Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → SOZIALES


SUCHT/704: Online-Sucht - Kontrollverlust und Flucht aus der Realität (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 9, September 2018

Online-Sucht
Kontrollverlust und Flucht aus der Realität

Interview mit Dr. Tim Aalderink


Pathologischer Computergebrauch nimmt zu. Interview mit Dr. Tim Aalderink, Leitender Psychologe der Schön Klinik Bad Bramstedt, über die Sucht und mögliche Therapiekonzepte.



SHÄ: Was versteht man unter Onlinesucht?

Dr. Tim Aalderink: Der Übergang von der intensiven Computernutzung zur Computersucht liegt im Kontrollverlust - nicht etwa im reinen Ausmaß des Computergebrauchs. Betroffenen gelingt es zum Beispiel nicht mehr, den Computer seltener oder kürzer zu nutzen. Kennzeichnend ist zudem, dass sie den Computer weiterhin ausufernd nutzen, auch wenn sie die z.T. erheblichen negativen Folgen des übermäßigen Computergebrauchs psychisch, körperlich und im sozialen Umfeld deutlich spüren.

Woran erkenne ich als niedergelassener Arzt Onlinesucht?

Aalderink: Es gibt verschiedene Warnsignale, die auf ein problematisches Nutzungsverhalten hindeuten. Wenn Betroffene oder Angehörige von ausufernden Nutzungszeiten in der Freizeit berichten und diese im Zusammenhang mit einer Vernachlässigung von Verpflichtungen und sozialen Kontakten stehen, ist es sinnvoll, genauer nachzufragen. Auch die zunehmende gedankliche Vereinnahmung, in deren Folge die Betroffenen fast ständig innerlich mit der Computernutzung beschäftigt sind, deutet auf ein Problem hin. Im Kern geht es um die Kriterien des Kontrollverlustes beim Nutzungsverhalten, die Priorisierung der Computernutzung gegenüber bisherigen Lebensinteressen sowie die Fortsetzung der exzessiven Nutzung trotz relevanter negativer Folgen.

Welche Zahlen liegen vor?

Aalderink: Man kann in Deutschland von einer Prävalenz der Internetabhängigkeit in der Gesamtbevölkerung von ein bis zwei Prozent, bei Jugendlichen von bis zu fünf Prozent ausgehen.

Welche Personengruppen sind besonders betroffen?

Aalderink: In Studien zeigt sich eine deutlich erhöhte Prävalenz bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, was sich auch mit unserer klinischen Erfahrung deckt. Grundsätzlich können alle Altersgruppen beiderlei Geschlechts betroffen sein. Besonders häufig kommen jedoch junge Männer mit einer schweren Computersucht in unsere Behandlung.

Was sind die Ursachen?

Aalderink: In eine echte Computersucht geraten i.d.R. nur Menschen, die vorher durch größere psychische oder soziale Probleme belastet waren und aufgrund mangelnder Unterstützung keine Auswege finden konnten. Wenn zugleich eine besondere Affinität für Onlineaktivitäten, Computerspiele und Ähnliches besteht, ist die Gefahr eines Rückzuges in die virtuelle Welt groß. Computer, Smartphone und Internet sind ubiquitär verfügbar und per se legal. Da Computerspiele genauso wie gute Romane oder Filme so gestaltet sind, dass der Rezipient oder Nutzer von ihnen gefesselt wird, verführen diese ohnehin zum längeren Versinken. Der Rückzug in die virtuelle Welt ist mit vielfältigen kurzfristig positiven Erlebnissen verbunden. Das kann für problembelastete Menschen mit geringen Ressourcen relevant sein. Sie fliehen auf diesem Weg aus der belastenden Realität, vermeiden Konflikte, erhalten etwa in Mehrspieler-Online-Rollenspielen Anerkennung und Zugehörigkeitsgefühl und nicht zuletzt erleben sie in der virtuellen Welt das Gefühl von (vermeintlicher) Kontrolle und Selbstbestätigung. Dies sind einige der kurzfristig positiven Konsequenzen, die eine exzessive Nutzung des Computers aufrechterhalten. Gleichzeitig werden die Probleme und die Überforderung der Betroffenen in der realen Welt immer größer. Diese langfristig negativen Konsequenzen tragen dazu bei, dass Betroffene sich weiterhin oder verstärkt in die virtuelle Welt zurückziehen und die exzessive Computernutzung beibehalten.

Warum ist es so schwer, die Sucht alleine zu besiegen?

