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ARTIKEL/014: Entwicklung von Computerprogrammen zur virtuellen Nachbildung des Körperinneren (einblick - DKFZ)


"einblick" - die Zeitschrift des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), Ausgabe 2/2011

Im Erfinderklub
Entwicklung von Computerprogrammen zur virtuellen Nachbildung des Körperinneren

Von Christian Meier


Die Forscher der Abteilung "Medizinische und Biologische Informatik" arbeiten an der Schnittstelle von Technik und Medizin. Sie entwickeln Computerprogramme, um das Körperinnere virtuell nachzubilden, und unterstützen damit die Ärzte bei schwierigen Eingriffen.


Auf einem nachgebildeten menschlichen Oberkörper liegt ein Gerät, das aussieht wie eine schwarze Rübe. Zwei Kabel ragen daraus hervor, eines verschwindet in der Nase des Modellmenschen, das andere in einem elektronischen Kasten. Zwei junge Männer sitzen daneben und blicken konzentriert auf einen Bildschirm, der etwas zeigt, das dem Wurzelwerk eines Baums ähnelt - eine dreidimensionale Grafik der Atemwege des Kunstmenschen, aufgenommen von einem Endoskop. Die Szene ist symbolisch für die Abteilung "Medizinische und Biologische Informatik" am Deutschen Krebsforschungszentrum. Moderne Medizintechnik verbindet sich hier mit dem Elan junger Computerfreaks, die mit ihren Programmierkenntnissen detaillierte Ansichten vom Körperinnern ermöglichen.

Bevor Professor Hans-Peter Meinzer, heute der Chef der Abteilung, 1974 ans Krebsforschungszentrum kam, gab es die Verbindung zwischen Medizin- und Informationstechnik nur in seinem Kopf. Er hatte sein Physikstudium beendet und fragte sich: Was ist die Technik des nächsten Jahrhunderts? Meinzer wollte in ein ganz neues Gebiet einsteigen, etwas Innovatives machen. "Ich habe in der Presse Analysen und Prognosen gelesen", erinnert er sich. Zwei Bereiche kristallisierten sich heraus, die Medizintechnik und die Informationstechnik. "Ich war mir sicher, dass diese beiden Technologien zusammenwachsen würden."

Einen Job, der die beiden Techniken verband, gab es damals nicht. Meinzer suchte ihn trotzdem. Was er fand, war nah dran: Die Computerabteilung am Deutschen Krebsforschungszentrum. "Die haben damals Gehaltsabrechnungen gemacht, aber auch epidemiologische Statistiken", erinnert sich der Physiker. Er fing als Hilfswissenschaftler an. Zunächst war die Arbeit wenig wissenschaftlich, Meinzer beriet Forscher bei Computerproblemen. Nach und nach stieg er zum leitenden Computerberater des Zentrums auf. Später wurde die Computerabteilung in einen dienstleistenden und einen wissenschaftlichen Teil gegliedert. Meinzer ging in den wissenschaftlichen Teil, der damals schon Abteilung für Medizinische und Biologische Informatik hieß, und versuchte dort, Zellteilungen in der Darmschleimhaut automatisch auszuwerten.


Aus Stapeln mach Bilder

In dieser Zeit, Anfang der 1980er Jahre, sah er zum ersten Mal Aufnahmen, die mit der Technik der Computertomografie (CT) erstellt wurden. Die vielen Einzelbilder, die parallele Schnitte durch den Körper wiedergeben, brachten ihn auf eine Idee: "Ein Stapel von CT-Aufnahmen steht für ein Volumen im Körper. Es war mein Traum, aus dem Stapel ein dreidimensionales Bild zu machen."

Genau das ist es, was die Abteilung "Medizinische und Biologische Informatik" heute tut. "Mein Traum ist wahr geworden", sagt Meinzer, einer der Pioniere auf diesem Gebiet. Heute schreiben die Wissenschaftler in seinem Team Computerprogramme, die 3-D-Bilder erzeugen und automatisch auswerten, um Ärzten die Arbeit zu erleichtern. Zur Computertomografie sind mittlerweile andere bildgebende Verfahren gekommen, etwa die Magnetresonanztomografie (MRT) oder Ultraschall-Untersuchungen. Häufig erzeugen sie Unmengen von Daten. "Bei einer MRT-Aufnahme des gesamten Körpers entstehen etwa 2000 Einzelaufnahmen", erläutert Dr. Tobias Heimann, Medizininformatiker in der Abteilung. "Oft können Ärzte die in den Bildern enthaltene Information nicht nutzen, denn sie muss quasi per Hand extrahiert werden."

Heimann versucht das zu ändern. Er will dem Computer beibringen, die Handarbeit für die Ärzte automatisch zu erledigen. Dabei konzentriert er sich momentan auf Leberoperationen. Das System soll Ärzte bei deren Planung unterstützen. Bei Leberkrebs entfernt der Chirurg den Tumor sowie aus Sicherheitsgründen ein gewisses Volumen drum herum. Eine Mindestmenge an Gewebe muss allerdings im Körper bleiben, damit der Patient überlebt.

