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INITIATIVE/041: Medizinische Friedensarbeit (3) - Die Bewegung "Peace through Health" (IPPNWforum)


IPPNWforum | 119 | 09
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Frieden durch Gesundheit
Auf dem Weg zu einer akademischen Disziplin

Von Dr. Nicola Kaatsch


"Peace through Health" ist eine Bewegung aus den frühen 90iger Jahren. Dabei werden Ansätze erarbeitet, wie der Sektor Gesundheit einen spezifischen Beitrag zu "multi-track peacework" leisten kann. Dies geschieht zeitgleich sowohl in Form kreativer Prozesse im intellektuellen Diskurs als auch in internationaler Projektarbeit. So soll der Sektor Gesundheit als eigenständiger "Track" in die Friedensarbeit eingebunden werden. Die Aktivitäten reichen von reiner Aufklärungsarbeit zu den gesundheitlichen Folgen von Krieg und Gewalt, über Mediationsbeiträge bis hin zu friedensschaffenden und -erhaltenden Maßnahmen.


Diese Entwicklung soll hier erklärt und mit zwei Beispielen illustriert werden. Zunächst mit der Geschichte von Wajir, einem Beispiel für die praktische Umsetzung von "multi-track peacework", damals noch ohne einen spezifischen Beitrag aus dem Sektor Gesundheit. Danach soll am Afghanistan Programm der McMaster Gruppe aus Kanada gezeigt werden, wie der Bereich Gesundheit als eigenständiger Sektor Friedensarbeit leistet.


Public Health

Eine entscheidende Grundlage schuf 1978 die Deklaration von Alma Ata, die den Gesundheitsbegriff neu definierte und Public Health als intersektorale Wissenschaft etablierte. Dahinter stand die Idee, dass man den Einfluss der Aktivitäten und Strukturen einzelner gesellschaftlicher Lebensbereiche auf die Gesundheit berücksichtigen sollte und sich dieses Wissen in der Prävention, Kuration und Rehabilitation widerspiegeln muss. Diese Entwicklung weg von einem rein biomedizinischen Modell hin zu einem bio-psycho-sozialem Verständnis von Krankheit und Gesundheit ist in den Köpfen vieler Mediziner inzwischen vollzogen, doch in der täglichen Praxis werden die allgemeinen äußeren Lebensbedingungen häufig vernachlässigt. Das kurative System wird meist erst in akuten Krisen aktiv und operiert in der Regel symptom- und defizitorientiert. Ein Phänomen, das nicht allein in der Medizin, sondern in vielen gesellschaftlichen Bereichen zu beobachten ist.

Folgt man nun dem bio-psycho-sozialen Grundsatzgedanken von Public Health, so überschneiden sich die Themenbereiche Gesundheit und Frieden in vielfältiger Weise. Sie bilden zwei sich überschneidende Kreise in einem breiten Kontext von menschlichem Wohlergehen und ihre Schnittmenge spiegelt die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung von harmonischem menschlichen Funktionieren wieder. Daraus läßt sich ableiten, dass Gesundheitsakteure und Friedensaktivisten Verbündete sind, die in einem System der gemeinsamen Fürsorge für ein friedfertiges und gesundes Leben in einer Gesellschaft arbeiten.

Frieden verhält sich zu Gewalt wie Gesundheit zu Krankheit. Gewaltfreiheit wirkt sich zweifelsfrei positiv auf die Gesundheit der Menschen aus. Die Friedensforschung analysiert die Formen und Ursachen von Gewalt und trifft Voraussagen um vorzubeugen und zu heilen. Dies sind wohlbekannte Arbeitsmethoden in der Medizin: Diagnose, Prognose, Therapie und Prävention. Um gesellschaftsübergreifende Ziele zu erreichen bedarf es vorbeugendem Denken und Handeln auf allen Ebenen der Prävention. Primäre Prävention bedeutet z.B. die Sicherung von Grundbedürfnissen wie persönliche Sicherheit, körperliche Unversehrtheit, Wahrung der persönlichen Identität und Freiheit, aber auch Konflikttransformation mit friedlichen Mitteln und die Verminderung der sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten. Dagegen sind humanitäre Nothilfe, Basisgesundheitsversorgung und das Einhalten der Genfer Konventionen Inhalte der sekundären Prävention. Die tertiäre Prävention beinhaltet u.a. den Wiederaufbau, die Rehabilitation und Vorbeugung von Folgeerkrankungen sowie psychotherapeutische und psychosoziale Versöhnungsarbeit.


