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HINTERGRUND/131: Schlager - 1000 Mal gehört (RUBENS)


RUBENS 15. Jahrgang, Nr. 129 vom 1. Dezember 2008
Nachrichten Berichte und Meinungen aus der Ruhr-Universität Bochum

1000 Mal gehört

Zwei Absolventen der Ruhr-Uni präsentieren die erfolgreichsten deutschen Schlager aller Zeiten


Wer beim Musical "Mamma Mia" die deutschen Versionen der ABBA-Hits über sich ergehen lassen musste, der weiß: Rein textlich muss sich der deutsche Schlager ganz und gar nicht hinter der englischsprachigen Konkurrenz verstecken. Wenn dann noch der Rhythmus stimmt, landen auch deutsche Lieder in den Charts ganz weit vorn. Zwei Absolventen der Ruhr-Uni haben ein Buch der 100 erfolgreichsten deutschen Schlager aller Zeiten vorgelegt: chronologisch rückwärts gesehen vom "Stern, der deinen Namen trägt" (2007) bis zur "Berliner Luft" (1904). Arne Dessaul sprach mit dem Musikwissenschaftler Dr. Martin Lücke und dem Historiker Dr. INGO GRABOWSKY.

RUBENS: Die Bild-Zeitung, die sich schon ausführlich Ihrem Projekt gewidmet hat, führt Sie etwas despektierlich als "Professor Schlager" und "Doktor Schnulze" ein. Wer ist denn wer?

INGO GRABOWSKY: Da streiten wir uns noch.

MARTIN LÜCKE: Wir sehen das vor allem als Ehrentitel an.

RUBENS: Während es über die Beatles, die Stones oder Kurt Cobain jede Menge Bücher gibt, zum Teil auch (populär-)wissenschaftliche, war der Deutsche Schlager bislang weitgehend unerforscht. War es Ihr vorrangiges Ziel, diese Lücke zu schließen?

INGO GRABOWSKY: Es muss wirklich heißen "weitgehend unerforscht", denn das eine oder andere Werk existiert schon. Trotzdem ging es uns darum, das Thema so ein wenig aus dem Verschweigen zu befreien und einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren.

MARTIN LÜCKE: Man darf auch nicht vergessen, dass Schlager ein negatives Image haben. Wir sind jedoch ganz neutral herangegangen. Wir möchten dem Leser ermöglichen, sich sein eigenes Bild zu machen: über unsere 100 Stücke und über die Geschichte des Schlagers.

INGO GRABOWSKY: Neutral und wissenschaftlich korrekt.


Drafi die Nr. 1

RUBENS: Würden Sie selbst sich als Schlagerfans bezeichnen?

INGO GRABOWSKY: Es gibt Schlager, die wir mögen und andere, die wir nicht mögen.

MARTIN LÜCKE: Bei Rockmusik ist das aber ebenso der Fall, da mag ich auch nicht jedes Stück.

RUBENS: Was sind denn Ihre Favoriten?

MARTIN LÜCKE: Mein persönlicher Favorit ist "Mein Freund, der Baum" von Alexandra.

INGO GRABOWSKY: Von den Liedern aus dem Buch mag ich am liebsten "Sing, Baby, Sing" von Caterina Valente und Peter Alexander.

RUBENS: Und umgekehrt: Welches Lied finden Sie echt schrecklich?

INGO GRABOWSKY: Den "Trizonesien-Song" von Karl Berbuer. Da werden kurz nach dem Krieg noch mal alle Vorurteile und Ressentiments aus dem Dritten Reich ausgepackt. Furchtbar.

RUBENS: Vom Erfolg her die absolute Nummer 1 ist laut Ihrem Buch Drafi Deutschers "Marmor, Stein und Eisen bricht". Wie kamen Sie darauf? Ich hätte nicht zuletzt wegen der internationalen Erfolge eher "99 Luftballons" oder "Rock Me, Amadeus" erwartet.

MARTIN LÜCKE: Diese Rangfolge haben wir exklusiv für die Bild-Zeitung erstellt.

INGO GRABOWSKY: Aber die Frage des Bild-Redakteurs nach einer Rangliste brachte auch uns dazu, stärker über die Gewichtung der Titel und über den Schlager des Jahrhunderts nachzudenken. Und da lief eigentlich alles auf Drafi Deutscher hinaus. Das Lied kennt jeder und jeder kann es mitsingen.