Die Software, die die Forscher in der Abteilung entwickeln, erkennt in dreidimensionalen CT-Darstellungen automatisch die Grenzen der Leber und markiert das Organ farbig. Auch die Blutgefäße in der Leber kennzeichnet es. Dieser Prozess heißt im Fachjargon "Segmentierung". Die Ärzte können dann den Computer berechnen lassen, wie viel Lebergewebe übrigbleibt, wenn sie bestimmte, durch die Blutgefäße eingegrenzte Bereiche entnehmen. Ohne Rechner können die Mediziner das nur schätzen.

Nach Schema F funktioniert die Segmentierung nicht. "Weil Menschen in ihrem Inneren genauso unterschiedlich sind wie von außen gesehen, erfordert die Segmentierung Expertenwissen", sagt Heimann. Die Forscher haben den Computer quasi mit diesem Wissen gefüttert. Das Programm lernt die Segmentierung mithilfe von Trainingsbildern, in denen erfahrene Ärzte die Organgrenzen eingezeichnet haben. "Der Computer soll bei bestimmten unterstützenden Aufgaben so gut werden wie die besten menschlichen Experten", formuliert Heimann das Ziel. Ärzte setzen die Software bereits ein. Auch an einem Computerprogramm, das Operationen bei Bauchspeicheldrüsenkrebs unterstützt, arbeiten die Forscher. Besonders wenn es darum geht, die Wachstumsgeschwindigkeit eines Tumors zu messen, kann der Computer dem Arzt helfen.

Möglicherweise können Ärzte solche Arbeiten künftig sogar von zu Hause aus erledigen. Markus Fangerau, Student in der Abteilung, zeigt einen tragbaren Tablet-Computer, auf dem eine CT-Aufnahme zu sehen ist. Ein paar Berührungen des Bildschirms erlauben es, den Abstand zwischen den anatomischen Strukturen zu messen, ins Bild zu zoomen oder mehrere CT-Schichtbilder übereinanderzulegen und gleichzeitig anzusehen. Ermöglicht wird das durch eine Software, die Fangerau gemeinsam mit seinem Kollegen Frederik Drosdzol entwickelt hat. "Mit Hilfe dieses Werkzeugs könnte der Assistenzarzt mit dem Oberarzt einen Fall besprechen, selbst wenn der Oberarzt gerade unterwegs ist", erklärt Fangerau.


Blick in den Körper

Eine andere Software, die in der Abteilung entsteht, erlaubt es, mittels Tablet-Computer aus einer frei gewählten Richtung ins Innere eines Patienten zu schauen. Der Arzt könnte damit um den Patienten herumgehen und einen Einstichkanal zu einem Tumor suchen, der möglichst wenige empfindliche Strukturen im Körper verletzt. An der Spitze der eingestochenen Nadel würde der Tumor mit elektrischem Strom verbrannt. "Eine Kamera soll laufend den Ort und die räumliche Ausrichtung des Computers ermitteln, so dass die Software die dreidimensionalen Bilder auf dem Schirm permanent anpasst", sagt die Informatikerin Dr. Lena Maier-Hein. Das Kommunikationsgerät würde so gewissermaßen zur Röntgenbrille.

Die Abteilung wirkt wie ein Klub von jungen Erfindern, die ihre Visionen verwirklichen - genau so, wie es ihr Chef vor dreißig Jahren getan hat. Hans-Peter Meinzer bestätigt das: "Meine Mitarbeiter bestimmen durch ihre Interessen, was hier gemacht wird." Er selbst stelle sicher, dass die Gesamtrichtung stimme: "Ich bin das Ufer und sie sind der Fluss." Entsprechend sind die Hierarchien: Es gibt sieben Wissenschaftler, die jeweils mehrköpfige Forschergruppen leiten. "Sie lernen hier, Führungsaufgaben wahrzunehmen", sagt Meinzer, "dazu gehört auch das Einwerben von Finanzmitteln." Stolz ist Meinzer auf den hohen Frauenanteil in seiner Abteilung, etwa eine Frau auf drei Männer, was für ein Team mit Informatik-Schwerpunkt ungewöhnlich viel sei. "In reinen Männergruppen herrscht ein bestimmter Tonfall", sagt Meinzer, "gemischte Teams sind ausgewogener."

Auch was die Fachkenntnisse seiner Mitarbeiter angeht, setzt Meinzer auf eine gute Mischung. Der eine habe ein Faible für Mathematik, der andere könne wunderbar programmieren. "Wenn es gelingt, die zu einem Team zusammenzuschließen, so dass sie miteinander reden, ist das ein Gewinn für alle", sagt Meinzer.

