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PFLEGE/371: Chance für eine bedarfsgerechtere Pflege (SoVD)


Sozialverband Deutschland - SoVD-Zeitung Nr. 3 / März 2009

Chance für eine bedarfsgerechtere Pflege

Pflegereform will demenziell Erkrankte stärker berücksichtigen


Weichenstellung für die große Pflegereform noch vor der Wahl? Die Gesundheitsministerin stellt sich hinter die Vorschläge des Pflegebeirats, nach denen insbesondere Demenzkranke künftig mehr Geld aus der Pflegeversicherung bekommen sollen. Die Gruppe der Altersverwirrten und Menschen mit psychischen Störungen würde am stärksten von einem neuen Einstufungssystem profitieren, das ein Expertengremium aus Vertretern von Kassen, Sozialversicherungen, Arbeitgebern, Gewerkschaften und Betroffenenverbänden Ende letzten Jahres in Berlin vorstellte. Kern der Reform soll vor allem eine Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs sein - ein Ziel, das sich die Große Koalition neben der bereits erfolgten Strukturreform der Pflegeversicherung schon bei ihrem Amtsantritt in 2005 vorgenommen hatte. Der SoVD fordert seit Jahren einen Paradigmenwechsel in der Pflege.


Statt wie bislang hilfsbedürftige Menschen nahezu ausschließlich nach dem Zeitaufwand für die erforderliche Pflege zu beurteilen, sollen nach den Empfehlungen der seit 2006 tätigen Expertenrunde künftig auch kognitive und soziale Beeinträchtigungen bei der Einstufung des Pflegebedarfs einbezogen werden. Maßgeblich soll hierbei der Grad der Selbstständigkeit von Pflegebedürftigen sein.

Aktuell gibt es bei der Pflegeversicherung drei Pflegestufen, denen jeweils ein bestimmter Zuwendungsbedarf durch Pflegepersonal beigemessen wird. Danach hat bislang nur Anspruch auf Leistungen, wer rein körperlich nicht mehr in der Lage ist, Alltagsverrichtungen vorzunehmen. Zum Beispiel: In Pflegestufe I sind im Durchschnitt 90 Minuten Betreuung durch Pflegepersonal pro Tag vorgesehen. Waschen soll dabei nicht länger als 25 Minuten dauern, die mundgerechte Zubereitung einer Hauptmahlzeit bis zu drei Minuten, die Hilfe beim Wasserlassen zwei bis drei Minuten. Diese Einteilung trug der Pflegeversicherung von Beginn an den Vorwurf ein, eine reine "Satt-und-Sauber-Pflege" im Minutentakt zu sein.

Ein weiteres, von Kritikern oftmals angemahntes Manko der derzeitigen Regelung: Pflegebedürftige, die täglich weniger als 90 Minuten Hilfe brauchen, haben nach dem geltenden System keinerlei Anspruch. Schlimmer noch: Auch Menschen, die im Prinzip eine Rund-um-die-Uhr-Unterstützung brauchen wie Demenzkranke, bleiben bei dem geltenden Beurteilungssystem auf der Strecke - ein Missstand, den der Sozialverband Deutschland seit Jahren anprangert. Erst seit der jüngsten Pflegereform erhalten demenziell Erkrankte außerhalb der Prüfungssystematik geringe Hilfen von bis zu 2400 Euro im Jahr.

Mit dieser Schieflage und der Minutenzählerei soll nun Schluss sein. Die Experten empfehlen stattdessen fünf "Bedarfsgrade", die die Pflegestufen ersetzen sollen. Nach dem von den Universitäten Bielefeld und Bremen entwickelten Verfahren soll künftig nicht mehr die erforderliche Pflegezeit, sondern der Grad der Selbstständigkeit bei der Lebensgestaltung für die Abstufung der Pflegebedürftigkeit maßgeblich sein. Mithilfe einer 100-Punkte-Skala sollen die Mobilität, das Sprachvermögen sowie eine eventuell vorhandene Tendenz zur Selbst- und Fremdgefährdung ebenso differenziert ermittelt werden wie die Fähigkeit zur Nahrungs- und Medikamenteneinnahme und zur Körperpflege. Auch die Fähigkeit soziale Kontakte zu pflegen oder psychische Beeinträchtigungen wie Panikgefühle und Wahnvorstellungen sowie der Verlust kognitiver Fähigkeiten sollen demnach in die Feststellung des Bedürftigkeitsgrades einbezogen werden. So will man psychisch gestörten Menschen und Demenzkranken in Bezug auf den erforderlichen Pflegebedarf künftig gerechter werden. Denn alte Menschen mit psychischer Beeinträchtigung sind oftmals noch körperlich fit, kommen aber dennoch nicht alleine im Alltag zurecht.

