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STUDIE/308: Warum macht Schichtarbeit krank? (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 3/2011

Warum macht Schichtarbeit krank?
Zwillinge im Fokus dänischer und deutscher Wissenschaftler

Von Uwe Groenewold


Jeder fünfte Arbeitnehmer leistet Nacht- oder Schichtarbeit. Deren Auswirkungen werden von Forschern aus Kiel und Odense an Zwillingen untersucht.


Schichtarbeit macht krank: Wenn die "innere Uhr" aus dem Takt gerät und es zu Störungen im Schlaf-Wach-Rhythmus kommt, entwickeln sich häufig anhaltende Müdigkeit, Übergewicht und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wissenschaftler aus Kiel und dem dänischen Odense erforschen jetzt gemeinsam den Einfluss von Schichtarbeit, Schlafqualität und Ernährung auf den Stoffwechsel und die Aktivität der Gene.

An dem neuen Projekt "Schlaf, Arbeit und deren Konsequenzen für menschliche Stoffwechselkrankheiten" (SAME) sind die Abteilung für Humanbiologie des Zoologischen Instituts der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (Prof. Manuela Dittmar), das Institut für Humangenetik am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel (Prof. Reiner Siebert und Dr. Ole Ammerpohl), und die Syddansk Universitet in Odense (Prof. Kirsten Ohm Kyvik und Prof. Christine Dalgård) beteiligt. Die Forscher werden von der Europäischen Union mit Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung über einen Zeitraum von drei Jahren mit 730.000 Euro unterstützt. Langfristig wollen sie präventive Maßnahmen entwickeln, um das Risiko für Stoffwechselkrankheiten und Schlafstörungen zu verringern.

Der Mensch ist mit all seinen Funktionen mental, körperlich, hormonell und genetisch in wiederkehrenden Rhythmen organisiert. So steuert die innere Uhr unter anderem den Schlaf-Wach-Rhythmus, Herzfrequenz, Körpertemperatur und die Aktivität innerer Organe. Sitz der "Hauptuhr" ist ein paariges reiskorngroßes Areal im Hypothalamus, das als Nucleus suprachiasmaticus (SCN) bezeichnet wird. Die Nervenzellen der inneren Uhr geben rhythmisch Signale an andere Gehirnregionen. Diese reagieren auf die Impulse und schicken ihrerseits Nervenreize oder Hormone durch den Körper. Doch auch jede Körperzelle verfügt über einen eigenen Taktgeber, der die circadianen Rhythmen festgelegt und antreibt. Laborversuche haben gezeigt, dass Haut-, Lungen- oder Leberzellen in der Petrischale wochenlang einen bestimmten Rhythmus beibehalten haben; ihre innere Uhr ist in den Genen verankert und wird von der Hauptuhr im Gehirn synchronisiert.

Die biologischen Uhren sind Anpassungen an den steten Wechsel zwischen Hell und Dunkel, die durch endogene Rhythmen entstehen und durch das Tageslicht mit dem Tag-Nacht-Rhythmus synchronisiert werden. Nachts lassen sie das Schlafhormon Melatonin ansteigen, Lungenfunktion und Aktivität der Ausscheidungsorgane werden reduziert; kurz: Sie ermöglichen dem Organismus, sich zu erholen. Mit den ersten Lichtstrahlen dagegen wird die körperliche Aktivität angeregt - Puls und Blutdruck steigen ebenso wie der Spiegel des Stresshormons Cortisol deutlich an.

Etwa jeder fünfte Arbeitnehmer leistet Nacht- oder Schichtarbeit - und bringt damit seinen durch die innere Uhr vorgegebenen Schlaf-Wach-Rhythmus durcheinander. Ähnliches passiert beim Sprung über mehrere Zeitzonen nach einem Transatlantikflug. Die innere Uhr stellt sich erst nach Tagen bis Wochen auf die neuen Verhältnisse ein. Noch bis vor einigen Generationen standen die Menschen bei Tagesanbruch auf und legten sich bei einsetzender Dunkelheit wieder schlafen. "Als Anpassung daran entwickelte der Körper in Jahrtausenden der Evolution ein ausgeklügeltes System, das den Wach-Schlaf-Rhythmus über sogenannte Uhrengene und deren Genprodukte steuert und die nötige Regeneration des Körpers ermöglicht", erläutert Prof. Dittmar von der Uni Kiel. In den letzten Jahrzehnten hat jedoch ein rasanter Wandel stattgefunden. Die Arbeitszeiten richten sich bei vielen Menschen nicht mehr nach der Tageslänge, Schichtarbeit ist in vielen Berufsgruppen (Medizin und Pflege, Polizei, Feuerwehr) selbstverständlich. "Vermehrt auftretende typische Zivilisationskrankheiten bis hin zum Burnout-Syndrom und zur Frühinvalidität sind die Folge", so Dittmar. Häufig fühlen sich Schichtarbeiter sozial isoliert oder entwickeln eine Depression.