MARTIN LÜCKE: Es ist einfach und eingängig. Die "99 Luftballons" sind natürlich nah dran. "Rock Me, Amadeus" wurde von der Jury schweren Herzens nicht berücksichtigt. Wir wollten ja möglichst viele Jahre abdecken und immer solche Stücke nehmen, die den Zeitgeist am besten wiederspiegeln.


Subversives La Paloma

RUBENS: Besonders interessant finde ich, dass Sie die Geschichten hinter den Liedern beleuchten. Man kennt ja das im Kindergarten gemalte Bild mit Lucy und den Diamanten im Himmel drauf, das Julian Lennon seinem Papi John zeigt. Oder den Qualm über dem Genfer See, den Deep Purple von ihrem Hotel aus sehen. Welche ist aus Ihrer Sicht die faszinierendste Geschichte, die sich hinter einem deutschen Schlager verbirgt?

INGO GRABOWSKY: Für mich die Geschichte von "La Paloma" in der Version von Hans Albers aus dem Film "Große Freiheit Nr. 7", der 1943/44 gedreht wurde. Die Melodie ist fast hundert Jahre älter und stammt von einem baskischen Komponisten. Für den Film aber hat Helmut Käutner einen neuen Text geschrieben, der für diese Zeit sehr subversiv war, wenn zum Beispiel von "der großen Freiheit Glück" die Rede ist. Deshalb war der Film auch verboten. Andererseits war die Melodie als solche in der Wehrmacht und in der SS äußerst beliebt. Die SS hat sie sich oft von den Lagerkapellen in den KZ gewünscht und zu "La Paloma" die Gefangenen in die Gaskammer getrieben. Die Geschichte des Schlagers ist vielschichtig. Dies ist sicherlich die komplexeste Geschichte. Dagegen kommst du nicht an, Martin.

MARTIN LÜCKE: Das stimmt. Aber ich habe immerhin die DDR zu bieten und deren Schlagerstar Frank Schöbel. Der wollte "Wie ein Stern" zunächst gar nicht singen. Mit über sechs Minuten war ihm das Lied viel zu lang, überhaupt nicht radiotauglich. Und dann wurde in der DDR ein Riesenhit daraus. Es war zudem eines der wenigen DDR-Lieder, das auch im Westen erfolgreich war, hier hätte es fast eine Goldene Schallplatte gegeben. Das Lied ist übrigens auch im Film "Das Leben der Anderen" zu hören: in der Kneipenszene, als Ulrich Mühe Martina Gedeck anspricht.

RUBENS: Wie verkauft sich eigentlich das Buch?

MARTIN LÜCKE: Wir hoffen, gut, aber der Verkauf hat ja gerade erst begonnen.

INGO GRABOWSKY: Jedenfalls machen wir jede Menge Promotion und demnächst eine offizielle Präsentation in Berlin. (Diese fand kurz nach dem Interview am 20.11. statt, Anm. der Red.)

RUBENS: Geht es für Sie nun weiter mit der Analyse des deutschen Schlagers, eventuell für eine neue Auflage? Oder planen Sie andere Projekte?

MARTIN LÜCKE: Ich kann mir gut vorstellen, dem Genre treu zu bleiben. Es gibt auch schon ein paar neue Ideen.


Das Buch

"Die 100 Schlager des Jahrhunderts", vorgestellt von Ingo Grabowsky und Martin Lücke, mit ausgewählt von einer hochkarätigen Jury mit Dieter-Thomas Heck u.a., Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2008, 320 Seiten, gebunden, 19,90 Euro.

PS: Klaus Lage ist zwar im Buch vertreten, aber nicht mit dem in der Überschrift angedeuteten Hit "1000 Mal berührt", sondern mit "Faust auf Faust".


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Quelle:
RUBENS 15. Jahrgang, Nr. 129 vom 1. Dezember 2008, S. 8
Herausgeber: Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum
Tel: 0234/32-23999, -22830, Fax: 0234/32-14136
Internet: www.rub.de/rubens
E-Mail: rubens@presse.rub.de
ISSN 1437-4749


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2009