"The Wajir Story"

Wajir liegt in einem Distrikt im Nordosten Kenias. Der Großteil der Bevölkerung sind Hirten- und Halbnomaden somalisch ethnischer Herkunft. Unlösbare Konflikte um die Kontrolle und den Gebrauch von Weideland und Wasserstellen wurden durch eine große Dürrekatastrophe verstärkt, die zu hohen Verlusten in den Viehbeständen und rapide ansteigenden Preisen für Vorratsnahrungsmittel führte. Die Katastrophe verstärkte sich durch die Verdoppelung der Bevölkerung, die sich in kurzer Zeit durch interne Vertreibung und somalische Flüchtlinge ergab. Gefühle von Angst und Misstrauen breiteten sich auf allen Ebenen der Gesellschaft aus. Mord, Schußverletzungen, Vergewaltigungen, Vieh- und Fahrzeugraub auf offener Straße, mutwillige Zerstörung von Geschäften und Häusern veranlaßten die kenianische Regierung 1992 den Notstand auszurufen. Die Sicherung der Grundversorgung der Bevölkerung ging zunehmend in die Hände der internationalen Gemeinschaft über. Eine weitere Zuspitzung der Gewalt und die Ausweitung von Kampfhandlungen hatte die Evakuierung von internationalen Hilfsorganisationen zur Folge.

Mit dem Mangel an Sicherheit kam der Alltag zum Stillstand. Auf den Märkten verweigerten sich die Frauen unterschiedlicher Clan-Zugehörigigkeit gegenseitig den Marktzugang und der freie Handel kam zum Erliegen. Im folgenden werden die Phasen der Konfliktbewältigung beschrieben:


Eigeninitiative

Auf einer Hochzeit stellte sich eine Gruppe von Frauen die Frage, wie sie diesen Teufelskreis von Gewalt unterbrechen könnten. Sie beschlossen "die Dinge selbst in die Hand zu nehmen". In ihrer Konfliktanalyse identifizierten sie die alltäglichen Konflikte an den Marktständen stellvertretend für das gesamtgesellschaftliche Problem. Die Konflikte zwischen den Frauen beim Verkauf konnten sie durch vermittelnde Gespräche untereinander lösen. Der Marktplatz konnte wieder gemeinsam genutzt und der Handel clanübergreifend aufgenommen werden. Aus dieser ersten Initiative ging die "Wajir women's association for peace" hervor.


Partizipation

Die Frauengruppe kontaktierte in einem weiteren Schritt die Gruppe der "Ältesten". Trotz anfänglicher Vorbehalte beschlossen die Ältesten, sich für ein sofortiges Beenden der Kämpfe einzusetzen. Es kam zur Gründung der "Elders for Peace Group". Unter Einbeziehung eines lokalen Parlamentariers wurden auf einer weiteren Zusammenkunft Richtlinien für die Rückkehr zum Frieden verabschiedet: die "Al Fatah Deklaration". Die von den Ältesten gebildeten repräsentativen Teams besaßen in der Bevölkerung großes Vertrauen. So konnten sie ihre investigativen Aufgaben bei der Suche nach Schuld und Verursachung von Gewalt sowie ihre Aktivitäten für mehr Sicherheit und Gerechtigkeit weitestgehend ungestört ausführen.

