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GEWALT/205: Genitalverstümmelung - Praxis, Klischees, Vorstellungen (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 111, 1/10

Praxis - Klischees - Vorstellungen
Das Zusammentreffen verschiedener Komponenten im Zusammenhang mit weiblicher Genitalverstümmelung

Von Iris Gugenberger


Der folgende Artikel soll einen einführenden Überblick und Anregungen zur weiteren Auseinandersetzung mit weiblicher Genitalverstümmelung (FGM) liefern und beleuchtet besonders die gesundheitlichen Folgen von FGM und die Besonderheiten im Umgang mit Betroffenen in Industrieländern.


FGM (Female Genital Mutilation) wird auf der ganzen Welt durchgeführt. Dieser Brauch, den es schon seit Jahrhunderten gibt und der verschiedene Ursprünge hat, erregt erst seit relativ kurzer Zeit in Europa breite Aufmerksamkeit. Der Umgang mit Betroffenen erfordert Einfühlungsvermögen in den geschichtlichen und sozioökonomischen Kontext der jeweiligen Kultur.

FGM hat sehr oft mit uralten Körper- und Rollenbildern zu tun und resultiert aus Vorstellungen von Jungfräulichkeit, Ästhetik und Sexualität des weiblichen Geschlechts. Nur durch die Veränderung ihres Genitals wird ein Mädchen "offiziell" zur Frau. Auch religiöse Gründe werden oft genannt, die FGM rechtfertigen sollen. Jedoch ist FGM in keiner Religion - auch nicht im Koran, wie oft behauptet wird - vorgeschrieben.

Verbunden mit FGM sind zahlreiche gesellschaftliche Gepflogenheiten, die für Frauen in den von FGM-betroffenen Kulturen sozial und finanziell äußerst wichtig sind. Beispielsweise ist FGM für Frauen unter anderem ökonomisch überlebensnotwendig, da dies die Vorbedingung für eine Hochzeit ist. Die Familie ist die lebenserhaltende Institution, in der die Frau eine bestimmte Rolle einnimmt. Würde eine FGM nicht durchgeführt werden, könnte dies in weiterer Folge zur Entehrung und zum Ausschluss aus der Familie führen. Vor diesen Hintergründen ist es nicht leicht, FGM so einfach zu beenden. Veränderungen müssen von den betroffenen Gesellschaften selbst ausgehen und Unterstützungen von "außen" müssen gut bedacht und sinnvoll eingesetzt werden. Daher ist es speziell im entwicklungspolitischen Bereich notwendig, FGM-Aufklärung im Rahmen von anderen Projekten durchzuführen, um eine höhere Akzeptanz unter der betroffenen Bevölkerung zu erreichen.


Gesundheitliche Folgen

FGM führt bei Frauen zu schweren psychischen und physischen Folgen, die ihr Leben meist erheblich beeinträchtigen. Neben unvorstellbaren Schmerzen während der Verstümmelung, die oft ohne Narkose und unter unhygienischen Bedingungen durchgeführt wird, zählen zu weiteren akuten Problemen starke Blutungen und Schockreaktionen. Zu den längerfristigen körperlichen Folgen zählen etwa Schmerzen bei der Menstruation, beim Urinieren, beim Geschlechtsverkehr bis hin zu Komplikationen bei der Geburt. Nicht selten sterben Frauen auch beim Gebären ihres Kindes. Psychische Probleme sind unter anderem Depressionen, Angststörungen, Misstrauen und genereller Vertrauensverlust zu nahestehenden Personen.

Gesundheitliche Probleme werden von Betroffenen oft nicht im Zusammenhang mit der Verstümmelung wahrgenommen, sondern als selbstverständlich gesehen. In vielen Aufklärungskampagnen weltweit wird daher die Verbindung von FGM und damit verbundenen Folgen verdeutlicht.


Herausforderungen und Hindernisse im Umgang mit Betroffenen

MedizinerInnen in Industrieländern stehen vor einer großen Herausforderung, wenn sie mit Betroffenen von FGM konfrontiert werden, und können meist schwer mit der ungewohnten Situation umgehen. Nicht nur die emotionale Belastung der Betroffenen muss bedacht werden, oft kommen auch sprachliche Barrieren hinzu.

Vor dem Hintergrund, dass die betroffenen Frauen oft Migrantinnen sind und durch diese Situation spezielle damit verbundene Probleme haben, bedürfen sie einer ganz besonderen Umgangsweise. Erschwerend kommt hinzu, dass das Thema unter Betroffenen meist ein großes Tabu darstellt, wodurch ihre Betreuung noch schwieriger wird.

Trans- bzw. interkulturelle Kompetenz spielen im Umgang mit Betroffenen also eine zentrale Rolle. Eine adäquate Beratung und Betreuung von FGM-Betroffenen benötigt gender- und kultursensible Richtlinien. Kompetente Behandlung ist sachlich, empathisch und urteilsfrei sowie unter Verwendung einer adäquaten Terminologie - z. B. sollen Begriffe wie "Verstümmelung" in Anwesenheit der Betroffenen vermieden werden, da diese als herabwürdigend wahrgenommen werden - durchzuführen.