Aalderink: Die Betroffenen waren meist schon vor ihrer Sucht durch psychische und soziale Probleme überfordert, meist aus Mangel an Unterstützung und individuellen Ressourcen. Durch exzessive Computernutzung erfahren sie kurzfristige Entlastung, langfristig werden sie jedoch immer passiver und auch die Probleme und damit ihre Überforderung mit der Situation werden größer. Ohne diesen Problemhintergrund relevant zu verändern, kann die Computersucht nicht überwunden werden - und dazu brauchen die Betroffenen professionelle Hilfe. Zudem deuten die Befunde zu den neurobiologischen Grundlagen der Computersucht darauf hin, dass es zu strukturellen und funktionellen Veränderungen im mesolimbischen dopaminergen Belohnungssystem kommt, die denen bei substanzgebundenen Süchten ähneln. Bei exzessivem Computergebrauch scheint das Gehirn zu lernen, besonders sensibel und reagibel auf die Computernutzung zu reagieren, wenn es um die Regulation von Gefühlen geht. Gleichzeitig verlernt es regelrecht, durch andere zuvor Freude bereitende Verhaltensweisen aktiviert zu werden. Diese Verhaltensweisen treten immer mehr in den Hintergrund und die Computernutzung wird für die Betroffenen zur einzig noch wirkungsvollen Strategie, Gefühle zu regulieren. Durch intensives Computerspielen kann vermehrt Dopamin freigesetzt werden, was zu einem Lustempfinden des Spielers führt. Bei fortgesetztem exzessiven Spielen scheint das dopaminerge System sensitiviert zu werden und es entwickelt sich eine Übererregbarkeit gegenüber computerspielassoziierten Reizen. In der Folge werden diese Reize bevorzugt aufgesucht. Um der erheblichen Eigendynamik der Computersucht entgegenwirken zu können, müssen die Betroffenen besondere Strategien zur Selbststeuerung erlernen und bei der Verbesserung ihrer Emotionsregulation unterstützt werden. Außerdem sollten sie Hilfe dabei erhalten, eine eigenständige und damit tragfähige Entscheidung für ein anderes Nutzungsverhalten zu treffen.

Was können Angehörige tun?

Aalderink: Zunächst sollten Menschen aus Generationen, die nicht mit Computer und Internet aufgewachsen sind, bedenken, dass auch eine sehr häufige Nutzung von Computer und Smartphone normalerweise nicht pathologisch ist, auch wenn man vielleicht persönlich ein anderes Nutzungsverhalten als angemessen empfindet. Erst wenn Betroffene tatsächlich die Kontrolle über die Nutzung verlieren und ganz erhebliche negative Folgen auftreten, kommt man in den Bereich einer Computersucht.

Gleichzeitig ist es als Angehöriger wichtig, die eigenen Wahrnehmungen ernst zu nehmen und die Beobachtungen und Sorgen mit den Betroffenen immer wieder offen anzusprechen. Dies sollte ruhig und möglichst in Situationen erfolgen, in denen die Betroffen gerade nicht vor dem Computer sitzen. Dabei ist die Ausübung von Druck meist kontraproduktiv. Die Angehörigen sollten sich jedoch nicht irritieren lassen, wenn die Betroffenen zunächst abwehrend oder gar aggressiv reagieren. Viele Betroffene und Angehörige berichten rückblickend, dass wiederholte Hinweise auf konkrete professionelle Beratungsangebote hilfreich gewesen seien, ebenso wie das Angebot, auf Wunsch auch gemeinsam einen Arzt des Vertrauens oder eine Beratungsstelle aufzusuchen, um sich mit professioneller Hilfe ein objektives Bild von dem möglichen Problem zu machen. Angehörige sollten jedoch immer bedenken, dass sie das Verhalten des Betroffenen nicht ändern können, das kann dieser letztlich nur selbst tun. Für den Umgang mit dieser oft sehr herausfordernden Situation brauchen Angehörige nicht selten selbst Unterstützung, z. B. durch eine Suchtberatungsstelle.

Was können niedergelassene Ärzte tun?

Aalderink: Hilfreich ist es, die Betroffenen und ihre Angehörigen sachlich über die (Verdachts-)Diagnose und mögliche Konsequenzen einer Computersucht zu informieren sowie auf geeignete Beratungs- und Behandlungsangebote hinzuweisen. Hier sind Suchtberatungsstellen mit Kompetenz im Bereich Medienabhängigkeit gute Anlaufstellen, ebenso wie entsprechend spezialisierte Ärzte und Psychotherapeuten, für sehr schwere Fälle auch Kliniken mit störungsspezifischen Behandlungsangeboten. Für die Gespräche der Ärzte mit den Betroffenen gilt wie für die Angehörigen, dass zu viel Druck auf die Betroffenen meist kontraproduktiv wirkt.

Wann ist eine stationäre Aufnahme erforderlich?

Aalderink: Eine stationäre Aufnahme ist für eher schwer Betroffene erforderlich, mit einer stark ausgeprägten Computersucht sowie in der Regel mit komorbiden psychischen Störungen in akuter Ausprägung. Typischerweise sind dies Angststörungen, Essstörungen oder Depressionen. Auch ein langer und umfassender Rückzug, Verwahrlosungstendenzen oder ausgeprägte körperliche Folgeerscheinungen sprechen für eine stationäre Behandlung.

Was erwartet die Betroffenen in der stationären Therapie?

Aalderink: In der stationären Therapie geht es für die meisten schwer Betroffenen zunächst einmal darum, ihren Tag wieder angemessen zu strukturieren, den Schlaf-Wach-Rhythmus zu synchronisieren und eine erste soziale Aktivierung zu ermöglichen. Insgesamt fördern wir im Lauf der Therapie eine positiv besetzte Wiederannäherung an die reale Welt, wofür nach der Aufnahme zunächst eine komplette Computer- und Internetabstinenz notwendig ist.