Weitere Gruppen wurden in diesen Friedensprozeß einbezogen: Ehemalige militärische Kämpfer beteiligten sich daran Waffen einzusammeln und an die Regierung auszuhändigen. Jugendliche bildeten eine Friedensgruppe, die den Slogan "enough is enough" im Busch verbreiteten. Sie dienten ihren Eltern und Verwandten damit als Vorbild. Geschäftsleute übernahmen die Kosten für ein Friedensfest, auf dem jedes Jahr besonders erfolgreiche Gruppierungen für ihre Friedensbemühungen öffentlich ausgezeichnet wurden. Religionsführer veranstalteten Workshops, in denen sie Versöhnungsprozesse initierten. Partizipation und eine gemeinsame Anerkennung der Bedeutung von Symbolen, Ritualen und Erklärungen schufen eine neue Basis für ein gemeinsames übergeordnetes Ziel.


Integration

1995 wurden die einzelnen Initiativen und Gruppierungen zusammengeführt. Es bildete sich das "Wajir Peace and Development Committee", das in lokal-politische Strukturen und Entscheidungsprozesse eingebunden wurde. Die Professionalisierung der Wajir Aktivisten fand ihren Höhepunkt in der Verleihung des Alternativen Nobelpreis im Jahr 2007 an Dekha Ibrahim Abdi, einer Friedensaktivistin der ersten Stunde.

Im Rahmen eines medizinischen Nothilfeprojektes arbeitete ich 1992 in Wajir und habe einen Eindruck von den Anfängen des lokalen Friedensprozesses mitbekommen. In der multisektoralen lokalen Friedensarbeit waren wir als Gesundheitsakteure nicht beteiligt, sondern verrichteten unsere Arbeit parallel zu diesem Friedensprozeß. In dieser Zeit wuchs innerhalb der internationalen Hilfsorganisationen ein neues Bewußtsein über den Einfluß ihrer Arbeit am Kriegsgeschehen. Die weltweit zunehmende Militarisierung von humanitärer Nothilfe setzte die Organisationen unter Druck sich von dieser Entwicklung abzugrenzen. So wurde das "Do no harm" Prinzip entwickelt, das darauf zielt, die eigene Beteiligung am Kriegsgeschehen zu minimieren und einen positiven Beitrag zu Befriedung zu leisten.

Nach meiner Rückkehr aus Afrika schloss ich mich einer kanadischen Forschungsgruppe an. Unter dem akademischen Dach der McMaster Univeristät in Hamilton, Ontario hatte sich eine multiprofessionelle Gruppe, die "McMaster Gruppe" zusammengefunden. Zu ihr gehören Fakultätsangehörige verschiedener akademischer Zweige, die seit einigen Jahren "Peace through Health" als eigenständigen wissenschaftlichen Zweig an der McMaster Universität etablieren. Ein Schwerpunkt der Arbeitsgruppe ist "peace education" als ein Beitrag primärer Präventionsarbeit.


Peace Education in Afghanistan

Die Förderung individueller psychischer Gesundheit gehört für die McMaster Gruppe ebenso zur Stärkung eines gesellschaftichen Friedenszustands wie ein sozialer "Friedens-Bildungsauftrag" innerhalb von Gesellschaften. Kinder und Erwachsene leiden häufig unter den psychologischen Nachwirkungen der schrecklichen Ereignisse eines Krieges. Wut, Zorn, Rachegedanken, chronische Angstgefühle, mentale Verwirrheit, Traurigkeit und ein Wiedererleben traumatisierender Ereignisse in Form von Übereregbarkeit, Alpträumen oder dissoziativen Flashback-Episoden beeinträchtigen den Lebensalltag der von Krieg betroffenen Bevölkerung. Wie können diese Menschen ein mentales Arbeitsmodell entwickeln, mit dessen Hilfe sie die Dimension der Katastrophe erfassen und verarbeiten können?

