oft unter Posttraumatischen Belastungsstörungen (Steel et al 2009, Joksimovic 2008). In einer Studie von U. Gaebel in Kooperation mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wurde bei 40 Prozent der 78 zufällig ausgewählten Asylantragstellern eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) festgestellt (2005). Die deutschsprachigen Fachgesellschaften für Psychotraumatologie gehen in ihrer aktuellen Leitlinie sogar von einer 50-prozentigen Prävalenz der PTBS unter Kriegs-, Vertreibungs- und Folteropfern aus (Flatten et al 2011).

Mit der Konsolidierung ihrer sozialen Situation wächst die Zahl derjenigen Flüchtlinge, die sich mit Traumafolgestörungen an medizinische Versorgungseinrichtungen wenden, ohne dass hier in ausreichender Zahl Therapeuten zur Verfügung stehen. Von psychiatrischen Experten wurde dringend die Ausbildung kultursensibler Behandlungsassistenten gefordert (DGPPN Kongress November 2016).

Die Versorgung traumatisierter Flüchtlinge ist zudem durch Sprach- und Kulturbarrieren erschwert, und dies auf beiden Seiten: Aufseiten der Psychotherapeuten und Psychiater, die sich auf neue und unbekannte Situationen einstellen müssen und aufseiten der Geflüchteten und Asylsuchenden, denen die Behandlungssituation fremd, unbekannt, z. T. beängstigend und beschämend erscheint.

Wo gedolmetscht werden muss, entstehen zusätzliche Probleme, weil vereidigte Dolmetscher mit der psychotherapeutischen Behandlungssituation und Psychiater/Psychotherapeuten mit der Anwesenheit eines Dolmetschers oft nicht vertraut sind. All dies führt dazu, dass die erfolgreiche Behandlung von traumatisierten Flüchtlingen mit Bleibeperspektive oft nicht gelingt.

Andererseits: Die grundsätzliche Bereitschaft zu helfen ist groß, besonders bei Menschen aus psychosozialen Berufen. Fachkompetente Hilfsbereitschaft und Hilfsbedürftigkeit so zusammenzubringen, dass nachhaltige Versorgungsstrukturen entstehen, dafür bedarf es jedoch einer guten Projektkoordination.

Explizites Ziel des Projektes ist es, durch die Gewinnung vieler ehrenamtlicher ärztlicher und psychologischer Dozenten Schwellen abzubauen und die Bereitschaft zu erhöhen, sich in der Versorgung Geflüchteter zu engagieren.

Wie sieht das Projekt konkret aus?

Zweisprachige Migranten aus Flucht-Herkunftsstaaten werden zu "kultursensiblen Behandlungsbegleitern" qualifiziert und aufgewertet. Ihre Tätigkeit erleichtert die Diagnostik von Traumafolgestörungen, unterstützt die psychotherapeutische Behandlung und überbrückt Wartezeiten und Therapieengpässe. Zudem unterstützen die KSBB psychisch instabile Geflüchtete darin, trotz ihrer belastenden Lebenserfahrungen handlungsfähig zu bleiben und aktiv an ihrer Integration mitzuwirken.

In der Qualifikation erwerben die Teilnehmer Wissen über psychische Erkrankungen, kultur- und fluchtspezifische Auswirkungen, die psychosoziale Versorgung in Deutschland und den Prozess des Therapie-Dolmetschens. Mit den erworbenen Kenntnissen können sie psychisch Erkrankte unterstützen, den Weg zur Therapie ebnen und Therapeuten in der "Therapie zu dritt" unterstützen. Dadurch soll eine Lücke in der psychosozialen Versorgung Geflüchteter geschlossen werden.

Viele Migranten aus Krisenländern sind bereits als Dolmetscher in sozialen oder medizinischen Bereichen tätig. Ihre Qualifizierung zu KSBB trägt zur Aufwertung ihrer oft ehrenamtlichen Tätigkeit, aber auch zur eigenen Integration in den Arbeitsmarkt bei.

Von Beginn an waren in einer Steuerungsgruppe wichtige Akteure der psychosozialen Flüchtlingsversorgung in Lübeck einbezogen, darunter die Brücke Lübeck (Dr. Müller-Nehring), das Zentrum für Integrative Psychiatrie (ZIP) Lübeck (Jan Reinhardt), das Forum Psychotherapie Lübeck (Bettina Alberti und Peter Köhler), die Arbeiterwohlfahrt Lübeck (Jahan Mortezai) sowie das Zentrum Ausbildung Psychotherapie (ZAP) Nord (Dr. Frank Damhorst).

