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STATISTIK/314: Lebenserwartung sinkt durch Arbeitslosigkeit um ein Jahr (Demografische Forschung)


DEMOGRAFISCHE FORSCHUNG - Aus Erster Hand - Nr. 3/2010

Lebenserwartung sinkt durch Arbeitslosigkeit um ein Jahr
Ostdeutsche Männer sterben früher als westdeutsche

Von Rembrandt Scholz


In den vergangenen 20 Jahren haben sich die Lebenserwartungen in Ost- und Westdeutschland annähernd angeglichen. Nur für ostdeutsche Männer im erwerbsfähigen Alter besteht noch ein Nachteil in der Sterblichkeit. Eine neue Studie geht den Ursachen für die Differenz in der Sterblichkeit nach und findet strukturelle Unterschiede des Arbeitsmarktes in Ost- und Westdeutschland als Begründung.


1990 waren noch beide Geschlechter und alle Altersgruppen, aber besonders das höhere Alter von der Ost-West-Differenz der Lebenserwartung betroffen. Nach 1990 kam es im höheren Alter sehr schnell zu einer Annäherung der Sterblichkeit bei beiden Geschlechtern. Die Angleichung der Lebenserwartung nach der Deutschen Einheit ist vor allem auf die Angleichung der Lebensbedingungen und insbesondere der medizinischen Versorgung in Ost- und Westdeutschland zurückzuführen. Insgesamt hat die Lebenserwartung in Ostdeutschland innerhalb der vergangenen 20 Jahre um etwa sieben Jahre zugenommen. Heute liegt die Lebenserwartung für Frauen in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen bei 82,4 Jahren. Bei den Männern besteht hingegen noch eine Differenz von einem Lebensjahr: Männer in Westdeutschland werden durchschnittlich 77,6 Jahre alt, während die Lebenserwartung der ostdeutschen Männer 76,5 Jahre beträgt.

Mortalitätsunterschiede können oft durch sozio-ökonomische Differenzen erklärt werden. So haben Männer in den höheren Berufs-, Bildungs- bzw. Einkommensgruppen eine höhere Restlebenserwartung als Männer in den jeweils niedrigeren Gruppen. Um der Frage nachzugehen, inwieweit sozioökonomische Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland eine Rolle spielen, nutzt die Studie(*) des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung, des Rostocker Zentrums zur Erforschung des Demografischen Wandels und des Forschungsdatenzentrums der Rentenversicherung (FDZ-RV) Rentendaten zur Analyse der Mortalitätsunterschiede. Die Deutsche Rentenversicherung verfügt durch die Versicherungsbeiträge über monatliche Informationen von allen abhängig Beschäftigten (Aktiv Versicherte) und den Rentenbeziehern in Deutschland. Alle Personen, die Rentenbeiträge zahlen oder Rentenleistungen beziehen, werden in der Statistik erfasst. Damit stellen die Rentendaten eine sehr zuverlässige Datenquelle in Deutschland dar, die anonymisiert seit wenigen Jahren für wissenschaftliche Untersuchungen genutzt werden kann. Abbildung 1 zeigt die Alterspyramide der Teilbevölkerungen: Aktiv Versicherte, Berufsunfähigkeitsrentner und Altersrentner. In vielen Altersgruppen liegt der Anteil der in der Rentenversicherung erfassten Personen bei über 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung.

Aus den Angaben zu den Versicherten werden Sterbewahrscheinlichkeiten für Ost- und Westdeutschland separat ermittelt. Im zweiten Schritt wird ein Quotient gebildet, indem die ostdeutsche Sterbewahrscheinlichkeit durch die westdeutsche Sterbewahrscheinlichkeit geteilt wird. Dieser Quotient zeigt die Übersterblichkeit an; bei einem Wert über 1 besteht eine höhere Sterblichkeit in Ostdeutschland. Als Resultat ergibt sich eine erhöhte Sterblichkeit in Ostdeutschland - diese beträgt über 30 Prozent bei den Aktiv Versicherten im Alter von 30 bis 55 Jahren (Abbildung 2).