Der Zusammenhalt der Abteilung äußert sich in Beachvolleyball-Spielen auf der Neckarwiese, zu denen sich die Mitarbeiter dienstags treffen, oder in gemeinsamen Grillabenden. Er äußert sich auch in einer kollektiven Entwicklung des Teams, die inzwischen internationale Beachtung findet: eine Softwareplattform, auf der sämtliche Arbeiten der Forscher nach festen Normen umgesetzt werden, das so genannte Medical Imaging and Interaction Toolkit (MITK). Dr. Ingmar Wegner erläutert das Prinzip: "Jede Arbeit in unserer Abteilung ist vergleichbar einem Lego-Haus, das auf diese Plattform gestellt wird - aufgebaut aus standardisierten Bausteinen und dadurch zu den anderen Arbeiten passend. Das spart Arbeit und erhöht die Effizienz der Abteilung, denn jeder Mitarbeiter kann die 'Legosteine' eines Kollegen benutzen und daraus seine eigene Entwicklung kreieren. Die Plattform ist so gestaltet, dass sich aus jeder Entwicklung leicht eine Software machen lässt, die man etwa an einen Arzt weitergeben kann."


Medizinische Software für alle

Jeder Programmierer, der sich mit Bildverarbeitung in der Medizin befasst, kann das Werkzeug MITK aus dem Internet herunterladen und nutzen. Die Wissenschaftler um Hans-Peter Meinzer wollen damit die Idee der öffentlich frei zugänglichen Software (Open Source) auch in der Medizinischen Informatik umsetzen. Das Interesse ist groß: "Wir bekommen täglich mehrere E-Mails von Forschern aus der ganzen Welt, die unser Werkzeug nutzen und Fragen dazu haben", schildert Marco Nolden, der die Entwicklung der Softwareplattform MITK leitet. Im kommenden Frühjahr soll es sogar ein erstes internationales Treffen in Heidelberg geben, das sich mit MITK befasst. Nicht zuletzt zeigt das Interesse von medizintechnisch tätigen Unternehmen wie Siemens oder Philips, dass sich das Werkzeug auch für die Entwicklung einer kommerziellen Software nutzen lässt.

Auch die eingangs geschilderte dreidimensionale Darstellung der Atemwege wird durch MITK ermöglicht. Wegner entwickelt mit seinen Mitarbeitern eine Art Navigationssystem für die Untersuchung der Atemwege. Ein grüner Pfeil zeigt an, wo die Spitze des Endoskops liegt, das die Innenansicht der Luftröhren liefert. Wegen veränderter Rauchgewohnheiten tritt Lungenkrebs immer öfter in den Randbereichen der Lunge auf, so dass die Ärzte mit dem Endoskop immer tiefer in die Lunge eindringen müssen, um den Krankheitsherd zu finden. Dadurch wird es immer schwerer, den Weg durch die fein verästelten Röhren zu n. Das Navigationssystem aus der Abteilung soll den Medizinern dabei helfen.

Ein ähnliches Navigationssystem, das ebenfalls auf der MITK-Plattform basiert, könnte bald sogar auf der Internationalen Raumstation ISS zum Einsatz kommen. Es soll dort medizinisch ungeschulten Astronauten unter anderem ermöglichen, Ultraschall-Untersuchungen durchzuführen. Ingmar Wegner ist begeistert: "Das erfüllt uns mit Stolz, weil wir sehen, dass der Gemeinschaftsgedanke unserer Softwareplattform fruchtet."

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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 6:
Hans-Peter Meinzer leitet die Abteilung "Medizinische und Biologische Informatik". Über sich und seine Mitarbeiter sagt er: "Ich bin das Ufer und sie sind der Fluss."

Abb. S. 7:
Zwei Medizininformatiker: Tobias Heimann und Marco Nolden (von links). Heimann entwickelt eine Software, die in Röntgenbildern das Lebergewebe erkennt und farbig markiert (rechtes Bild).

Abb. S. 8 oben:
Klaus Fritzsche arbeitet ebenfalls im Team von Hans-Peter Meinzer. Er entwickelt ein Computerverfahren, das aus MRT-Daten ermittelt, wo die Nervenbahnen im Gehirn verlaufen (linkes Bild). Möglicherweise kann man damit Krankheiten wie Alzheimer frühzeitig erkennen.

Abb. S. 8 unten:
Zukunftsmusik: Ein tragbarer Computer zeigt das Innere des Patienten - berührungslos und aus beliebiger Richtung. Lena Maier-Hain, Alexander Seitel und Markus Fangerau (von links) arbeiten an dem Verfahren.

Abb. S. 9:
Ingmar Wegner testet ein Navigationssystem zum Untersuchen der Atemwege. Es hilft den Ärzten, ihr Endoskop durch die verästelten Bronchien (rechts) zu führen.

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Quelle:
"einblick" - die Zeitschrift des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ)
Ausgabe 2/2011, Seite 6 - 9
Herausgeber: Deutsches Krebsforschungszentrum in der
Helmholtz-Gemeinschaft
Abteilung für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Im Neuenheimer Feld 280, 69120 Heidelberg
Telefon: 06221 / 42 28 54, Fax: 06221 / 42 29 68
E-Mail: einblick@dkfz.de
Internet: www.dkfz.de/einblick
 
"einblick" erscheint drei- bis viermal pro Jahr
und kann kostenlos abonniert werden


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Dezember 2011

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