Wie überfällig eine Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs ist, zeigt allein die demographische Entwicklung in Deutschland: Das Durchschnittsalter steigt ständig - und über die Hälfte der 90-Jährigen ist von Demenz betroffen. Experten rechnen deshalb damit, dass sich die Zahl der Altersverwirrten bis 2030 auf rund 2,2 Millionen verdoppeln wird.

Der SoVD begrüßt die Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, der - so SoVD-Präsident Adolf Bauer - "den Abschied von der 'Satt-und Sauber-Pflege' markiere und dem Bedürfnis nach sozialer Teilhabe Rechnung trage". Der SoVD-Präsident befürwortet zudem das neue Begutachtungsverfahren, das allerdings nach dem Bericht des Beirates noch optimiert und verfeinert werden muss. "Hierbei muss vor allem sichergestellt sein, dass das Begutachtungsverfahren den Reha- Bedarf der Pflegebedürftigen zuverlässig erkennt", so Adolf Bauer.

Der Sozialverband Deutschland vertritt dabei die Auffassung, dass Pflegebedürftige und ihre Angehörigen weitaus mehr Informationen über die Qualität von Pflegeheimen und ambulanten Pflegediensten brauchen. Zwar sei mit der ersten Pflegereform im Juli des vergangenen Jahres die Veröffentlichung von Qualitätsberichten von Pflegeeinrichtungen beschlossen worden; das Verfahren, auf welches sich Pflegekassen und Pflegeanbieter verständigt hätten, sei jedoch mangelhaft und würde nicht für Transparenz sorgen.

So ist bei den bislang vorliegenden Entwürfen, die vornehmlich die Interessen der Heimbetreiber und ambulanten Pflegedienste durchsetzen, unter anderem vorgesehen, dass Mängel in einem Bereich durch gute Ergebnisse in anderen Bereichen ausgeglichen werden können. "Es darf aber nicht sein, dass zum Beispiel eine schlechte Flüssigkeitsversorgung von Pflegebedürftigen mit regelmäßigen Erste-Hilfe-Schulungen 'verrechnet' werden kann", betont Adolf Bauer. "Das Verfahren kann so zu dem absurden Ergebnis führen, dass Pflegeeinrichtungen, die gut dokumentieren und schlecht pflegen, besser bewertet werden als Einrichtungen, die schlecht dokumentieren und gut pflegen."

Vor diesem Hintergrund begrüßt der SoVD Initiativen wie www.heimverzeichnis.de, die die Lebensqualität von Pflegeeinrichtungen bewerten (siehe Kasten rechts). Wenngleich mit den Pflegereformvorschlägen bis zu vier Milliarden Euro Mehrkosten prognostiziert werden, will auch die Bundesgesundheitsministerin das neue Konzept schnell nach vorne bringen. Der Bundestag soll nach dem Willen der Ministerin noch vor der Bundestagswahl im Herbst eine Entschließung verabschieden; einen entsprechenden Gesetzesentwurf will Ulla Schmidt jedoch nicht auf den Weg bringen - dafür sei die verbleibende Legislaturperiode zu kurz.
veo


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Quelle:
SoVD-Zeitung des Sozialverband Deutschland (SoVD)
Nr. 3 / März 2009, S. 1 und 2
Herausgeber: Bundesvorstand des Sozialverband Deutschland e.V.
Stralauer Str. 63, 10179 Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. März 2009