Da die deskriptive Analyse keine Aussage erbringen kann, inwiefern die gleichzeitige Wirkung verschiedener sozio-ökonomischer Indikatoren das Phänomen der ostdeutschen Übersterblichkeit beeinflusst, wurden logistische Regressionsmodelle berechnet. Die Berechnungen beziehen sich auf alle 20 Millionen Aktiv Versicherte Männer in Deutschland im Alter bis 64 Jahre. Im Untersuchungsjahr 2004 wurden 154.000 Sterbefälle registriert. Es wird das relative Sterberisiko geschätzt, wobei die Faktoren Beschäftigungsstatus, Arbeitslosigkeit, Selbstständigkeit, Versicherungsart und Staatsbürgerschaft schrittweise in das Modell eingeführt werden. Somit kann man den Effekt jedes einzelnen Indikators auf den Sterblichkeitsunterschied zwischen Ost- und Westdeutschland beurteilen. In Tabelle 1 sind die Ergebnisse der Schätzungen der verschiedenen Modelle dargestellt.


Tab. 1: Relatives Sterberisiko:
Modell
 1
 2
 3
Region
Westdeutschland
Ostdeutschland

 1
 1,36*

 1
 1,07*

 1
 1,02*
Beschäftigung + Arbeitslosigkeit
Nur Beschäftigungszeiten
­... und Arbeitslosigkeit
­... und Selbstständigkeit





 1
 2,01*
 0,95

 1
 2,04*
 0,94
Versicherung
Arbeiterrentenversicherung
Angestelltenversicherung
Knappschaft





 1
 0,57*
 0,92*

 1
 0,55*
 0,90*
Staatsangehörigkeit
Deutsch
Ausländisch







 1
 0,63*

Anmerkung: Logistische Regressionsmodelle für Männer, Deutschland 2004 (*signifikant, Modelle 2 und 3 inklusive Alter).
Quelle: FDZ-RV - Aktiv Versicherte 2004, Sonderauswertung.


Modell 1 berücksichtigt nur die Region als erklärende Variable. Es ist zu sehen, dass ostdeutsche Männer im Vergleich zu westdeutschen ein um 36 Prozent höheres Sterberisiko haben. Bezieht man das Alter in die Analyse ein, zeigt sich, dass sich der relative Sterblichkeitsunterschied zwischen Ost- und Westdeutschland auf 26 Prozent reduziert (in der Tabelle nicht dargestellt). Es ist also davon auszugehen, dass die ostdeutsche Bevölkerung eine ältere Altersstruktur hat.

In Modell 2 werden zusätzlich zum Alter der Beschäftigungsstatus und der Versicherungsstatus berücksichtigt. Der Beschäftigungsstatus beschreibt, ob eine Person ununterbrochen in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis war und ob Zeiten der Arbeitslosigkeit und/oder Selbstständigkeit vorlagen. Der Versicherungsstatus ist ein Indikator für die Art der Erwerbstätigkeit. Hinsichtlich des Beschäftigungsstatus zeigt sich, dass Personen, die sowohl berufstätig als auch arbeitslos waren, ein doppelt so hohes Sterberisiko haben wie Personen, die ausschließlich Beschäftigungszeiten hatten. Arbeitslosigkeit wirkt sich demnach negativ auf die Lebensdauer aus. Wurden neben Zeiten der abhängigen Beschäftigung Zeiten der Selbstständigkeit registriert, ergibt sich kein Sterblichkeitsunterschied zu Personen in der Referenzgruppe, den durchweg abhängig Beschäftigten. Der Vergleich von zu Personen, die der Arbeiterrentenversicherung angehören, mit Versicherten in der Angestelltenversicherung bzw. in der Knappschaft zeigt ein um 43 bzw. acht Prozent reduziertes Sterberisiko. Die Berücksichtigung der beiden Merkmale Beschäftigungsstatus und Versicherung führt dazu, dass sich der relative Sterblichkeitsunterschied zwischen Ost- und Westdeutschland verringert: In Ostdeutschland ist noch ein um sieben Prozent höheres Sterberisiko zu beobachten. Somit zeigt sich, dass Ostdeutschland auch hinsichtlich der Merkmale Beschäftigung und Versicherung einer ungünstigeren Zusammensetzung ausgesetzt ist.

Schließlich wird in Modell 3 auch die Staatsangehörigkeit berücksichtigt. Hier zeigt sich, dass Personen, die keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, ein um 38 Prozent geringeres Sterberisiko aufweisen als Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft. Wird die Staatsangehörigkeit in das Modell integriert, verringert sich der relative Sterblichkeitsunterschied zwischen Ost- und Westdeutschland auf zwei Prozent. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der Ausländeranteil in Ostdeutschland geringer ist als in Westdeutschland.