Um das Ausmaß der durch Schichtarbeit bedingten Veränderungen auf den menschlichen Körper und seine Zellen zu erforschen, werden Zwillingspaare aus Dänemark mithilfe molekularbiologischer Verfahren untersucht. Je einer der Zwillinge geht dabei einer Beschäftigung in Schichtarbeit nach. "Der Vorteil bei der Untersuchung von eineiigen Zwillingen ist, dass sie beide genetisch praktisch identisch sind und sich der Effekt der Lebensweise besser identifizieren lässt", so der Kieler Humangenetiker Ole Ammerpohl. "Daher ist die Zusammenarbeit mit dem nationalen dänischen Zwillingsregister, das seit Jahren Zwillinge hinsichtlich medizinischer und beruflicher Aspekte analysiert, für das Projekt essenziell."

Das populationsbasierte dänische Zwillingsregister wurde 1953 gegründet. Es umfasst alle Zwillinge und andere Mehrlinge, die zwischen 1870 und 2004 geboren wurden - bis heute mehr als 76.000 Paare, wie Kirsten Ohm Kyvik, Institutsleiterin an der Universität in Odense, erläutert. Für das aktuelle Projekt wurden 756 Zwillingspaare (309 eineiige und 447 zweieiige) gefragt, ob sie als Probanden zur Verfügung stehen. Rund 82 Prozent haben ihre Teilnahme zugesagt.

Intensiver Forschungsbedarf besteht, weil die Auswirkungen der Schichtarbeit offensichtlich weit fundamentaler sein können, als bislang vermutet wurde: Sie könnte direkt unsere Erbsubstanz und die darin erhaltenen Gene beeinflussen. "Die Aktivität der Gene wird durch kleine Schalter an der DNA, die DNA-Methylierung, gesteuert", erklärt Genetiker Ammerpohl. "Diese DNA-Methylierung wird veränderten Umweltbedingungen angepasst und kann anschließend sogar an die nachfolgenden Generationen weiter vererbt werden."

Solche epigenetischen Mechanismen spielen in der Forschung derzeit eine große Rolle und werden etwa bei der Krebsentstehung oder der pränatalen Prägung intensiv diskutiert. Zum Beispiel haben kleine, untergewichtige Neugeborene ein erhöhtes Risiko, später übergewichtig zu werden und Bluthochdruck zu entwickeln. Vorgeburtliche Wachstumsverzögerungen können etwa durch Stress oder mangelnde Ernährung der Mutter, aber auch durch Alkohol und Nikotin, die während der Schwangerschaft konsumiert wurden, hervorgerufen werden. "Die Erforschung solcher Fragestellungen ist häufig kompliziert, da beim Menschen viele verschiedene, nicht zu kontrollierende Faktoren zusammenkommen - Unterschiede im Genom sowie unterschiedliche Lebensweisen und Erfahrungen. Ein sicherer Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Lebensweise der Vorfahren und definierten epigenetischen Veränderungen bei den Nachkommen ist deshalb sehr schwierig." Das aktuelle Forschungsprojekt sei auch deswegen so interessant, weil hier genetisch identische Zwillinge verglichen werden, die zudem noch in einer relativ kleinen Region leben. Dadurch können klassische genetische Faktoren überwiegend ausgeschlossen werden, so Ammerpohl.

Neben der Schichtarbeit selbst begünstigt auch das Ernährungs- und Schlafverhalten die Entwicklung von Stoffwechselkrankheiten. Deshalb erfasst das Projekt auch, wer wie viel isst und wie gut schläft sowie verschiedene Hormon- und Blutwerte der Zwillinge. Die Universität Odense wählt die Probanden aus, kontaktiert, berät und besucht sie. Für diese Besuche steht ein eigens ausgerüsteter Campingbus zur Verfügung. Es werden verschiedene Proben gesammelt (z.B. Speichel, Blut), einige grundlegende Daten erhoben (Gewicht, Größe, Körperfett, aber auch Blutwerte) und schließlich Fragebögen ausgefüllt (Schlafmuster, Angaben zu Arbeit, Lebensstil etc.). Die benötigten aufbereiteten Probenmaterialien und Daten werden dann zur weiteren Analyse nach Kiel zu den Humanbiologen und -genetikern geschickt. Alle Parameter werden an der Universität in Odense zueinander in Bezug gesetzt und mit speziellen mathematischen Modellen ausgewertet.

Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit wurde von Kirsten Ohm Kyvik und Manuela Dittmar initiiert. Die dänische Arbeitsgruppe, zu der federführend noch Krankenschwester Henriette Cederholm gehört, koordiniert und organisiert das gemeinsame Forschungsprojekt SAME.

Das Zusammenspiel von Lebensweise, Schlaf, Metabolismus und Epigenetik ist eine sehr komplexe Thematik. Chronobiologen etwa empfehlen Nachtarbeitern, tagsüber im Dunkeln zu schlafen und bei hellem Licht zu arbeiten. Jetlag-Geplagte wie Piloten oder Stewardessen sollten sich tagsüber viel draußen aufhalten - damit das Licht als Zeitgeber für die Synchronisation von innerer Uhr und Umweltbedingungen fungieren kann.

Ob diese Ratschläge tatsächlich vorbeugenden Charakter haben, ist unklar. Ole Ammerspohl: "Es ist das Ziel von SAME, Vorschläge für mögliche Präventionsmaßnahmen zu entwickeln. Im Moment steht das Projekt jedoch noch am Anfang und ohne ausreichende Daten sind alle Antworten spekulativ."


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 3/2011 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2011/201103/h11034a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt März 2011
64. Jahrgang, Seite 46 - 47
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. April 2011