"Erste Hilfen für tiefe Wunden" fügte sich dadurch leicht in die bestehende Versorgungsstruktur ein: Die Gemeindediakonie Lübeck mit ihrem FLOW-Projekt organisiert eine Willkommenskultur von ehrenamtlichen Laien und am Lübecker Zentrum für integrative Psychiatrie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) besteht eine Ambulanz für psychisch kranke Geflüchtete.

Die Seminare und Vorlesungen begannen im Februar 2018. Zuvor wurden unter mehr als 40 Bewerbern 17 Teilnehmer für den ersten Durchlauf ausgewählt. Es waren Menschen dabei, die von der Qualifizierung bei ihren bisherigen Dolmetschertätigkeiten profitieren wollten, Personen, die Wissen in ihre jeweiligen Communities tragen wollen und Personen, die in der Qualifizierung eine berufliche Chance sahen. Es sind sechs männliche und elf weibliche Teilnehmer im Alter zwischen 22 und 59 Jahren dabei. Sprachlich vertreten sind Farsi, Arabisch, kurdische Sprachen, Russisch, Türkisch, Hindi, Dari, Paschtu und Urdu. Die Teilnehmer kommen aus Afghanistan, dem Iran, dem Irak, dem Libanon, der Türkei, Syrien, der Ukraine, Indien und Ägypten.

Wie läuft es?

Allen Befürchtungen zum Trotz bildete sich rasch eine kohärente und hoch engagierte Ausbildungsgruppe. Bisher ist noch kein Teilnehmer ausgeschieden. Es ist eine dichte Lernatmosphäre entstanden mit hoher Lernmotivation, die sich auch auf die ehrenamtlichen Dozenten überträgt. Es bedurfte aber zusätzlich einer Schulung der akademischen Fachleute in "leichter Sprache", damit das fachspezifische Vokabular von den Teilnehmern auch wirklich verstanden wird.

Die Teilnehmer lernen die fachlichen Inhalte entlang einer Liste von 2530 Fachbegriffen pro Ausbildungsmodul, d. h. jeweils ca. 25 Begriffe zu den Themen Angst, Depression, Sucht, PTSD etc. Dabei wurde klar, dass aus Arbeitsmarktperspektive die Qualifizierung auch als Sprachkurs B2+ mit gleichzeitiger psychosozialer Fachkunde interpretiert werden kann.

Was folgt daraus?

In dem Projekt werden engagierte Menschen mit Fluchthintergrund für soziale und Gesundheitsberufe qualifiziert, und zwar sprachlich und fachlich. Dies bringt die Teilnehmer nahe an den ersten Arbeitsmarkt heran. Um die damit verbundenen zusätzlichen Integrationsmöglichkeiten zu nutzen, werden auch Praktika in Bereichen organisiert, in denen die Arbeitsplatzchancen besonders hoch sind (z. B. als Betreuungskräfte im gerontopsychiatrischen Bereich oder als Auszubildende oder Krankenpflegehelfer/-innen im Krankenhausbereich).

Immer klarer wird auch, dass "Erste Hilfen für tiefe Wunden" ein Projekt gegenseitiger Qualifizierung geworden ist: In ungewöhnlicher Dichte und Diversität bekommen hiesige Fachleute Einblick in Versorgungstraditionen und das Krankheitsverständnis der Herkunftsländer, und das in ihrem jeweiligen Fachgebiet.

Alles in allem: Wir finden, dass das Projekt eine Win-Win-Win-Situation für alle Beteiligten schafft: Die psychosozialen Fachleute erhalten die Chance, sich in einer Weise bürgerschaftlich zu engagieren, wie es ihnen neben der eigenen Berufstätigkeit leicht möglich ist. Sie profitieren zudem von der soziokulturellen Vielfalt der Teilnehmer. Diese wiederum bekommen eine außerordentlich dichte Qualifizierung geboten, die ihnen zusätzliche Arbeitsmarktchancen eröffnet. Drittens werden strukturelle Verbesserungen in der Versorgung Geflüchteter aufgebaut, die nachhaltig und zukunftsfähig sind und sicher noch gebraucht werden.


50
Ärzte und Psychologen zählen zu den Ehrenamtlichen, die sich in Lübeck daran beteiligen, dass Migranten zu kultursensiblen Behandlungsbegleitern für Geflüchtete qualifiziert werden.

17
Geflüchtete waren für die erste Qualifizierung ausgewählt worden. Es waren Menschen dabei, die von der Qualifizierung bei ihren bisherigen Dolmetschertätigkeiten profitieren wollten, Personen, die Wissen in ihre jeweiligen Communities tragen wollen und Personen, die in der Qualifizierung eine berufliche Chance sahen.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 7-8/2018 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2018/201807/h18074a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, Juli-August 2018, Seite 12 - 13
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. August 2018

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