Aus der schrittweisen Berücksichtigung der sozioökonomischen Indikatoren in den Analysen ergeben sich folgende Schlussfolgerungen: Die Sterblichkeitsunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland verschwinden fast vollständig, wenn man Alter, Beschäftigungsstatus, Versicherungsstatus und Staatsangehörigkeit in die Analysen einbezieht. Das bedeutet, dass Ost-West-Unterschiede in der Lebenserwartung von Männern weitestgehend aus Kompositionseffekten der Teilbevölkerungen resultieren. Die ostdeutsche Bevölkerung hat hinsichtlich wichtiger Strukturmerkmale eine ungünstigere Zusammensetzung als die westdeutsche, was insgesamt zu einer höheren Sterblichkeit im Osten führt.

Bei gleicher Zusammensetzung der beiden Teilbevölkerungen hinsichtlich Alter, Beschäftigung, Versicherung und Staatsangehörigkeit gäbe es demnach kaum einen Sterblichkeitsunterschied zwischen ostdeutschen und westdeutschen Männern. Ein Rückgang der Differenzen der Mortalität bei Männern ist dann zu erwarten, wenn sich künftig die Arbeitsmarktsituationen in Ost- und Westdeutschland angleichen. Diese Studie unterstreicht somit den Einfluss sozio-ökonomischer Faktoren auf die Lebenserwartung und zeigt, dass sich Lebensbedingungen unmittelbar auf die Lebenserwartung auswirken. Interessant ist, dass Frauen nicht gleichermaßen betroffen sind: Arbeitslosigkeit wirkt sich bei Frauen nicht nachweisbar auf die Lebenserwartung aus.


Literatur:

* Scholz, R.D., A. Schulz und M. Stegmann: Die ostdeutsche Übersterblichkeit der Männer im arbeitsfähigen Alter: eine Analyse auf Grundlage der "Aktiv Versicherten" der Deutschen Rentenversicherung. In: FDZ-RV-Daten zur Rehabilitation, über Versicherte und Rentner: Bericht vom sechsten Workshop des Forschungsdatenzentrums der Rentenversicherung (FDZ-RV) vom 1. bis 3. Juli 2009 in Bensheim, Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg.). DRV, Berlin 2010, 105-116 (DRV-Schriften; 55/2009).

Scholz, R.D., und A. Schulz: Haben Arbeitslosigkeit und Arbeitsunfähigkeit einen Einfluss auf die Höhe der Lebenserwartung? In: Bevölkerungsforschung, G. Ross-Strajhar (Bearb.). GESIS-IZ Sozialwissenschaften, Bonn 2009, 9-22 (soFid Bevölkerungsforschung; 2009/1).
http://www.gesis.org/fileadmin/upload/dienstleistung/fachinformationen/servicepublikationen/sofid/Fachbeitraege/Bevoelkerung_09-01_FB.pdf.

Kontakt: scholz@demogr.mpg.de


Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildungen:

Abb. 1: Alterspyramide der Bevölkerung nach den Merkmalen Aktiv Versicherte, Berufsunfähigkeitsrentner, Altersrentner und Geschlecht, Deutschland 2004.Quelle: FDZ-RV, Sonderauswertung, Human Mortality Database.

Abb. 2: Übersterblichkeit in Ostdeutschland bei Männern nach den Merkmalen Aktiv Versicherte, Berufsunfähigkeitsrentner, Altersrentner und Alter, Deutschland 2004.Quelle: FDZ-RV, Sonderauswertung.


*


Quelle:
Demografische Forschung Aus Erster Hand 2010, Jahrgang 7,
Nr. 3, Seite 1 - 2
Herausgeber: Max-Planck-Institut für demografische Forschung in
Kooperation mit dem Institut für Demographie der Österreichischen
Akademie der Wissenschaften, Wien
und dem Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels
Konrad-Zuse-Str. 1, 18057 Rostock
Telefon: +49 (381) 2081-143, Fax: +49 (381) 2081-443
E-Mail: redaktion@demografische-forschung.org
Internet: www.demografische-forschung.org

Demografische Forschung Aus Erster Hand erscheint viermal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2010