Für Afghanistan entstand vor diesem Hintergrund eine Reihe von Projekten, die dazu geführt haben, dass heute alle afghanischen Schulen ein Curriculum für den Frieden - "A Journey To Peace" aufgenommen haben. Die ersten Schritte waren in den Jahren 1999-2002 mehrtägige Workshops an der afghanischen Universität in Peshawar und in Kabul. Hieran nahmen zunächst afghanische NGO-Mitarbeiter teil. Seddiq Weera, ein afghanisch-kanadischer Arzt aus der McMaster Gruppe mit Kenntnis über den lokalen Kontext, hatte hierfür Johan Galtungs Methoden zur Friedenserziehung an die lokalen Verhältnisse angepasst. Das Ergebnis war eine weit anerkannte Afghanische Konfliktanalyse. Die McMaster Gruppe entwickelte daraufhin ein Schulprogramm zur Friedenserziehung, verbunden mit der Möglichkeit auch psychische Gesundheitsprobleme anzusprechen.


A Journey To Peace

Als Grundlage diente das Buch "A Journey To Peace", die Familiensaga einer vom Krieg betroffenen afghanischen Großfamilie. Protagonistin der Geschichte ist die 10-jährige Jameela, die mit ihrer Familie in einer ländlichen Gegend Afghanistans lebt. Eine Landmiene hat dem Vater ein Bein abgerissen und den 20-jährigen Onkel getötet. Jedes Familienmitglied leidet ganz unterschiedlich unter den Kriegsereignissen. Jameelas 15-jähriger Bruder fällt durch aggressive Verhaltensweisen auf, der zuvor lebenslustige Vater und die junge Witwe leiden an Depression. Jameela selbst wird ängstlich, traut sich nicht mehr allein aus dem Haus und wird nachts von Alpträumen geplagt. In jedem Kapitel wird ein spezifisches Thema wie Konfliktlösung, Versöhnung, ethnische Toleranz und Wiederaufbau einer friedfertigen Gesellschaft aufgegriffen.

Mittlerweile sind alle Schulen in Afghanistan mit kunstvoll illustrierten Büchern und liebevoll handgefertigten Puppensets der Protagonisten dieser Familiegeschichte ausgestattet. Aufgrund der großen Nachfrage entwickelte die McMaster Gruppe zudem Handbücher mit den gleichen Themen für Eltern und Lehrer und ein weiteres Kursbuch - "manual of elementary peace studies". Viele der Kursteilnehmer aus der Einführung in die Friedenswissenschaften sind heute Minister und Kabinettsmitglieder der afghanischen Regierung. Über die Wirksamkeit der Programme von "peace education" in Afghanistan liegen noch keine abschließenden Ergebnisse vor. Das Ergebnis vorangeganger Projekte der McMaster Gruppe zeigten jedoch anhaltende positive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und interethnische Toleranz.


Zur Autorin:

Dr. Nicola Kaatsch ist Kinder- und Jugendärztin in Hamburg. Viele Jahre war sie in den Vorständen von IPPNW und Ärzte ohne Grenzen aktiv. Im Rahmen von humanitärer Nothilfe war sie zudem in Projekten in Kenia, Somalia und Mosambik und an verschiedenen internationalen Gesundheits- und Friedensprojekten beteiligt. Sie hat über die psychosozialen Auswirkungen von Krieg und Gewalt auf Kinder promoviert und weitere Schriften zu Entwicklungs- und Nothilfe publiziert.


Literaturhinweise:

Johan Galtung, Carl G. Jacobsen, Kai Frithjof Brand-Jacobsen, 2000, 2002: Neue Wege zum Freiden. Konflikte aus 45 Jahren: Diagnose, Prognose, Therapie
Graeme MacQueen, 2009: Setting the Role of the Health Sector in Context: Multi-track Peacework, in: Peace through Health. How Health Professionals can work for a less violent World, Hrsg. Neil Arya, Joanna Santa Barbara
Graeme Mac Queen, 2004: Making peace: A peace education manual for Afghanistan (Webseite McMaster s.u.)
McMaster Afghanistan Working Group, 2005: A journey to peace (Webseite McMaster s.u.)
Mary B. Anderson: Do no harm

- TRANSCEND: http://www.transcend.at/methode.html
- Institute for Multi-Track Diplomacy: http://imtd.org/cgi-bin/imtd.cgi
- McMaster Universität: http://www.humanities.mcmaster.ca/


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Quelle:
IPPNWforum | 119 | 09, Oktober 2009, S. 19-21
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Dezember 2009