FGM in Ländern des Nordens

Von Gruppen, die FGM nicht praktizieren, werden nicht selten Vorwürfe gegen Personen aus FGM-praktizierenden Kulturen gerichtet, die für diese völlig unerwartet kommen. Sie sind so sozialisiert worden, dass die Verstümmelung der Genitalien selbstverständlich zu ihrem Leben dazugehört. Eltern lassen diese Prozedur an ihren Töchtern durchführen, weil sie ihnen damit Gutes tun wollen.

In den Medien und der Öffentlichkeit in den Ländern des Nordens werden FGM-praktizierende Gruppen oft als barbarisch und grausam dargestellt. Die sensationsgeile Berichterstattung wird nach wie vor durch den Glauben gestützt, dass so etwas "Exotisches" bei uns nicht existiert. Daher berichten nur wenige Medien und Institutionen sachlich und informativ über das Thema, das auch Österreich betrifft.

In Industrieländern wird mit FGM-praktizierenden Kulturen sehr unterschiedlich umgegangen. Es wurden verschiedene Ansätze zur Überwindung von FGM im Laufe von jahrelangem Aktivismus entwickelt. Die unterschiedlichsten Ansätze, betroffenen Frauen zu helfen, wurden und werden "ausprobiert". Viele Länder, wie auch Österreich, verfolgen Präventivansätze zur Bekämpfung von FGM - durch Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit soll eine weitere Verbreitung von FGM verhindert werden. Andere Länder, wie etwa Frankreich, hingegen versuchen auch durch spezifische rechtliche Maßnahmen Genitalverstümmelung zu beenden. So verklagt und verurteilt Frankreich regelmäßig BeschneiderInnen und Eltern, die ihre Kinder verstümmeln lassen. Diese beiden Ansätze sind natürlich nur zwei von vielen, die auch nicht separat voneinander verfolgt werden können.


FGM und die plastische Chirurgie: Lösungen und Parallelen

Ein französischer Arzt behauptet, beschnittenen Frauen ihre Sexualität "zurück"-geben zu können. Dr. Foldès hat eine Methode entwickelt, mit der er nicht nur die Klitoris wiederherstellen kann, sondern durch die auch ca. 80% seiner Patientinnen dort wieder fühlen können. Die Durchführung dieser Operation wird sogar von der französischen Sozialversicherung anerkannt. Auch wenn Risiken und ein Wiedererleben des Traumas bei den Frauen nicht ausgeschlossen sind, ist es dennoch eine besondere Leistung der plastischen Chirurgie, die physischen Verletzungen zu korrigieren.

Um zu verdeutlichen, in welcher Lage sich verstümmelte Frauen befinden, eignen sich wiederum Vergleiche mit Schönheitsoperationen in Ländern des Nordens. Frauen wollen dort nicht selten ihr Genital chirurgisch korrigieren lassen, um dem gesellschaftlichen Zwang nachzukommen, demnach sie und ihr Geschlecht ewig jung bleiben sollen. Diese operativen Eingriffe bringen trotz modernster Technik nicht selten schwerwiegende Probleme mit sich. Hierbei stellt sich die Frage, warum Frauen sich zu diesem Schritt entschließen. Ist es tatsächlich ihr freier Wille? Oder unterliegen sie nicht auch gesellschaftlichen Normen und Idealen? Über Parallelen zu FGM und Fragen über die Sinnhaftigkeit kann man sicher lange diskutieren. Die wichtigste Frage gilt überall: Wie können sich Frauen von gesellschaftlichen Zwängen befreien?


Was bleibt für die Zukunft?

Abschließend bleibt zu sagen, dass die Thematik rund um FGM in ihrer Komplexität nur sehr rudimentär von einer breiten Öffentlichkeit erfasst wird. Wenngleich sich einiges getan hat und man begonnen hat, Menschen aus nicht betroffenen Kulturen im Umgang mit betroffenen Personen auszubilden, sind an der Oberfläche trotz unglaublicher Anstrengungen von AktivistInnen nach wie vor oft Rassismus, Vorurteile, aber vor allem auch Ignoranz gegenüber FGM-praktizierenden Gesellschaften vorherrschend.


Literaturtipps:

Terre des Femmes (Hg.): Schnitt in die Seele. Weibliche Genitalverstümmelung - eine fundamentale Menschenrechtsverletzung (Frankfurt am Main 2003) / Wakolbinger Doris: Weibliche Genitalverstümmelung (Linz: 2005).


Zur Autorin:

Iris Gugenberger ist Doktoratsstudentin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und schrieb ihre Diplomarbeit zum Thema "Weibliche Genitalverstümmelung. Problemlösungsansätze und ihre Realisierung in Österreich" (2009).


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 111, 1/2010, S. 14-15
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Sensengasse 3, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
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http://www.frauensolidaritaet.org

Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
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andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juni 2010