In einer umfassenden Analyse wird in der Psychotherapie gemeinsam mit dem Patienten der individuelle Hintergrund seiner Problematik herausgearbeitet. Dabei kann es sich zum Beispiel um tiefgreifende Selbstwertprobleme, soziale Ängste, Kontaktstörungen, belastende Erlebnisse, familiäre Probleme und Ähnliches handeln. Auf Basis dieses individuellen Störungsmodells arbeiten wir dann therapeutisch am spezifischen Problemhintergrund des Patienten. Parallel diagnostizieren und behandeln wir die komorbiden Störungen und Erkrankungen. Wir unterstützen die Patienten dabei, eine eigene Entscheidung zum künftigen Umgang mit dem Computer zu finden und fördern die intrinsische Änderungsmotivation. Ziel sollte eine Teilabstinenz sein, in deren Rahmen die Betroffenen für sie ungefährliche Aktivitäten wie das Abrufen von E-Mails oder das Buchen eines Bahntickets am Computer weiter ausführen können, gleichzeitig aber Aktivitäten mit individuell hoher Rückfallgefahr mittelfristig komplett unterlassen. Die dafür notwendige Kompetenz zur Selbststeuerung lernen die Patienten im Rahmen der stationären Therapie durch das Üben von Strategien zum kontrollierten Computergebrauch. Entscheidend sind auch die Entwicklung einer psychosozialen Perspektive und die Planung der ambulanten Weiterbehandlung.

Vielen Dank für das Gespräch.


Checkliste: Der 10-Punkte-Test

Liegt das Ausmaß der Computernutzung noch im grünen Bereich oder wird es kritisch? Der nachfolgende Check ermöglicht eine erste Einschätzung des Verhaltens, kann aber keine fachliche Diagnose ersetzen. Besteht ein begründeter Verdacht auf pathologischen Computergebrauch, sollten Betroffene oder auch Angehörige professionelle Hilfsangebote in Anspruch nehmen. Erste Anlaufstellen sind in der Regel Hausärzte oder Beratungsstellen.

Geben Sie an, welche der folgenden Aussagen zutreffend sind:

  • Ich verbringe täglich mehr als fünf Stunden meiner Freizeit mit Computerspielen / Chatten / Surfen.
  • Das Ausschalten des Computers / des Smartphones fällt mir schwer. Mit meinen Freunden oder meiner Familie gibt es deshalb auch immer wieder Diskussionen.
  • Wenn ich am Computer spiele / chatte / surfe, vergesse ich alles um mich herum.
  • Auch wenn ich nicht am Computer sitze / online bin, denke ich ständig an meine Online-Aktivitäten.
  • Außer Computerspielen / Chatten / Surfen habe ich kaum oder gar keine anderen Freizeitaktivitäten.
  • Kann ich nicht so viel Zeit am Computer / im Internet verbringen, wie ich möchte, dann bin ich frustriert / lustlos / aggressiv oder unruhig.
  • Ich habe schon einmal versucht, in meiner Freizeit ohne Computer / Internet auszukommen, das hat aber nicht gut funktioniert.
  • Alltagsaktivitäten wie Arbeit, Schule oder Familienleben vernachlässige ich schon mal, um stattdessen lieber am Computer zu sitzen.
  • Ich benutze Ausreden, um ungestört am Computer zu spielen / zu chatten / zu surfen.
  • Ich fühle mich gut und vergesse meine Alltagssorgen, wenn ich am Computer spiele / chatte / surfe.

Auswertung:

Weniger als zwei Mal "Ja": Ihr Ergebnis deutet nicht darauf hin, dass derzeit bei Ihnen ein problematisches Nutzungsverhalten von Computer und Internet vorliegt. Dennoch wäre es günstig, wenn Sie Ihr Nutzungsverhalten immer mal wieder kritisch reflektieren.

Zwei bis drei Mal "Ja": Bei Ihnen liegt möglicherweise ein problematisches Nutzungsverhalten von Computer und Internet vor. Wir empfehlen Ihnen eine kritische Selbstbeobachtung.

Außerdem sollten Sie einmal versuchen, in Ihrer Freizeit zeitweilig auf Computer und Smartphone zu verzichten.

Mehr als drei Mal "Ja": Bei Ihnen liegt wahrscheinlich ein problematisches Nutzungsverhalten von Computer und Internet vor. Sie sollten professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, um dies individuell abklären zu lassen und falls notwendig gezielte Unterstützung zu erhalten.


5 %

So hoch schätzen Experten den Anteil an internetabhängigen Jugendlichen. In der Gesamtbevölkerung liegt der Anteil zwischen ein und zwei Prozent.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 9/2018 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2018/201809/h18094a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen
Ärzteblatts:

www.aerzteblatt-sh.de

*

Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, Nr. 9, September 2018, Seite 24 - 25
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-272, -273, -274,
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.de
www.aeksh.de
www.arztfindex.de
www.aerzteblatt-sh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Oktober 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang